Schillernd Schwarz

ACHTUNG! UNTER UMSTÄNDEN VERSTÖREND!

Sie saß in ihrem Zimmer. Von einem Meer aus Farben umgeben. Blumen schmückten mit ihrer zarten Pracht jeden freien Flecken. Als lebendige Bilder auf den Wänden. Als flauschige Kissen auf ihrem Bett und auch als Aufkleber, mit schillernden Orchideen geschmückt, auf ihrer Zimmertür. Margeriten prangten am Holz ihres Bettes. Rosen, von ihrer Mama gemalt, am Fenster. Allein die Decke war nicht von den Gewächsen der Natur überwuchert. Leer war sie jedoch auch nicht.

Ein berauschendes Durcheinander an Farben brachte den Himmel über ihr zum Leuchten und trug sie in eine Welt, die nicht jedem Menschen offen Stand. Und nur jene willkommen hieß, die sich ihren Träumen überließen und dem Kind in sich den Vortritt ließen.

Im Haus herrschte himmlische Ruhe. Allein das Summen ihrer geliebten Mutter, das Tirilieren ihres kiwigleichen Wellensittichs und das sanfte Gitarrenspiel ihres fürsorglichen Vaters waren zu hören.

Das Mädchen mit dem rabenschwarzen Haar und einer Haut so klar und rein wie der erste Mondstrahl der Nacht, lag bäuchlings auf dem nachtblauen Teppichboden. Einen jungfräulichen Malblock vor der Nase und eine farbenfrohe Vielfalt von Buntstiften in Griffweite. Um sie herum eine Welt aus Spielzeug. Pferde galoppierten wild und frei über die unendlichen Weiten ihrer Fantasie. Meerjungfrauen streckten ihre schillernden Fischschwänze aus den Wellen, in die sich ihr weicher, blauer Teppich verwandelte und lockten sie mit sich in eine Welt, dessen Auge bisher noch kein Mensch gesehen hatte.

Nur die Kinderaugen, die gerade auf den Block vor sich gerichtet waren, wussten, welche Wunder sich in diesem Raum verbargen. Wunder, die es zu entdecken galt. Wunder, die sie mit eigenen Augen sehen wollte. Träume, die geträumt werden wollten. Abenteuer, die sie zu erleben gedachte. In ihrem Leben. In ihren Träumen und ihrer Fantasie.

Ihre kleine Hand griff zielstrebig nach dem sonnenfarbenen Stift und hinterließ eine nach Vanilleeis und Zitronen duftenden Strich auf dem unberührten Blatt. Immer wieder fügte sie die Farbe des Sommers dem Weiß hinzu und wechselte dann zu den Farben des Herbstes. Leuchtendes Orange, feuriges, nach Hitze duftendes Rot, sanftes, karamellfarbenes Braun, das zu einem nachtkühlen Blau, sich veränderte. Frühlingshaft wurde es heller. Nur langsam von Dunkelblau zu Hellblau und dann zu einem hauchzarten grasigen Grün. Ein frischer Ton. Wie neu geboren. Das mit der Zeit reifte. Älter und gezeichneter wurde, sich dem Lauf der Jahreszeiten beugte und im Licht der Sonne sein Leben genoss. Als das Mädchen den tiefgrünen Stift aus den Händen legte, den Regenbogen, den sie auf das Blatt gezaubert hatte, betrachtete, war es still.

Viel stiller als noch zuvor. Das Summen ihrer Mutter war verstummt, das Zupfen und Streichen, mit dem ihr Vater die Seiten der Gitarre zum Singen gebracht hatte, verklungen. Selbst ihr Vogel gab keinen Laut mehr von sich.

Stattdessen begann das Kind zu summen, um die Stille zu vertreiben. Tauchte ein, in die Welt ihres Regenbogens und träumte, auf den Schwingen ihres Vogels frei durch die Lüfte zu gleiten, vom Wind getragen in den Himmel zu schweben und mit den Engeln um die Wette zu fliegen. Doch ihr Traum endete jäh und ihre kleine, heile Welt zerbrach, im Bruchteil der Zeit, den eine Fee für einen Fügelschlag brauchte und fiel wie verkohlte Asche, als schwarzes Häuflein, in sich zusammen. Zerplatzte, wie eine Seifenblase im Flug und ließ nur ratlose Kinderaugen zurück.

Schreie hallten durchs Haus. Möbel wurden verrückt. Glas ging zu Bruch. Und dann ein ohrenbetäubender Knall.

Erschreckt richtete sich das Kind auf. Starrte angstvoll auf die Tür. Zitterte in Erwartung dessen, was sich ihr näherte.

Schritte waren auf der Treppe zu hören. Stimmen von Männern, die sie nicht kannte. Worte, die sie nicht verstand in einer Sprache, die sie noch nie gehört hatte.

