Und ein kalter Engel

Dieser eine Augenblick kam Lucy vor wie eine Ewigkeit. Sie vergaß alles um sich herum, hatte nur noch diesen Mann vor sich, der sie immernoch unverwandt anblickte. Ihre Welt stand für einen Moment still.

Ihr Herz klopfte so laut, dass sie das Gefühl hatte, dass jeder im Raum es hören konnte. In ihrem Magen kribbelt alles.

Sie konnte sich nicht davon abhalten seine Lippen anzusehen. Sie musste daran denken, wie weich sie sich gestern angefühlt hatten. Und wie warm sein Atem war, den sie auf ihrer Haut gespürt hatte.

Der Engel vor ihr wandte seinerseits auch den Blick auf ihre Lippen. Lucy biss sich darauf.

Sie bemerkte ein Zucken seiner Hand, so als würde er sie anfassen wollen.

„Können wir ein Selfie machen?", riss eines der Mädchen sie aus ihrer Trance.

Lucy zuckte zusammen.
Sie sollte sich zusammenreißen.

„Klar", sagte sie und unterbrach den Blickkontakt zu dem Sänger.
„Klar könnt ihr ein Selfie machen oder?"

Während sie die Frage stellte blickte sie die anderen Bandmitglieder an, die sie nun neugierig musterten. Dem Blick des Mannes vor ihr wich sie aus.

Lucy senkte den Blick und stellte sich neben den Securitymann.

Die anderen Mädchen wurden nun auch mutiger und stellten Fragen. Die Band verteilte sich auf den verbleibenden Plätzen.

Lucy entging nicht, dass der Leadsänger den Platz mit dem besten Blick auf sie wählte. Und ihr entging auch nicht, dass er sie während des Fragen beantwortens und der Gespräche immer wieder mit seinen Blicken durchbohrte.

Sie ignorierte ihn und brachte den Fans aus dem Merchandiseregal CDs, Plakate oder Autogrammkarten, wenn sie danach verlangten.

Die Atmosphäre war entspannt und Lucy hätte das Meet&Greet sicherlich genossen, wäre da nicht der blonde Mann, der sie unentwegt musterte.

Es war eigentlich ein Wunder, dass bisher keiner im Raum etwas bemerkt hatte. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er aufhören soll sie anzusehen, aber das wäre zu auffällig gewesen.

Sein Starren war allerdings nicht weniger auffällig.

„Die Zeit ist gleich um", raunte der Securitymann, Chris, ihr zu.

Lucy schaute selbst auf die Uhr. Er hatte recht. In drei Minuten mussten die Fans wieder raus.

Widerwillig löste sie sich von der Wand und stellte sich vor den Sofatisch.

„So Leute, stellt eure letzten Fragen und sichert euch eure letzten Autogramme. In wenigen Minuten müsst ihr euch leider schon wieder verabschieden", sagte Lucy und ließ ihren Blick dabei durch den Raum schweifen. Den Frontman überging sie dabei geflissentlich.

Die Mädchen maulten ein wenig, ob sie nicht noch länger dableiben könnten, aber Lucy schüttelte den Kopf.

„Nein. Tut mir leid, die Band hat noch weitere Termine und muss sich auf den Auftritt morgen vorbereiten", erklärte sie.

Auch wenn Lucy dagegen ankämpfte, sah sie wie automatisch zu demjenigen, der seinen Blick nicht von ihr abwandte. Es war wie eine magische Anziehungskraft, der sie nicht widerstehen konnte.

Seine Mundwinkel hoben sich leicht an. Lucy schüttelte fast unmerklich mit dem Kopf. Sie würde nicht auf sein charmantes Lächeln reinfallen.

Sie wandte den Blick sofort ab und tat so als wäre sie unglaublich interessiert an den Fragen, die das blonde Mädchen vor ihr dem Bassisten stellte.

„So Leute", sagte sie schließlich, nachdem die letzten Minuten um waren. „Ihr müsst euch jetzt leider verabschieden. Vergesst bitte nichts und nehmt all eure CDs und Autogrammkarten mit"

Allgemeines Aufbrechen bekann und Lucy machte Platz damit die Gruppe den Raum verlassen konnte. Der Sicherheitsmann folgte den Mädchen schon und die Band verließ auch nacheinander den Raum.

Natürlich folgte der Bandfrontman nicht seinen Kollegen.

