𝟎𝟕┃𝐃𝐚𝐬 𝐒𝐜𝐡𝐥𝐨𝐬𝐬 𝐢𝐦 𝐒𝐜𝐡𝐧𝐞𝐞


[ACE]


Sie hasste ihn.

Sie hasste ihn so sehr, dass sie darüber nachdachte, alle Schüsseln in der Küche zu zerschlagen, jeden Stuhl umzuwerfen und die roten Vorhänge zu zerreißen. Sie wollte Chaos in seinem Haus schaffen, wie er ein Chaos aus ihr machte. Nichts, was sie gelesen, erlebt oder sich vorgestellt hatte, hätte sie darauf vorbereiten können.

Es war nicht nur ihr eigener Körper, der sie verriet, sondern auch das starke Hungergefühl in ihrem Magen. Sie hatte als Gefangene tagelang nichts zu essen bekommen. Aber in der Zeit hatten ihre Bitterkeit und das Wissen der Ausweglosigkeit dieses Hungergefühl immer unterdrückt. Es war, als könnte sie in diesem Moment wieder fühlen, wie es ihr eigentlich ging. Aber sie konnte ihre Niederlage nicht allein auf den Hunger schieben.

Ace wusste, dass es in dieser Welt zwei Arten von Männern gab. Diejenigen, die man erst ernst nahm, wenn sie mit einer Peitsche vor einem standen, und diejenigen, bei denen man bereits an einer leichten Veränderung ihrer Stimmen erkannte, dass man einen Fehler gemacht hatte.

Sie brauchte nicht noch einmal über Ezekiel Zoharon nachzudenken, um ihn einzuordnen. Dieser Mann schüchterte sie mehr ein als die Krieger aus Atraklin. Seine Stimme, der Ausdruck in seinen Augen, seine ganze Art wirkte so herausfordernd, als würde er nur darauf warten, dass sie einen falschen Schritt machte.

Ihr Hunger war nicht ganz gestillt, aber nah dran. Er hatte ihr mehr gegeben, als sie sich erwartet hatte. Hatte sie dafür belohnt, dass sie ihre anfängliche Widerspenstigkeit niedergelegt hatte, sie dafür gelobt.

Aber der Hass brannte mit einer Energie in ihrer Brust, dass er fast ihre Sinne betäubte. Sie musste ihn beherrschen, sonst könnten ihr bald fatale Fehler unterlaufen.

Ruhig. Atme. Reiß dich zusammen.

Endlich gab er ihr mit einer Geste die Erlaubnis, aufzustehen. Als Ace sich erhob, war die Aggression aus ihren Gliedern entwichen. Schweigend lauerte sie auf neue, widerwärtige Anweisungen des Mannes, die nicht lange auf sich warten ließen. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging an ihr vorbei.

»Folge mir.«

Das Haus war schön, aber es war nicht ihr Haus. Dementsprechend war es für sie eher unbehaglich und fremd. Sie folgte ihm einfach weiter, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben. Tatsächlich hatte sie Angst zu sprechen. Sie wüsste auch gar nicht, was sie sagen sollte. Oder fragen könnte. Oder überhaupt ...

Er führte sie zurück in den Flur, durchquerte das Wohnzimmer und öffnete eine Tür. Das schummrige Licht zweier Kerzen dämmte den Raum, der ganz offensichtlich sein Schlafzimmer war. Ein breites, weiß bespanntes Bett nahm den meisten Platz ein. Auf dem Fußboden lag ein braunes Tierfell, vermutlich Schafsfell.

Ihr Meister nickte sie hinein, doch Ace bewegte sich keinen einzigen Millimeter. Ihr ganzer Körper verspannte, und ihr Kiefer wurde hart wie Marmor. »Nein«, stieß sie heiser hervor. »Nein. Das werde ich nicht tun.«

Er baute sich vor ihr auf. »Was wirst du nicht tun?«

Sie kämpfte um ihre Beherrschung, doch der Anblick des Bettes hatte sie aus der Fassung gebracht. Sie musste es verhindern. Irgendwie musste sie es verhindern, sich nicht in diesen weißen Laken wiederzufinden. Unter ihm, unfähig, sich zu rühren. Sie machte einen Schritt zurück, in derselben Sekunde wollte er nach ihrem Kragen greifen, doch die Angst überwog und sie schlug seine Hand weg. Im Haus schien es auf einmal kälter zu werden. Das Sofa, die Bücherregale, und die Kommoden hätten sich ebenso gut in Eis verwandeln können.

