𝟎𝟖┃𝐃𝐚𝐬 𝐁𝐮𝐜𝐡


[ACE]


Als sie die Augen aufschlug, war es hell.

Ihre Hände ertasteten das weiche Schafsfell, auf dem sie eingeschlafen war. Mit einem Blick zum Türspalt überprüfte sie, ob sich im Wohnzimmer etwas bewegte, aber nein. Das Mädchen horchte auf. Sie hörte ein leises, sanftes Atmen über ihr auf der Matratze und realisierte langsam, wo sie sich befand. Nicht in Atraklin, und eine Prinzessin war sie auch nicht mehr. Sie lag, wie die Götter sie schufen, am Boden eines Schlafzimmers, mit einem frischen Brandmal auf dem Schenkel und einem goldenen Reif um ihrem Hals.

Es kostete all ihre Überwindung, vorsichtig ihren Kopf zu heben und über das Bett zu spähen. Erleichterung machte sich in ihr breit. Er schlief. Und wie er schlief. Sie kam sich wie eine Spannerin vor, konnte ihren Blick jedoch auch nicht abwenden. Eine dünne, weiße Lakendecke bedeckte die untere Hälfte seines Körpers, ein Arm ruhte über seinem Kopf.

Das war ihre Chance. Sie musste aufstehen, und zwar ohne dass er aufwachte. Das würde ihr einige Unannehmlichkeiten ersparen. Mit angehaltenem Atem erhob sie sich so leise wie möglich auf und blieb neben dem Bett stehen. Seine bronzene Haut schimmerte im fahlen Licht der Morgensonne mattgolden; das Brusthaar mündete in einer dunklen Linie, die über den flachen Bauch verlief und wie ein Richtungspfeil unter der Decke verschwand. Die Brust des Schlafenden hob und senkte sich rhythmisch, er schlief tief und entspannt.

Der Göttin des Glücks sei Dank.

Ohne den Schlafenden aus den Augen zu lassen, drehte sie sich um und stahl sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Der erste Weg sollte sie eigentlich in die Küche führen. Seine Worte gestern Abend waren deutlich gewesen, sie hatte ihm sein Frühstück herzurichten, und sie hatte nicht vor, seine Nerven noch einmal zu strapazieren. Trotzdem war die Haustüre das erste, was sie ansteuerte. Vorsichtig versuchte sie, die Klinke hinunterzudrücken, zog an der Tür – sie blieb verschlossen. Wahrscheinlich hatte er sie nicht ihretwegen verschlossen, sondern wegen skrupellosen Einbrechern und Kriminellen, von denen es in Tel'Narae bestimmt haufenweise gab. Denn wenn sie sich umsah, bemerkte sie nicht nur, dass die Fenster leicht von innen zu öffnen waren, sondern auch der Schlüssel, der auf einer niederen Kommode lag. Er hatte keine Sorgen, dass sie ihm weglief, weil er ebenso wie sie wusste, dass sie nicht weit kam. 

Du kannst nirgends hin, jagte ihr das gestrige Geständnis durch den Kopf, und als sie an ein Fenster trat und einen Blick auf die leeren Straßen hinaus warf, schien es ihr wahrer denn je.

Es machte keinen Unterschied, ob die Stadtwachen von Ephis sie noch vor den Toren der Stadt ergriffen, ihr ein Bein nahmen, oder sie zur Bewusstlosigkeit peitschten. All das Risiko hätte sie auf sich genommen, wenn sie ein Ziel gehabt hätte. Doch über Atraklin herrschten nun naraenische Fürsten, und ihre Familie befand sich hier, in Ephis, gefangen in den Verliesen des Kaiserpalastes. Wenn sie nicht schon tot waren.

Ace hatte niemanden, besaß nichts, außer dem eisernen Kragen um ihren Hals, und konnte nirgends hin. Es war wie in ihrem Traum, an dem sie jetzt schon in fünfter Nacht in Folge leidete. Immer wieder veränderten sich die Dialoge, die Umgebung und die Personen, denen sie begegnete, doch eins blieb immer gleich: General Vicar, das Schwert der Eule.

Der gefürchtete Kommandant des naraenischen Heere war ihr so nah gekommen, dass es an einem Wunder grenzte, dass sie hier war und nicht in Gefangenschaft. Doch General Vicars von Grausamkeit und Hass gezeichneter Blick hatte sie nicht berührt, ebenso wie sein Schwert. Nicht sie war von seinen Männern ergriffen worden, sondern ihre Schwester.