Er blieb sitzen und wartete bis alle anderen weg waren, bevor er auf Lucy zu ging. Sie wollte gerade aus der Tür, aber er versperrte ihr den Weg.

„Wir müssen reden", sagte er zu ihr.

Lucy wollte sich an ihm vorbeidrängeln, aber er trat direkt vor sie.

„Ich wüsste nicht, was wir zu besprechen haben", sagte sie schnippisch.

„Willst du nicht über gestern Nacht reden?", fragte er und zog die Augenbrauen hoch.

„Da gibts nichts zu reden. Wir hatten beide unseren Spaß und das wars"
Obwohl sie sich nicht an den Spaß erinnern konnte, fügte sie in Gedanken hinzu.

Er stieß ungläubig die Luft aus.
„Das wars? Das war nur ein unbedeutender One Night Stand für dich?"

Lucys Herz zog sich zusammen. Nein, ganz und gar nicht. Das war viel mehr als ein One Night Stand, aber sie wollte und konnte nicht mehr daraus werden lassen.

„Geh mir aus dem Weg", sagte sie bestimmt.

„Nein"

Er blieb dort stehen und sah sie mit eisernem Blick aus seinen blauen Augen an.

„Erst sagst du mir, was das gestern für dich war", forderte er.

Lucy legte eine Hand auf seine Brust und versuchte ihn wegzuschieben.

Keine Chance, er stand felsenfest da. Sie spürte seinen schnellen Herzschlag unter ihren Fingern.

„Das geht dich nichts an", antwortete sie.

„Und ob mich das was angeht"

Er griff nach ihrer Hand, die immernoch auf seiner Brust lag. Sie versuchte sich ihm zu entziehen, aber er hielt sie fest.

„Ich weiß, dass das gestern für dich mehr war als ein One Night Stand"

Lucy zog nochmal an ihrer Hand, aber er hielt sie an sich gedrückt.

„Gar nichts weißt du. Lass mich jetzt los"

Er schnaubte und zog sie nah an sich heran, sodass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste, um in sein Gesicht sehen zu können. Sie schluckte als er sich zu ihr hinunterbeugte und sie seinen Atem auf ihrer Haut spürte.

„Erklärs mir",sagte er. „Erklär mir, was das gestern für dich war. Sag mir, dass das nichts Besonderes war zwischen uns"

Lucy schüttelte den Kopf.

„Lass mich in Ruhe", wich sie aus und versuchte abermals erfolglos an ihm vorbeizukommen.

„Sag mir, dass dir gestern nichts bedeutet hat, dann lass ich dich in Ruhe"

Sie sah ihm direkt in die Augen. Sie wusste, dass sie ihn jetzt verletzen könnte. Wie viel er gerade Preis gab.
Der Herzschlag unter ihren Fingern beschleunigte sich als die Luft holte.

„Es hat mir nichts bedeutet", flüsterte sie. Sie sah wie er in sich zusammensackte. Wie sein Blick sich verdunkelte.

„Ich wollte nur meinen Spaß. Nichts weiter", setzte sie nach. Eine Lüge.

Er ließ ihre Hand los und wich einen Schritt zurück.

Lucy vermisste sofort die Wärme, die er ausstrahlte. Sein Blick wurde hart und sie fühlte sich schuldig.

„Gut", sagte er.
„Dann wäre das ja geklärt"

Und damit ließ er sie allein.

Für einen Moment blieb Lucy stehen und starrte auf den Punkt, an dem eben noch der Engel gestanden hatte.

Ihr war übel. Aber sie glaubte fest daran, dass sie das richtige tat. Sie brauchte momentan keine komplizierte Beziehung zu einem Superstar. Schon gar nicht zu einem Superstar, der sich als jemand anderes ausgab, um Frauen aufzureißen.

Sie atmete tief durch. Dann verließ sie den Raum und folgte der Gruppe Fans, die inzwischen den Ausgang erreicht hatte.

Lucy zählte noch einmal nach, ob auch wirklich alle das Gebäude verlassen hatten und keiner sich heimlich irgendwo versteckte. Als die Fans schließlich verschwunden waren, machte sie sich auf den Weg zu Jessi.

Ihre Gedanken hingen immer wieder an dem Gespräch mit dem Frontman von Sunrise Avenue. Wie er ausgesehen hatte, als sie ihm sagte, dass ihr der Abend nichts bedeutet hatte. Ihr Magen fühlte sich an wie ein schwerer Stein.

