𝟎𝟓.𝟏┃𝐓𝐚𝐤𝐞𝐬𝐜𝐡
[SOLACE]
Solace versuchte sich zu erinnern, wohin sie gingen, wie oft sie abbogen, wie viele Straßen sie passierten, falls die Informationen jemals nützlich sein sollten. Aber ihr Orientierungssinn war bereits durcheinander. Diese verfluchte Stadt war wie ein Labyrinth und das schmerzende Pochen ihrer Verbrennung lenkte zusätzlich ab.
Es schien ihr, aus allen Ecken starrte man sie an, spottete über sie, selbst wenn sie den Menschen hier als Sklavin kaum gleichgültiger sein konnte, da sie auch nicht die einzige war, die keine Kleidung trug. Wieder wollte sie die Arme um die Brust legen, um ihre Blöße vor der Öffentlichkeit der Straße zu schützen und das Zittern unter Kontrolle zu bringen, und wieder war ihr selbst das verboten.
Eine halbe Ewigkeit waren sie durch dunkle, unbeleuchtete Gassen gegangen. Obwohl es in Ephis um einiges wärmer war als in ihrer Heimat, spürte das Mädchen schon bald eine Gänsehaut auf ihren Armen und auf ihrer Brust. Dabei war sie in einer Nacht geboren, in der ein heftiger Schneesturm Teile der Stadt unterhalb des Schlosses eingeschneit hatte. Ob man in Ephis Schnee kannte? Zu gerne hätte sie dies erfahren, doch ihren neuen Meister wollte sie nicht fragen.
Bisher hielt er für unnötig,auch nur irgendein Wort mit ihr zu wechseln.
Solace schwieg ebenfalls, allerdings sollte dies auch so sein. Offenbar durfte eine Sklavin nicht sprechen, wenn ihr Meister es ihr nicht erlaubte oder es sich um eine dringende Angelegenheit handelte. Stattdessen atmete sie die würzige Abendluft ein und versuchte, ein paar klare Gedanken zu fassen.
Was soll ich tun, wenn er will, dass ich ...
Augenblicklich fröstelte es ihr und sie entfernte ein wenig den Abstand zu ihm. Auf dem Sklavenmarkt hatte sie gesehen, wie einige Mädchen genommen wurden, um sie zu 'testen'. Sie fragte sich, wie es war, wenn er sie einfach packte und auf den nächsten Tisch warf. Wie sie sich hinterher fühlen würde und wie es danach weiterging. Immerhin lebte sie danach weiter.
Aber konnte sie so weiterleben? Wollte sie überhaupt so weiterleben?
Das Mädchen weitete den Abstand zwischen ihm und ihr, bis sich die Kette spannte, doch sie wusste, dass sie sich nicht vor ihm schützen konnte. Solace war nicht stark genug, sie hatte nie gelernt, wie man sich gegen solch einen Angriff wehrte. Ihr Leben lang hatte sie sich mehr für weibliche Beschäftigungen wie Musik, Tanz, Stickerei und Poesie interessiert, wie auch für Politik, Kommunikation und Diplomatie. Sie verabscheute Gewalt und jegliches Kräftemessen. Wenn es passierte, dann brach es wie eine unbekannte Katastrophe über sie herein, mit Folgen, die ihr Leben verändern würden.
Solace erinnerte sich, wie ihre Mutter einmal gesagt hatte, dass Frauen unglaublich stark waren. Nur über den Umgang mit der Hilflosigkeit gegen die Gewalt der Männer hatte sie geschwiegen. Weil sich niemand von ihnen jemals vorgestellt hatte, dass sich Solace einmal nackt und gefesselt an einer Kette in den dunklen Straßen von Tel'Naraes Hauptstadt wiederfinden würde. Wie naiv, wie blind, wie dumm ihre Eltern doch schon immer gewesen waren. Es fiel Solace schwer, die Worte von jemandem anzunehmen, die in den wichtigsten Momenten schwache Entscheidungen gefällt und ihr Königreich nicht verteidigen konnte. Hätte sich ihre Mutter nicht so vehement gegen das Angebot des naraenischen Kaisers gestellt, wäre alles anders gekommen. Zwar wäre sie immer noch ihrer Heimat entrissen in Ephis, doch anstatt einem goldenen Ring um ihren Hals, hätte sie einen goldenen Ring um den Finger getragen.