Furcht durchzuckte den kleinen Körper. Angst um Vater und Mutter. Angst um den Bruder den sie so liebte und der so oft mit ihr unter dem Regenbogen gelegen und ihr Geschichten erzählt hatte. Märchen von fliegenden Feen, von springenden, tanzenden Wassertropfen, die, wenn man nur fest daran glaubte, nach Schokoladeneis schmeckten. Nach Bonbons und Zuckerwatte.

Gerade lag er in seinem Zimmer neben ihrem und schlief. Er war viele Jahre älter als sie. Hatte die Grundschule schon hinter sich. Auch die Schule, in die er jetzt ging neigte sich dem Ende zu.

Das kleine Mädchen wollte sein wie er. Mutig und stark. Witzig und klug. Und sie freute sich darauf, in diesem Jahr das erste Mal, zur Schule zu gehen. Zu lernen, was er gelernt hatte. Geschichten zu erzählen und sie aufzuschreiben. Gitarre zu spielen, wie ihr Vater, oder so besänftigend schön zu singen, wie ihre Mutter es bis eben noch getan hatte.

Die Schritte auf dem Gang vor der Tür näherten sich. Hielten an. Sie hörte, wie die Tür zum Zimmer ihres Bruders aufgestoßen wurde, hörte ihn einen Ruf ausstoßen und dann wieder diesen Knall, der ihr die Sinne raubte. Ihren Kopf dröhnen ließ. Doch was sie noch mehr in Panik versetzte, war die Warnung, die sie dem Schrei ihres Bruders entnehmen konnte, bevor auch seine Stimme wieder verstummte.

Hastig sah sie sich um. Suchte nach einem Versteck und war sich der verzweifelten, von Angst getriebenen Tränen, die aus ihren nachtschwarzen Augen rollten nicht bewusst. Nur dass sie Angst hatte, das wusste die Kleine. Wovor sie jedoch Angst hatte, das wusste sie nicht.

War der gefährliche, hinterhältige Kapitän Hook in ihr Haus eingedrungen, um sie mit nach Nimmerland zu nehmen? Oder die Meerhexe mit ihren hässlichen Gesellen, um sie in den fischreichen, verwunschenen Ozean zu bringen, oder war es doch eher der Wolf, der die Großmutter und das Rotkäppchen gefressen hatte. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie Angst hatte. Das ihr, ihr kleines Herz bis zum Halse schlug. Dass ihre Augen brannten und ihre Knie zitterten, als sie versuchte aufzustehen.

Doch gerade, als sie sich unter ihrem Bett verkriechen wollte, sie sich dem, der da kam entziehen wollte, wurde ihre Türe geöffnet. Und da stand er. Nein. Kein Wolf, kein abartiger, verzauberter Fischmann und auch nicht Kapitän Hook in seinem Blauen Mantel, den er auf den Bildern in ihrem Märchenbuch trug. Nein. Es war ein Mann. Ein einfacher Mann. Nicht viel älter als ihr Bruder. Seine wasserfarbenen Augen so kühl, wie der schönste Bergsee, den sie je gesehen hatte, ließen sie glauben, dass er nichts Böses von ihr wollte. Er kniete sich hin, lockte sie mit dem Finger zu sich und bedeutete ihr still zu sein.

Er sagte, so dass sie ihn verstand, er würde ihr nichts tun. Sagte, er wolle sie von hier wegbringen. An einen Ort, wo es besser für sie wäre. Wo sie in Sicherheit wäre, und wo niemand mehr ihr etwas antun würde. Als sie fragte, wo ihre Mama und ihr Papa seien, sagte er, er würde sie zu ihnen bringen. Und das tat er auch.

Seine Hand legte sich auf ihren Mund und ihre Nase. Er hielt sie ganz fest. So fest, dass sie keine Luft mehr bekam. Er drückte so lange, bis ihr schwarz vor Augen wurde. Und das, obwohl sie sich wehrte. Zappelte und in seine Hand biss. An ihr riss und krampfhaft nach Atem rang. Er drückte auch dann noch zu, als sie schon längst aufgehört hatte sich zu wehren. Als das Kind mit dem Lachen eines Engels in seinen Armen zu einer leeren Hülle geworden war, dessen bisheriges Leben gerade ein Ende fand.

Hier in ihrem Zimmer. Hier unter dem bunten Rund des Regenbogens, dessen Magie ihren Blick anzog. Solange sie konnte schaute sie hinauf zur Zimmerdecke. Träumte von den Abenteuern, die sie noch erleben wollte und freute sich über den kleinen Vogel, der aus den schillernden Farben zu ihr herunter kam. Sie mit seinen Schwingen streichelte und sie an einen Ort brachte, wo sie keine Schmerzen mehr spürte. Wo sie atmen konnte und wo ihr keine blauen Bergseen versprachen sie zu ihren Eltern zu bringen.

Sie schwamm mit dem Vogel durch den Regenbogen. Ließ sich von den Wellen tragen; vom Wind streicheln und von den Chören der Engel leiten.

Hin zu einer Welt, die so ganz anders war, als die, in der sie bisher gelebt hatte.

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