𝟎𝟓.𝟐┃𝐃𝐢𝐞 𝐖𝐚𝐡𝐥


[SOLACE]


Flüchtig warf sie durch die offene Badezimmertür einen Blick hinaus in den Flur, um zu überprüfen, ob sich ihr Meister noch immer im Wohnzimmer aufhielt. Alles war noch genau an derselben Stelle wie vor zehn Minuten, als sie den Wasserhahn aufgedreht hatte. Die Gardinen, das Sofa, der große Spiegel, der Stapel Kisten auf dem Boden und die Schüssel mit den Äpfeln, die ihr ständig zuriefen: Iss uns, iss uns! Nur der Mann war verschwunden. Vorhin hatte sie ihn noch sehen können, doch jetzt musste er in einem anderen Zimmer sein. Das und die Tatsache, dass es im Bad kein Fenster gab, durch das man sie hätte beobachten können, beruhigten sie ein wenig.

Das Badezimmer war nicht sehr groß, ein paar der Fließen waren gesprungen und an der Zimmerdecke hingen Spinnweben, doch der Holzzuber war intakt und sauber, und mittlerweile voll. Abgesehen vom Hunger und der pochenden Wunde an ihrem Oberschenkel spürte sie keine körperlichen Schmerzen mehr.

Sie drehte den Hahn zu und tauchte ihren linken Fuß ins Wasser. In ihrer Heimat im Norden wäre das Wasser sicherlich noch zu heiß und sie hätte eine ihrer Zofen gebeten, noch etwas kaltes hinein zu gießen, bis es eine angenehme Temperatur besaß. Ebenfalls hätte man ihr das Bad mit süß duftenden Ölen oder Badesalzen angereichert, aber dergleichen bekam sie hier nicht. In Ephis gab es kein heißes Wasser aus den Leitungen, vermutlich wegen den ohnehin heißen Lufttemperaturen. Oder vielleicht gab es welches, nur ihr Meister hatte keinen Zugang dazu.

Sie wusste nicht, wie viel Geld er besaß, oder gar welchen gesellschaftlichen Status er hatte. Wenn sie drüber nachdachte, passte eigentlich gar kein Beruf zu ihm. Er hatte diesen abgewetzten schwarzen Ledermantel getragen, und diese schwarzen Stiefel, und sein Geschmack was Schmuck und Schminke betraf, schien ebenso divergent. Um seine Finger trug er keine Ringe aus Gold oder Silber, sondern kleine Lederriemen und seine Augen waren offensichtlich mit einem schwarzen Kohlestift geschminkt worden. Solace stufte ihn nach einer halben Stunde Bekanntschaft als sehr eitel und selbstverliebt ein. Charaktereigenschaften, die sie einem Mann aus Atraklin niemals zugeschrieben hätte, aber die Bewohner Tel'Naraes waren allgemein absurd anzusehen. Sie war sich sicher, der Reichtum und die politische Überlegenheit des Landes hatten die Menschen mitsamt ihrem Modegeschmack verdorben.

Der Wasserhahn tropfte ein wenig. Solace sank tiefer ins Wasser und tauchte ihren Kopf unter und hielt den Atem an. Wann war sie zuletzt in den heißen Bergquellen schwimmen gewesen? Es musste an Skadis zwölften Geburtstag gewesen sein, vor gut zwei Jahren. Sie hatte ihre Schwester mit ausgedachten Rätseln dorthin locken wollen, doch Skadi hatte viel zu lange gebraucht, sodass sie ihr am Ende bei den Lösungen helfen musste. Sie wollte an sie denken, an ihre kleine Schwester, die Schrammen sammelte wie andere Mädchen Puppen, doch ihr Gesicht verschwamm mit dem eines anderen.

Als Solace wieder auftauchte, strich sie sich schon fast wütend das Haar aus dem Gesicht. Sie fuhr sie mit der Hand über ihr Brustbein, betrachtete die Spinnweben an der Decke und musterte eingehend ihr Bild im großen Spiegel gegenüber. Erneut prüfte sie die offene Badezimmertüre. Ein Sklave darf keine Türen hinter sich schließen, hatte ihr Käufer zu ihr gesagt. Solace hatte das Recht auf Privatsphäre mit ihrem Halsreif verloren.

Ihr Blick glitt nach vorne, zu einem silbernen Behälter, in dem ein Waschlappen, ein Stück Seife und... war das ein Rasiermesser? Sie lehnte sich nach vorne und griff danach. Tatsächlich ließ sich das gekrümmte Holzstück aufklappen und offenbarte eine scharfe Klinge. Ihr Meister benutzte es wohl, um seinen Bart damit zu pflegen, aber ihr fielen weitere Dinge ein, die man damit anstellen konnte. Sie betrachtete das Messer einige Sekunden lang, strich sanft über die Klinge und spürte seine Macht. Ihre Augen lagen auf ihren Handgelenken.