Sie wollte ihre Tochter auf dem Thron sehen. Welche Mutter würde das nicht für ihr Kind wollen?
Als sie sein Haus erreichten, fror sie mittlerweile schon recht stark, sodass sie zitternd hinter ihm wartete, bis er ein kleines Holztor aufstieß und sie durch den Garten zu einer großen Haustüre zog.
Es war ein schönes Haus, dachte sie, und ein noch viel schönerer Garten mit gepflasterten Wegen, zwei großen Palmen und anderen Bäumen und Sträuchern. Sie wollte den Garten am Tag sehen, wenn er schön grün und tropisch aussah, wie sie sich ihn jetzt vorstellte.
Doch im nächsten Moment erstarrte sie.
Vor der Haustüre, im Schatten der Nacht kaum auszumachen, lag ein riesiger, schwarzer Hund. Instinktiv blieb sie stehen und wollte nicht mehr weitergehen. Ihr Meister drehte sich zu seiner Sklavin um. Grob zerrte er sie an der Kette zu sich, funkelte sie warnend an, doch die aufkommende Panik war stärker und in ihr kreischte eine hohe Stimme, dass sie sich losreißen und weit wegrennen sollte. Auf keinen Fall wollte sie sich diesem Ungeheuer nähern, auch wenn er sie dafür schlagen würde.
Die Augen des Tieres waren zu Schlitzen geschlossen, als döste es, aber hätte jemand seine Flanken berührt, so hätte er angespannte Muskeln und einen unruhig vibrierenden Atem gespürt.
»Sein Name lautet Takesch«, sprach er mit dem melodischen Akzent der naraenischen Zunge zu ihr und Solace blickte zaghaft zu ihm hoch. Ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Rippen, ihre Augen waren ängstlich aufgerissen und sie schämte sich für all diese Gefühle, die ein einziges mächtiges Tier in ihr auslösen konnte.
»Ich habe nur noch nie so einen riesigen Hund gesehen«, wisperte sie leise und auch irgendwie schüchtern, denn in diesem Moment realisierte sie, wie sehr sie von ihm abhängig war. Sie konnte sich nicht losreißen und weglaufen, weil sie in dieser Welt nicht allein sein wollte. Wie ein Kind, das sich nach Geborgenheit und Sicherheit sehnte. Dieser Mann war dafür verantwortlich, dass sie nicht verhungerte, nicht erfror, nicht in irgendeiner dreckigen Ecke vor sich hin rottete. Und er war auch dafür verantwortlich, dass dieser Hund nicht aufsprang und sie zerfleischte, als hätte er sieben Tage nichts zu fressen bekommen.
»Nicht? Ich habe gehört, dass man in deinem Land große Hunde vor Schlitten spannt«, antwortete der Mann gelassen. »Knie dich nieder und küss seine Stirn.«
Schlagartig riss sie ihre Augen vor Furcht und Entsetzen weit auf. Sie wollte etwas sagen, wollte den Befehl verweigern, den er ihr gab, doch es würde ihr nicht helfen. Wahrscheinlich würde er sie zwingen, mit diesem Ungeheuer in einer kleinen engen Hütte zu schlafen, wenn sie verwehrte. Sein aufmerksamer, neugieriger Blick verriet ihr, was das eigentliche Ziel dieses absurden Befehls sein sollte.
Er will wissen, wie brav ich ihm seine Wünsche von den Lippen lese.
Ob sie Befehle befolgen würde, die ihr selbst unangenehm waren, vielleicht sogar schmerzhaft. Und Solace wusste, dass das hier die Chance zu einem guten ersten Eindruck war. Wenn sie sich weigerte, würde er sie in nächster Zeit mit strengeren Augen ansehen, als er es jetzt tat. Sie musste ihre Furcht überwinden, musste ihre Angst hinunterschlucken und den Hund küssen, wie es von ihr verlangt wurde.
Zitternd und mit aller Vorsicht nickte sie und ging langsam auf den Hund zu, der seinen Kopf hob und die Ohren anlegte. Kurz schnupperte er in ihre Richtung, doch dann legte er den Kopf wieder auf die Holzdielen der Veranda ab. Wie in Zeitlupe kniete sie sich zu dem Hund nieder und streckte eine Hand nach ihm aus, ließ sie auf seinem Nacken ruhen und atmete erleichtert aus, als das Tier nichts dagegen einzuwenden hatte.