Die Erinnerungen an Skadi und an jenen Tag sollten Ace erneut Tränen in die Augen treiben, doch sie hatte keine mehr übrig, die sie weinen konnte. Sie drehte sich um und lief ins Badezimmer.

Ihr Käufer hatte ihr gestern Abend keine Zeit gegeben, sich in dem großen Spiegel zu betrachten, der über einer Waschschale hing, aber sie hatte ihn nicht vergessen. Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild. Trübe, helle Augen starrten sie an, in denen sie keinen Glanz mehr finden konnte. Sie hob ihre Arme und betrachtete die blauen Flecken um ihre Schultern, an den unteren Rippen und über ihrem Hüftknochen, die bereits ein wenig ins Gelbliche spielten. Die meisten waren auf der Reise nach Ephis entstanden, durch den brutalen Umgang der Sklavenhändler.

Erbärmlich, sagte sie sich selbst. Als wäre sie gefangen in einem makabren Traum, streckte sie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. Du lebst. Du hast überlebt. Überleben ist nie schön, nicht? Es ist schmutzig, es ist Blut und Dreck. Erinnere dich daran, was Vater gesagt hat. Wie in einer Schlacht der Moment kommen wird, in dem beide Seiten glauben, geschlagen zu sein – wer dann angreift, gewinnt.

Ace lachte freudlos auf und begann, ihre Haare zu entwirren. Ihr Vater hatte stets schlaue Sprüche auf Lager gehabt, aber jetzt konnte sie darüber nur noch lachen. In ganz Tel'Narae hatte niemand den Sieg angezweifelt. Nicht in einer einzigen Sekunde, weder der Kaiser, seine Berater, General Vicar, die einfachen Bauern, noch die Soldaten. Nicht einmal ihre Kriegseulen. Dagegen hatten in Atraklin bereits nach einer Stunde die Glocken geläutet, das Zeichen, dass sie sich geschlagen gaben.

Ace fluchte und stieß einen zischenden Laut aus, weil sie hängengeblieben war. Jeden Morgen hatten ihre Zofen eine halbe Stunde lang ihr Haar gebürstet, kunstvoll geflochten und mit teuren Bändern, Steinen und Haarnadeln verziert und hochgesteckt. Sie hatte keine Übung, um es allein zu machen, und auch keine Hilfsmittel. Dennoch wollte sie ihr Haar schön tragen, denn es gab ihr etwas Selbstkontrolle und Würde zurück.

Ihre zarten Finger fuhren nun sanfter durch die silbernen Strähnen, und bald hatte sie ein Ergebnis, mit dem sie sogar recht zufrieden war. Nichts, was sie als Kunst bezeichnen würde, nur zwei dünne Zöpfe an beiden Seiten, hinten verknotet, um das restliche Haar zusammenzuhalten. Sie zwang sich zu einem schüchternen Lächeln, drehte sich und streckte ihre Brust heraus. Die Gedanken an ihre Familie, an General Vicar und an den Albtraum versuchte sie zu verbannen. Jetzt stand eine Aufgabe bevor. Ein letztes Mal warf sie ihrem Spiegelbild einen ermutigenden Blick zu, dann huschte sie in die Küche.

Frühstück.

Ebenfalls eine gute Gelegenheit, sich abzulenken. Obwohl das Mädchen in ihrem ganzen Leben noch keine einzige Mahlzeit hergerichtet hatte, klang ein Frühstück nach einer einfachen Aufgabe. Die Küche war nicht besonders üppig ausgestattet, aber sauber. Kurz sah sie in alle Schränke und Schubladen und griff nach einer Tasse und einem Teller. Sie fand Brot, Honig, Hafer und Gerste, sowie etwas Obst und Gemüse. Ziemlich schnell fiel ihr auf, dass Produkte wie Käse, Butter, Fleisch, Fisch und Milch fehlten, doch das lag vermutlich an den Temperaturen hier in Ephis.

Es war früh am Morgen, und doch konnte sie sich ohne Kleidung in dem Haus bewegen, ohne zu frösteln. Natürlich würde hier keiner auf die Idee kommen, Lebensmittel zu lagern, die die Hitze nicht lange aushielten. Ace schnitt drei Scheiben des hellen Brotes auf und legte diese zusammen mit zwei Hälften einer Feige und eines Apfels auf den Teller.