In ein paar Minuten würde das Leben langsam und süß aus ihr hinaus fließen.

Gäbe es nur jemand, dem sie eine letzte Frage stellen konnte.

Gäbe es nur jemand, irgendjemand, der ihr verriet, wozu sie lebte und nicht für wen.

Jemand, der ihr zeigte, dass alles anders verlaufen konnte.

Die Gedanken bereiteten ihr Sorge. In Solace Herzen lauerte stets ein bisschen Furcht, Furcht vor so vielen Dingen, aber in ihrem alten Leben hatte sie sich noch nie vor sich selbst gefürchtet.

»Jetzt siehst du aus wie ein Schneemädchen.«

Das Messer fiel mit einem lauten Platschen in das Wasser und sank augenblicklich auf den Grund der Wanne. Erschrocken riss sie ihren Kopf herum und starrte den Mann, der sich hinter ihr in den Türrahmen lehnte, aus weit geöffneten Augen heraus an. Sein Anblick ließ sie frösteln. Scham, Befremden und Kälte kamen in ihr auf, zusammen mit dem intensiven Gefühl der Übelkeit, dem Ekel über sich selbst und ihre Gedanken. Sie wollte ihn anschreien, ihn schlagen, und sich bedecken. Aber sie rührte sich nicht. Nicht einmal der kleinste Laut kam über ihre Lippen.

»Hast du das schon einmal benutzt, um deine Körperbehaarung zu entfernen?«, fragte er und kam näher.

Augenblicklich ließ sie sich tiefer ins Wasser gleiten, bis ihre Schultern bedeckt waren, und fischte das Rasiermesser wieder heraus, um es auf dem Wannenrand abzulegen. Sie wollte ihm sagen, er solle rausgehen, doch sie konnte nicht. Ihr fehlte die Macht dazu, und das machte ihr solch eine Angst, dass sie zu zittern anfing.

»Nein, ich selbst nicht«, antwortete sie ihm hastig, biss sich aber im nächsten Moment auf die Zunge, als sie sah, wie er seine Augenbraue hochzog.

»Was soll das bedeuten? Wer hat es denn für dich benutzt?« Er hatte die Wanne erreicht und ging in die Knie, um sie zu betrachten. Seine Stimme klang fordernd und kalt, sodass es ihr bei seinem Klang erneut die Brust zuschnürte und ihr Hals sie nicht schlucken ließ.

Sie war so ehrlich gewesen, dass sie vergessen hatte, welche Informationen sie lieber für sich behielt. Wie zum Beispiel, dass es ihre Zofen im Schloss gewesen waren, die ihr die Körperbehaarung mit solch einem Messer wegrasiert hatten. Wenn er erriet, wer sie wirklich war, und dann auch noch wegen solchen nicht überlegten Aussagen, würde er sie sofort an den Kaiser von Tel'Narae ausliefern.

Ein erneutes Schaudern durchfuhr ihren Körper, als sie sich vorstellte, angekettet an dessen Thron zu seinen Füßen zu kauern, wie die Hohe Konsulin von Atren und die Gemahlin des Königs der Herbstinseln. Schon seit Jahrhunderten war es naraenischer Brauch, die royalen Frauen der eroberten Länder für eine Zeit lang an den Thron zu ketten und nach ein paar Wochen oder Monaten zu töten.

Sollte also ihre Identität offenbart werden, offenbarte sich damit auch ihr sicherer Tod, und Solace wollte nicht sterben. Das wusste sie jetzt deutlicher als noch vor einer Stunde. Stolze Männer und Frauen würden vielleicht aufschreien und darauf beharren, lieber frei zu sterben, als in Sklaverei zu leben, aber Stolz war billig. Wenn es hart auf hart kam, waren solche Menschen rar wie Sternschnuppen, ansonsten gäbe es nicht so viele Sklaven auf der Welt.

Es hat noch keinen Sklaven gegeben, der sich nicht für die Sklaverei entschieden hätte, überlegte Solace. Jeder Sklave hat die Wahl zwischen Ketten und Tod gefällt. Und jetzt bin ich an der Reihe.

»Ich meinte, dass ich gesehen habe, wie meine Mutter sich rasiert hat«, antwortete sie ihrem Meister, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.Von ihrem Meister kam ein unscheinbares Nicken. Ihre Lüge war durchgekommen.