Das Mädchen nahm all ihren Mut zusammen und beugte sich hinunter, drückte dem Ungeheuer ihre Lippen auf die Stirn und wartete zwei Sekunden ab, bis sie sie wieder entfernte. Takesch hechelte gutmütig und begann mit seinem Schwanz zu wedeln, streckte die feuchte Nase nach ihr aus und wollte den Kuss zurückgeben, doch da war sie schnell wieder aufgestanden und hatte sich mit hängenden Schultern ihrem Meister zugewandt.
Anerkennend nickte er ihr zu. »Gehen wir hinein.« Er griff an ihr vorbei, um die schwere Türe aus Eichenholz zu öffnen, und drückte sie dann mit einer Hand auf dem Rücken hinein. Sie stolperte über die Schwelle und sah sich in dem Haus um. Alles schien ordentlich und sauber, ihr Besitzer achtete wohl auf einen gepflegten Zustand seines Heims. Der Boden bestand zu ihrem Erstaunen nicht aus Holz, sondern aus glatten dunklen Steinplatten, die sich kalt auf ihren nackten Füßen anfühlten.
Solace sah zu ihm auf. Sie versuchte, seine Absichten zu lesen. Erwartete er von ihr, dass sie sie einfach kannte? Würde er sie schlagen, wenn sie nicht ohne zu zögern würde, was er verlangte?
Er schien die Art von Mann zu sein, die das tun würde.
»Die Stiefel«, sagte er schließlich.
Sie war erleichtert. Sie kniete sich vor ihm nieder und öffnete seine Stiefel, einen nach dem anderen. Die Schnürsenkel waren lang und erforderten ein wenig Fummeln, und sie konnte spüren, dass er ungeduldig mit ihr wurde. Sie beeilte sich, so gut wie sie konnte, zog sie ab, als sie gelöst waren, und stellte sie zur Seite neben die Tür.
Als sie ihn wieder ansah, sah sie etwas, was sie nicht erwartet hätte. Enttäuschung? Begehren? Es war eine tödliche Mischung, inspiriert von einem einfachen Akt der Unterwerfung. Der Mann war komplizierter, als er wirkte. Wenn sie überleben wollte, musste sie lernen, ihn zu verstehen.
Er zog sie ein paar Schritte weiter hinein, bis in den Raum, der vermutlich das Wohnzimmer war. In der Mitte stand ein breites Sofa, dahinter ein wuchtiger, aus einem mächtigen Baumstamm geformter Tisch und ein dunkler Schrank. An der Wand über dem Sofa hingen mehrere eingerahmte Bleistiftzeichnungen von Karten und Objekten, die sie nicht erkannte. Sie überflog die Darstellungen und schaute sich weiter in der Wohnung um. Durch den offenen Übergang entdeckte sie die Küche, zusammen mit einem großen Esstisch. Das Haus wirkte nicht, als ob er hier allein wohnte. Etwas, das sie beruhigte. Wenn er eine Ehefrau hatte, musste er dieser immerhin mehr Aufmerksamkeit schenken als ihr.
Plötzlich drehte er sich um und griff an ihre Kehle, eine Bewegung, die sie zusammenzucken ließ. Doch er entfernte bloß die Eisenkette, die sie im Haus natürlich nicht brauchte. »Ich möchte, dass du dich im Badezimmer wäscht. Deine Haut sollte gemäß deiner Herkunft sehr hell sein, nicht? Davon sehe ich im Moment nicht viel.«
Seine Worte ließen ihren Blick auf ihre Arme gleiten, die tatsächlich Spuren des Staubs und Drecks des Käfigs aufwiesen. Nicht so sehr, dass sie ihre Haut verdeckten, doch vermutlich hatte er das metaphorisch gemeint.
»Ja, Meister«, flüsterte sie. Zwar wäre es ihr lieber gewesen, zuerst etwas zu essen zu bekommen, aber sie wollte sich nicht beschweren. Ein Bad war etwas, auf das sie sich freute, denn bestimmt half es, wenn sie sich durch sauberer Körperpflege einen Teil ihrer Würde zurückholte.
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