War das genug? Will er etwas anderes?

Ihr Magen zog sich bei dem Anblick zusammen. Er war in den letzten zwei Wochen so sehr strapaziert worden, dass er Ace das Gefühl gab, wieder nicht genug zu bekommen. Jetzt hätte sie die Möglichkeit, ungesehen etwas zu essen, falls ihr Meister sie wegen des gestrigen Vorfalls hungern lassen wollte. Sie schauderte.

Diebstahl wurde in Tel'Narae schlimmer bestraft als in Atraklin, und zudem öffentlich. Sie hatte gleich bei ihrer Ankunft gesehen, wie man einem Mann den linken Arm abgehackt hatte und ihn vor einer zweiten Tat gewarnt hatte. Frauen hingegen wurden versklavt, und Sklaverei bedeutete, man trug den Kragen ein Leben lang. Aber sie war bereits eine Sklavin.

Ängstlich horchte sie auf. Kein Geräusch. Im Haus war es völlig still. Naraener konnten nicht hellsehen, ihr Meister würde bestimmt nicht bemerken, wenn sie sich eine ganz dünne Scheibe abschnitt.

Ace nahm das Messer erneut in die Hand und schob sich eine Sekunde später das Brot in den Mund. Es blieb keine Zeit, den Geschmack zu analysieren oder in Ruhe zu kauen, die Nervosität und die Paranoia, erwischt zu werden, zwang sie dazu, so hastig zu schlingen, dass sie sich fast verschluckte. Als alles in ihrem Magen gelandet war, und das Haus noch immer von einer klammen Stille beherrscht wurde, vergrub sie verzweifelt das Gesicht in ihren Händen.

Was mache ich?

Sie hatte nicht einmal richtigen Hunger gehabt und sich trotzdem einem gefährlichen Risiko ausgesetzt. Und für was? Kein wohliger Geschmack auf ihrer Zunge, keine Genugtuung ihres Magens – nur Furcht.

So schmeckt das Leben einer Sklavin.

Sie seufzte leise auf, nahm den Teller hoch und stellte ihn hinter ihr auf den Esstisch ab, als ihr ein kleines Buch mit rotem Ledereinband ins Auge fiel. Unauffällig lag es neben einer stehen gelassenen Tasse Rotwein, geradezu verlockend für Ace, die Bücher stets zu schätzen wusste. Neugierig strich sie über einen verzierten Verschluss und öffnete ihn.

Das Werk war nicht gedruckt. Die Seiten, aus vielen Papierarten, weißlich, gelblich, und auch ein paar hellbraune, teils grob zugeschnittene Blätter, die der Verfasser vermutlich selbst zusammengeklebt hatte, atmeten Abenteuer aus. Sie waren schmuddelig, handschriftlich mit Bleistift und Tinte vollgeschrieben. Ace blätterte so vorsichtig um, als hielte sie Schmetterlingsflügel zwischen ihren Fingern, und versuchte, etwas zu lesen. Doch die Gedanken des Schreibers schienen sich zu jagen, die Buchstaben waren schwer zu entziffern und die Sätze oftmals schlecht formuliert. Die Handskizzen dagegen schafften etwas Lebendiges und zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie musterte die Zeichnung zweier Statuen, einem Mann und einer Frau, die sich an den Händen hielten und aus einem glänzendem Material bestanden. Darunter standen ihre Namen in deutlichen, großen Blockbuchstaben.

Nykip und Nareb, las Ace so vertieft, dass sie die herannahenden Schritte gar nicht wahrnahm. Der Gott der Wünsche und die Göttin des Mondes.

Aber das sind doch die verschollenen Götter!

»In Tel'Narae haben wir ein Sprichwort. Kennst du es?«, meldete sich eine raue Männerstimme hinter ihr.

Der Schreck rieselte ihr glutheiß bis auf die Knochen. Sie unterdrückte ein Keuchen, klappte das Buch zu und hielt es sich instinktiv vor ihre Brust. »Meister«, begrüßte sie ihn mit gequälter Miene.

Ezekiel... dieser Name ... Ich kenne diesen Namen.