Lucy öffnete die Tür des Büros. Jessi saß am Schreibtisch verborgen hinter zwei großen Papierbergen.

„Oh hallo, ist alles gut gelaufen? Keine Probleme?", fragte sie, als sie Lucy bemerkte.

Lucy zwang sich zu einem Lächeln.

„Ja, das hat alles problemlos geklappt. Die Meet&Greet Gruppe ist gerade wieder aus dem Haus"

Jessi nickte zufrieden.

„Sehr schön"
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und dachte einen Moment lang nach.

„Okay, dann kannst du gleich Schluss machen. Ich hätte nur noch eine kleine Bitte an dich, dauert nicht lange"

Sie kramte in ihren Papieren herum und holte schließlich ein Blatt hervor.

„Könntest du das hier noch zu Herrn Haber bringen? Du hast ihn ja gerade schon kennengelernt"

Lucys Herz setzte einen Schlag aus. Bitte nicht.

„Das ist die Terminliste für die Veranstaltungen morgen Vormittag. Geh die einfach schnell mal mit ihm durch damit er Bescheid weiß"

Lucy musste schlucken. Sie nahm Jessi das Blatt ab und las sich die Termine durch.

Pressekonferenz, Autogrammstunde, Interviews. Morgen war viel zu tun.

Sie würde das schaffen.

„Okay, kein Problem", sagte sie lächelnd.

„Vielen Dank, danach kannst du direkt nach Hause gehen. Nimm dir am besten gleich deine Jacke und Tasche mit"

Lucy griff sich ihre Sachen.

„Alles klar, bis morgen dann", verabschiedete sie sich.

„Bis morgen Lucy", sagte Jessi, vertiefte sich aber schon wieder in ihren Formularen.

Lucy verließ das Büro. Sie schaute nochmal auf den Zettel hinunter und seufzte.

Am liebsten würde sie sofort nach Hause gehen.

Trotzdem machte sie sich auf den Weg zur Garderobe von Samu Haber.

An Bon Jovi vorbei über Freddy Mercury bis zu Mariah Carey ging sie bevor sie vor der richtigen Tür ankam.

'Garderobe SH' stand dort. Lucy atmete tief durch. Sie würde das schaffen.

Sie klopfte. Einen Moment lang geschah nichts und Lucy dachte schon, dass niemand da war, aber dann ertönte ein "Ja".

Sie öffnete die Tür einen Spalt breit und sah für einen kurzen Augenblick einen nackten muskulösen Rücken bevor sich ein T-Shirt darüber legte. Sie schluckte.

Er drehte sich zu ihr um und starrte sie einen Moment lang schweigend an.

„Was willst du?" Seine Worte waren so kalt, dass Lucys Herz sich in einen Eisklumpen verwandelte.

Sie wollte ihm sagen, dass die Nacht für sie nicht bedeutungslos war und dass sie ihn kennenlernen wollte, aber alles was sie herausbekam war: „Die Termine für morgen"

Sie hielt ihm den Zettel hin. Das Blatt zitterte.

„Danke", sagte er monoton und nahm ihr die Terminliste ab.

Er sah sie nicht an. Lucy drehte sich um und wollte verschwinden. Gerade als sie einen Schritt in den Flur trat, fing er an zu reden.

„Weißt du, ich dachte gestern, dass ich einen besonderen Menschen kennengelernt habe",fing er an.
„Jemanden, der noch Leidenschaft hat und für die Musik lebt. Das Gefühl hatte ich gestern. Du hast getanzt als würde die Welt dir gehören und nichts und niemand könnte dich aufhalten. Das hat mir gefallen. Und ich dachte, dir hat es auch gefallen. Wie man sich in einem Menschen täuschen kann"

Er schüttelte den Kopf und schwieg.

Lucys Herz geriet ins Stolpern.

„Es tut mir leid", wisperte sie so leise, dass sie nicht sicher war, ob er sie hörte. „Aber dieser Mensch ist eine Illusion"

Sie wich zurück und ließ ihn allein.

Sie wollte nur noch nach Hause.




Hey ihr Lieben,
danke fürs fleißige Lesen. Ich hoffe ihr fiebert genauso gespannt mit wie ich, denn auch ich weiß nicht, wie es mit meinen Figuren weitergeht. Ich warte einfach ab, was sie tun und schreibe es dann auf. Klingt komisch, aber das ist meine Autorenschreibweise.
Viel Spaß weiterhin wünscht euch
Luisa

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