»Du wagst es, Sklavin?« Seine Nasenflügel bebten.

»Ich werde mich nicht einfach von Euch besteigen lassen!« Sie machte drei weitere Schritte zurück.

»Du willst weglaufen?« Er lachte grausam. »Wo willst du denn hin?«

Ihr Rücken berührte die Wand hinter ihr. Es ging nicht mehr weiter. Schneller, als sie es erwartete, hatte er sich dicht an sie gedrängt und packte beide ihre Hände. Ihr Körper bebte vor Zorn und Angst, als der Mann sich erdreistete, sie stärker gegen die Wand zu pressen, doch während der Widerstand in ihr schrie, erhob sie äußerlich keinen handfesten Protest. Ihr Brustkorb hob und senkte sich panisch, doch ihre Fäuste, die mittlerweile nicht weniger bebten als der Rest, blieben geballt.

Sein Griff verstärkte sich. Ace spürte den Schmerz an ihrem Rücken und an den Stellen, an denen er sie umklammert hielt. »Hört auf!«

»Halt dein Maul«, knurrte er. »Oder ich bringe dich dazu, dein Maul zu halten.«

Die Tränen begannen, eine nach der anderen über ihre Wangen zu fließen. Er näherte sich ihrem Gesicht, ließ eine Hand los, nur um diese auf die Seite ihres Gesichtes zu legen

»Ich kann das nicht«, schluchzte sie.

»Dummes Mädchen.« Er packte leicht ihr Kiefer, sein Daumen strich eine Träne zur Seite. »Also, sag mir, wo willst du hin?« Er klang, als verlangte er eine Antwort darauf, aber Ace wusste nicht, was er von ihr wollte. Auf einmal zog er sich von ihr zurück und stellte sich ins Schlafzimmer. Sie blieb stehen, presste sich weiter an die Wand und wagte es nicht, sich zu rühren.

»Du kannst nirgends hin.«

Es war die Wahrheit.

Zitternd wartete sie auf weitere Worte. Aber er war völlig still, und das für eine lange Zeit. »Komm her«, befahl er schließlich. Sie starrte ihn fest an, ihre Tränen flossen, und sie glaubte, ein starkes Zucken in seiner Leistengegend zu sehen.

Er ist durch meine Tränen erregt, schoss es ihr durch den Kopf.

»Komm her!« Er stieß ein wütendes, kehliges Geräusch aus.

Sie hatte die Grenze überschritten. Er kam wieder auf sie zu und packte sie an den Wurzeln ihrer Haare, so hart, dass sie dachte, er würde sie herausreißen. Der Schmerz durchdrang ihren ganzen Körper und sie schrie und weinte. Er zog sie nach vorne und schleuderte sie in das Schlafzimmer. Aber nicht auf sein Bett, sondern auf den Boden, auf das Tierfell.

Seine Augen waren dunkel und leer. »Ich hatte nicht vor, dich zu ficken. Ich wollte dich lediglich zu Bett bringen. In Tel'Narae ist es Brauch, dass Sklaven zu Füßen ihrer Meister schlafen. Und das wirst du jetzt auch tun.«

Sie kroch ein paar Zentimeter zurück und starrte ihn ungläubig an. »Warum habt Ihr das nicht... warum...«

»Es gibt keinen Befehl, der verweigert werden darf. Du hast alle zu befolgen.«

Jede Faser zerriss vor Scham, Hass und Wut. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken daran, dass sie einen Wirbel um nichts gemacht hatte. Und ihr wurde noch viel übler, wenn sie daran dachte, was er in seiner Wut alles hätte mit ihr anstellen können. Auf dem Boden vor seinem Bett zu schlafen war beinahe harmlos, auch wenn es unbequem war und die Bedeutung unterstrich, eine Sklavin zu sein. Und das alles, nachdem sie sich sogar körperlich gegen ihn gewehrt hatte. Für Nichts und wieder Nichts, und jetzt musste sie mit den Konsequenzen leben, dass er ziemlich wütend auf sie war.

»Morgen früh wirst du aufstehen und das Frühstück für mich anrichten. Weck mich nicht, verstanden?«

»Ja, Herr«, brachte sie zwischen leisen Schluchzern hervor.

»Sehr gut. Und jetzt sei leise.«

Die Tür fiel zu. Sie hörte noch, wie seine Schritte sich entfernten, dann war es vorbei. Ace kugelte sich zusammen und vergrub ihren Kopf unter ihren Armen und versuchte, die Tränen zu ersticken. Nach fast einer halben Stunde hatte sie damit Erfolg.