Sie beobachtete, wie er die Rasierklinge zwischen seinen Fingern spielen ließ. Seinen Ledermantel hatte er inzwischen ausgezogen. Darunter war ein weißes, luftiges Hemd zum Vorschein gekommen, dessen oberste Knöpfe er offen gelassen hatte. Kurz erwischte sie sich selbst dabei, wie sie ein paar Sekunden länger auf seine Schlüsselbeine starrte, als sie sollte. Sein Teint hatte die Farbe dunklen Honigs, der im starken Kontrast zu ihrer eigenen Alabasterhaut stand und sie an den alten Cygnus erinnerte, den naraenischen Schlossgärtner der zu ihnen übergelaufen war. Vermutlich lebte er noch, denn es war gegen die Ehre eines Naraeners, alte Männer und Frauen abzuschlachten. Es sei denn, er hatte sich mit seiner Gartenschere bewaffnet, als er die Stadtglocken läuten gehört hatte. Sie hätte es ihm zugetraut.

»Normalerweise rasieren sich die Frauen in Tel'Narae, und normalerweise würde ich das auch von dir verlangen, aber, beim Gott aller schönen Frauen, du hast sogar blonde Haare zwischen deinen Beinen. Das habe ich noch nie gesehen.« Er klappte das Messer wieder zu und legte es neben das Waschbecken.

Aces Blut kochte. Vor Scham, aber auch vor Wut, denn niemals hätte sie gedacht, dass ein Mann so wenig Anstand besaß und sie mit der Farbe ihrer Schambehaarung konfrontierte.

»Du bist ganz rot im Gesicht«, kam aus seiner Richtung, und obwohl sie ihn nicht an sah, konnte sie doch das unverhohlene Grinsen aus dem Klang seiner Stimme deutlich vor sich sehen. Da sie nicht wusste, was er denn hören wollte, griff sie nach dem Waschlappen und der Seife und begann, den gesamten Dreck dieses verfluchten Landes von ihrer Haut zu reiben. »Das kannst du nicht abwaschen.«

Ein scherzhaft gemeinter Kommentar, doch für Solace brachte er das Fass zum Überlaufen. Laut klatschte der Waschlappen gegen die innere Wand des Zubers und sank ins Wasser. »Ich dachte, in Tel'Narae ist es verboten, mehrere Götter anzubeten. Ihr habt doch nur einen einzigen!«, fauchte sie aggressiv und wollte die Seife hinterher donnern.

Seine Hand, die sich eisern um ihr Handgelenk legte, ließ sie in der Bewegung einfrieren. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und blickte in sein Gesicht, dessen Ausdruck sich verändert hatte. Dort, wo sie das Grinsen vermutet hatte, war sein Mund ein schmaler Strich. Er sah nicht böse aus, aber sie wusste sofort, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Mit der anderen Hand griff er ins Wasser, direkt zwischen ihre Beine. Sie verkrampfte, doch er holte nur den Waschlappen aus der Wanne und wrang ihn in der Faust aus.

»Ich hab mich schon gewundert, wo dein stumpfes Barbarengemüt bleibt. Besser, du versteckst es noch, bis du die Regeln kennen gelernt hast.« Er nahm ihr die Seife ab und gab ihr Handgelenk frei. »Außerdem bist du noch nicht fertig. Steh auf.«

Ohne ihm das brave 'Wie Ihr wünscht, Meister' zu liefern, erhob sich Solace in der Wanne und stand nur noch mit den Füßen im lauwarmen Wasser. Sie wusste nicht, was er von ihr wollte, doch der Tonfall und seine Miene gefielen ihr nicht, und so funkelte sie ihn trotzig an. Tief in ihrem Inneren erwachte ein Prickeln, als sie so da stand und ihm ihren nackten Körper präsentierte. Nicht nur ihre Wangen glühten, nun tat es auch die restliche Haut. Ihr Meister wandte den Kopf und fing ihren Blick auf. Seine Augen verdunkelten sich kurz, wanderten dann aber hinunter zu ihrer Mitte, die er ungehemmt musterte.

Mit der Seife fuhr er über die Stellen, für die sie noch keine Zeit gefunden hatte, und schrubbte den letzten Dreck von ihrer Haut fort. Sie spürte seine Hand an ihrem Kinn und... Er zwang sie, aufzuschauen, aber nur um den Schmutz auf ihrer Nase wegzureiben. Sie schaffte es dabei, ihm nicht in die Augen zu sehen. Sanft, ganz ohne unbarmherzige Rohheit, die sie eigentlich erwartet hatte, strich er mit dem Lappen an ihren Schultern entlang, über ihren Nacken und dann den Rücken.

Unter anderen Umständen hätte sie diese Gesten als liebevoll und schmeichelhaft empfunden.

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