Ace hielt unwillkürlich ihren Atem an. Ihre Blicke trafen sich kurz, doch seine braunen Augen verschmälerten sich, als er sie auf das Buch richtete. Rote Farbe schoss ihr ins Gesicht. Hastig legte sie es zurück auf den Tisch, als hätte sie es nie angerührt, und stammelte verlegen eine Antwort auf seine Frage. »Uhm... Nur Narren lass-«

»Nicht das«, unterbrach er sie und trat näher an sie heran. So nah, dass sein Duft nach Salz und Leder in ihre Nase stieg und sie sich sofort kleiner fühlte. Er hatte sich ein Hemd angezogen, das locker um seinen Brustkorb lag, und seine Hose steckte in schwarzen, polierten Stiefeln.

»Neugier tötet mehr Sklaven als Ungehorsam«, klärte er sie auf.

Sie schluckte. »Da ist vermutlich etwas dran. Bitte verzeiht mir. Ich kannte das noch nicht.«

»Wenn du um Verzeihung bittest, solltest du dich auch hinknien und mir die Füße küssen.«

Sie biss sich auf die Zunge. Weder ihr Geist, noch ihr Körper gehorchte, doch seine Worte hatten auch nicht seinen typischen Befehlston angenommen. Ohne sich zu rühren, blickte sie zu ihm hoch. Sie glaubte, ein belustigtes Funkeln in seinen Augen wahrnehmen zu können.

Ein Scherz?

Der Moment verflog, als er ihr ohne Vorwarnung ins Haar griff. Sofort zuckte sie zusammen und wollte sich ihm entwinden, doch er packte sie nur noch fester. Sie erwartete Schmerz und Schläge, dass er an ihren Haaren zog und sie gegen den Tisch stieß – doch sie merkte schnell, dass er bloß ihre Frisur begutachtete.

»Man hat dir wirklich gar nichts beigebracht«, brummte er, und sie spürte, wie er ihren Knoten öffnete und die Strähnen durch seine Finger fließen ließ.

Unsicher drehte sie das Kinn zu ihm. »Was gefällt Euch nicht?«

»Du kannst dir meinetwegen Zöpfe in deine Strähnen flechten, aber nicht mehr. Sklaven müssen das Haar offen tragen, denn aufwendige Frisuren sind den freien Frauen vorbehalten. Und ich will mich nicht mit beleidigten Frauen streiten, dafür fehlen mir die Nerven.«

Was für eine dumme Regel, dachte Ace, während sie übertrieben verständnisvoll nickte.

»Widersetze dich meinen Händen noch einmal, und ich bestrafe dich«, fügte er dann jedoch in einem sehr viel strengeren Tonfall hinzu.

Wieder nickte sie, nun etwas gehemmter. »Ja, Meister.«

Er zog einen Stuhl zu sich und setzte sich an den Tisch. Lässig griff er nach dem halbleeren Weinbecher vom Vorabend und kippte ihn in zwei Zügen hinunter. Ace schaffte es noch gerade so, ihre Missbilligung hinter einer aufgesetzten Fassade zu verstecken. Er war gerade erst aufgestanden...

Wehe, du befiehlst mir, dir mehr davon zu bringen.

Doch er zeigte nur auf das Buch. »Du steckst deine Nase also lieber in meinem Buch, anstatt den Tisch zu decken. Dabei können nicht einmal die meisten freien Bürger Tel'Naraes lesen, und Sklavenmädchen schon gar nicht.«

Sie starrte auf den bemitleidenswerten einzelnen Teller mit den Brotscheiben, ehe sie mit den Schultern zuckte. »Wenn es Euer Buch ist, heißt das, Ihr habt es geschrieben? Schreiben kann auch nicht jeder.«

Zumindest niemand, der sich so kleidete, niemand, der so lebte wie er. Selbst in ihrer Heimat konnten Menschen, die Papier und Tinte nicht zum Überleben brauchten, nichts mit Buchstaben anfangen. Besser, sie korrigierte dieses Detail schnell, bevor er nachhaken konnte. »Außerdem kann ich nicht lesen. Ich habe mir bloß die Bilder angesehen.«

Zumindest deine hässliche Krakelschrift nicht. Dieser Mann war kein Schriftgelehrter, nicht bei diesen vielen Rechtschreibfehlern und dieser Formlosigkeit.

»Wie auch immer, Sklavin.« Seine Miene blieb ausdruckslos, ohne Indiz, ob er ihr glaubte oder nicht. »Geh in den Keller und hol mir Käse und Butter, dieses Frühstück lässt zu Wünschen übrig. Schnell.«

Es gab einen Vorratskeller? Darauf hätte sie auch kommen können.

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