Obwohl es auf dem Fell im Vergleich zum Käfig und im Schiffsbauch deutlich bequemer war, mochte der Schlaf nicht kommen. Immer wieder wälzte sie sich hin und her, doch es lag nicht an den Positionen. Sie lag nackt auf dem Schafsfell, hatte weder Decke noch Polster, und trotzdem war ihr zu warm. Ein Mädchen aus dem hohen Norden war einfach nicht für die Hitze von Ephis gemacht, weder ihre Haut noch ihr Körper, der nicht zur Ruhe kommen wollte. Aus den offenen Fenstern drang hin und wieder leiser Straßenlärm, doch keine einzige Brise Wind.

Tropennächte nennt man das, fiel ihr ein. Der naraenische Gärtner hatte ihr davon erzählt. Die Winter des Imperiums sollen so kühl sein wie unsere Sommer.

Ein langgezogenes Seufzen entwich ihr, und sie drehte sich herum in Richtung Tür. Unter dem Spalt verriet ihr flackernder Kerzenschein, dass ihr Meister sich im Wohnzimmer bewegte. Sie war sich sicher, dass er die Strafe für ihr Verhalten auf Morgen verschoben hatte. Doch Ace wollte ihre Gedanken nicht an ihn verschwenden, weshalb sie sich wieder umdrehte und versuchte, sich an schönere Erinnerungen zu klammern. Sie sah es vor sich, das Schloss im Schnee.

Die Türme stechen wie spitze, weiße Dolche in die dunklen Wolken. Der Schnee fällt und fällt in geisterhafter Stille und legt sich dick und unberührt über ihr Land. Jede Farbe hat die Welt verlassen. Es ist ein Ort aus Weiß, Schwarz und Grau. Weißer Schnee, weiße Türme, schwarze Schatten, schwarze Bäume, darüber ein grauer Himmel.

Eine reine Welt, dachte Ace. Hier gehöre ich hin.

Hier trägt sie ein warmes Kleid aus Lammwolle. Stiefel, die ihr bis zu den Knien reichen, gefütterte Handschuhe und einen Kapuzenmantel aus weißem Fuchsfell. Solace wandert an gefrorenen Bächern und kahlen Bäumen entlang und fragt sich, ob sie noch immer träumt.

Ja, antwortete ihr ein raues Echo.

Sie reißt knietiefe Löcher in die Oberfläche des Schnees, doch verursacht kein Geräusch. Im Hofgarten, direkt vor den Toren des Schlosses, bleibt sie stehen und neigt das Gesicht zum Himmel. Sie spürt den Schnee auf ihren geschlossenen Lidern, schmeckt ihn auf den Lippen. Er schmeckt nach Atraklin. Nach Unschuld. Nach Asche. Nach dem Tod.

»Solace!«

Langsam öffnet sie die Augen. Da steht sie. So hübsch, wie sie sie das letzte Mal gesehen hat. Sie trägt kein Kleid, sondern eine schwarze Hose, die mit einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wird. Der Saphir im Knauf ihres Schwertes entspricht dem Blau ihrer Augen, in denen eine unübersehbare Wildnis lauert.

»Skadi«, flüstert sie ihrer jüngeren Schwester zu, geht auf sie zu und wird lauter. »Skadi, wir müssen hier weg. Sie kommen!«

Hinter ihr tauchen zwei weitere Gestalten auf. Das lange, braune Haar ihres Vaters war von Blut verklebt. Etwas Grimmiges liegt in seinen grauen Augen, und er wirkt ganz und gar nicht wie der Mann, der Abends am Feuer sitzt und mit sanfter Stimme die Legenden der Götter erzählt. Neben ihm steht ihre Mutter, die ihr aschblondes Haar an nur an Ace weitervererbt hat. Sie trägt ein cremeweißes, zerrissenes Kleid, und ihre Wangen sind feucht vor Tränen. Beide blicken nur stumm zu ihr hinunter.

Skadi hingegen lächelt und streckt die Hand nach ihr aus. »Komm rein. Es ist kalt hier draußen.«

»Nein! Wir müssen fliehen! Kommt mit mir!«

Solace sieht die Schatten der Eulen über ihnen herandrängen. Sie sieht sie bereits am Himmel kreisen, sieht ihre scharfen Krallen zwischen den Wolken aufblitzen.

Skadis Lächeln weicht einer Maske des Entsetzens. Sie zieht ihr Schwert, ihr Arm sinkt, sie entgleitet ihr bereits. Mit einem schrillen Schrei greift Solace nach ihr, doch sie verschwindet zusammen mit ihren Eltern in der Dunkelheit des Schlosses. Die Tore schließen sich und lassen sie allein im Hof zurück.

Eine fremde Hand legt sich um ihren Mund, die ihren Schrei erstickt. Sie wehrt sich, doch kann nicht verhindern, wie starke Arme sie packen und ihr sämtlichen Schmuck, sämtliche Wertsachen entreißen. Die Hände lösen den dicken Zopf, verunstalten ihr Haar und ersetzen ihren warmen Mantel durch eine graue Decke.

»Habt keine Angst, meine Prinzessin«, fordert Asgeir.

Jetzt erkennt sie ihn. Überrascht blinzelt sie ihn an. Asgeirs Kettenhemd ist blutverschmiert. Immer schon hat sie ihn als einschüchternd empfunden, denn er ist riesig und muskulös. Im Laufe der Jahre hat ihre Furcht nachgelassen, ihr Respekt für ihn jedoch nicht. Er ist das jüngste Mitglied der Húskari, der Elite-Garde ihrer Familie, und ein hervorragender Schwertkämpfer.

Solace klammert sich an ihn. »Lasst mich nicht allein, bitte«, fleht sie ihn an. »Wo sind meine Eltern?«

Asgeirs Augen verdunkeln sich. »Ich muss jetzt zu ihnen. Ihr dürft niemanden sagen, wer Ihr seid, versteht Ihr?«

Solace versteht. Die Grausamkeit der Naraener ist weit über die Meerengen hinaus bekannt. »Wohin soll ich?«

»Zum Rabenturm. Versteckt Euch dort. Ich werde Euch holen. Ich werde Euch finden. Jetzt läuft, die Zeit wird knapp.« Er gibt ihr einen Stoß in die Richtung des Turms, ehe er die Treppen zum Tor hinauf eilt, um ihre Familie zu finden.

Der Hof löst sich auf, zerfließt wie Wasser und verändert sich. Solace kämpft sich durch den Schnee, bis sie den Rabenturm in den Himmel ragen sieht, doch als sie ihn endlich erreicht, ist bereits alles verloren.

Sie stehen direkt vor ihr.

Ihre aufwendig verzierten Rüstungen leuchten wie frischer Schnee. Langschwerter sind an goldenen Gürteln befestigt und um ihre Schultern tragen sie weiße, wallende Umhänge. Solace kann nur das Gesicht des Vordersten sehen. Die anderen haben Helme aufgesetzt, und diese haben nur schmale Sehschlitze, mit kunstvoll verzierten Vogelflügeln.

Naraenische Soldaten, naraenische Eulen.

Der, der seinen Helm als einziger in seinen Händen trägt, starrt sie direkt an. Seine honigfarbene Haut ist glatt und sein dunkles Haar sorgfältig nach hinten gekämmt, doch er hat kein Gesicht. Er ist offenbar höherrangig. Seine Rüstung ist prunkvoll, und der quer verlaufende Helmbusch aus weißem Rosshaar steht ebenso aufrecht wie sein Besitzer.

Er befiehlt ihr etwas, doch Solace versteht ihn nicht. Sie macht auf dem Absatz kehrt und rennt weg. Der Rabenturm kommt nicht infrage. Sie muss hinunter in die Stadt, und sich dort in Sicherheit bringen. Ihre Krieger werden die naraenischen Soldaten schnell besiegen und aus ihrem Land vertreiben.

Wunschdenken. Diese Nacht gehört ihnen.

Sie hetzen hinter ihr her, stoßen sie in den Schnee und machen Platz für ihren General. Aus dem Augenwinkel nimmt sie das Schwert wahr: schmal und scharf genug, um einen Körper ohne viel Kraftaufwand in zwei Teile zu schneiden. Sie schließt die Augen und ergibt sich dem verstörenden Geruch nach Metall und der Erkenntnis, dass es keinen Ausweg mehr gab. Sanft berührt die Klinge ihren Nacken.

Sie hört laute Flügelschläge, und dann, wie das Schwert durch die Luft sirrt. 



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Note: 

Eins meiner persönlichen Lieblingskapitel. Es hat mich ziemlich viel Zeit und Überarbeitung gekostet, weshalb ich mich um ein Sternchen oder Kommentar freuen würde. ;D

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