Nur ein Wort
Lia war müde. Ihr Kopf tat weh und sie wollte nur noch schlafen, obwohl es gerade erst halb zehn war. Sie hatte große Pause. Es war keine wirkliche Erlösung nach der Doppelstunde Erdkunde, durch die Lia sich mit Mühe durchgekämpft hatte, ohne einzuschlafen. Jetzt lief sie zusammen mit hunderten von Schülern durch einen engen Gang. Die schallende Stimme eines Lehres ertönte hinter ihr. "Schnell jetzt! Der Schulhof ist heute beheizt!" Lia ließ sich möglichst unauffällig möglichst viel Zeit. Doch nachdem sie jedes Schülerwerk im Gang bestaunt und das schwarze Brett dreimal studiert hatte, ohne sich irgendetwas merken zu können, gingen ihr die Gründe aus, länger im warmen Flur zu bleiben. Als Lia die große Tür zum Pausenhof öffnete, schlug ihr klirrende Kälte entgegen. Sie trug nur eine Herbstjacke, obwohl es tiefster Winter war. Die Herbstjacke war schön, Lia mochte sie. Ihre Wolle war verfilzt, aber das machte sie nur noch schöner. Schneeflocken taumelten schläfrig den Himmel hinunter und lösten sich auf, sobald sie den grau nassen Boden berührte. Während alle anderen Schüler sich in kleinen Gruppen zusammenfanden und redeten, holte Lia ein in Alufolie eingewickeltes Toastbrot heraus und lief alleine über den Hof. Ein paar ältere Jungen wurden still, als sie vorbei lief. Einer warf ein Steinchen nach ihr und rief "Emo!". Schallendes Gelächter. War es überhaupt ein Steinchen gewesen? Lia hatte es nicht gemerkt. Von außen war sie vereist, wie der Winter. Im Inneren spürte sie nur Hass für diese Menschen. Um sie herum wurde es leiser, als sie in die hinterste Ecke des Schulhofes ging. Dort führte eine Treppe zu einer Wiese. Dort war niemand, der sie störte. Dort konnte sie für sich sein. Das Gras war so unberührt, dass der Schnee in einer dünnen Kruste liegengeblieben war. Das Geschrei der Anderen trat immer weiter in den Hintergrund. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde es kälter. Lia biss gerade in den letzten Rest ihres Butterbrotes, als es schellte.
Nasse Schuhe verschmierten den Steinboden im Flur. Hunderte Schüler traten auf die Fliesen ein. Lia quetschte sich durch die Tür in die einschläfernde Wärme des Schulgebäudes. Was hatten sich die Anderen wohl zu erzählen? Ziemlich viel... Lia war immer schnell der Gesprächsstoff ausgegangen. So war sie langweilig geworden.
Eine ganze Klasse wartete vor dem Klassenzimmer. Sie redeten immer noch. Timo bemerkte im Augenwinkel das Mädchen, das ganz alleine bei den Kleiderhaken, die nie jemand benutzte, stand. Er fand sie nett. In der fünften Klasse waren sie befreundet gewesen. Er lief zu ihr hin. "Na, Lia? Wie geht's?" Überrascht drehte sie sich zu ihm um und rang sich ein müdes Lächeln ab. "Normal." "Wie, normal? Was ist das denn für eine Antwort?" Er hatte es nett gemeint, in einem spaßigen Tonfall gesagt. Lia antwortete nicht, sah nur an ihm vorbei. Irgendetwas zerbrach in ihr. Timo kramte in seiner Tasche und fand einen Schokoriegel. "Willst du ein Stück?", fragte er mit vollem Mund. Lia lachte bei seinem Anblick und nahm gerne zwei Stückchen entgegen. "Und, was machst du so am Wochenende?" "Nichts... lesen... spazieren... ich hab noch nichts vor." "Ist doch auch mal ganz nett." "Und du?" So kamen sie ins Gespräch. Der Lehrer ließ sich wirklich viel Zeit. Lia war das lange Reden nicht mehr gewohnt, hatte aber ihren Spaß. "Wofür kommen wir eigentlich in die Schule, wenn die Lehrer eh nicht unterrichten? Die Zeit könnte ich auch anders verbringen. Nämlich schlafend zuhause. Bist du auch so müde?", regte sich Timo auf. "Ja und wie! Aber der Unterricht ist auch unnötig langweilig." "Allerdings! Wenn Herr Dietrich seine Monologe führt, dass keiner mehr zuhört und dann ausgerechnet mich etwas fragt... da könnte ich glatt Amoklaufen, allein damit hier mal ein bisschen was los ist." Timo seufzte aufgesetzt. "Würdest du aber nicht, oder?", fragte Lia. "Was? Amoklaufen? Nein, natürlich nicht!" Lia sah beruhigt aus. Dass sie auch immer alles so ernst nehmen musste... Timo fuhr fort. "Da braucht man schon einen besseren Grund als Langeweile. Und den habe ich nicht. Zum Glück. Ich könnte das gar nicht...Du etwa?" Etwas zögerlich sagte Lia "Doch." .
Das hätte Timo nicht erwartet. Vor Allem nicht von Lia. Ungünstigerweise kam genau jetzt der Lehrer. Dabei wollte Timo Lia unbedingt sprechen. Selbst, wenn er nicht wusste, was er sie fragen sollte. Im Unterricht konnte er sich ein bisschen ablenken, aber wirklich verdrängen konnte er den Gedanken nicht. Sie hatten Frau Böhme, eine strenge Lehrerin. Also konnte Timo keinen Zettel schreiben. Das käme eh nicht in Frage. Soetwas regelt man persönlich. Einen dummen Moment lang hatte Timo die Angst, Lia würde eine Waffe aus ihrem Rucksack holen und im nächsten Moment um sich schießen. Umso beruhigter war er, als sie nur ihr Hausaufgabenheft aus der Tasche zog. Selbst als die Stunde zuende war, konnte er sie nicht sprechen. Sie war als eine der Ersten aus dem Klassenzimmer gegangen. Auf dem Weg nach Hause beschäftigte es Timo immernoch. Er lief mit seinen Freunden zum Bus, war aber die ganze Zeit über neben sich. Statt auf ihr Gespräch über die neuste Serie konzentrierte er sich auf die Bodenplatten. Er verabschiedete sich zügig. Sobald er allein war, plagten ihn die Gedanken erst richtig. Hatte sie es ernst gemeint? Würde sie Schüler töten? Hatte sie einen Grund? Bestimmt. Sie hatte nicht wirklich viele Freunde. Eigentlich keinen Einzigen. Das wurde Timo erst jetzt klar. Zugegeben, war er auch nicht ganz unschuldig an ihrem Problem. Er hätte damals an ihrer Freundschaft festhalten sollen. Noch war es nicht zu spät. Er würde sie morgen direkt sprechen. Er könnte ihr da raus helfen. Vielleicht hatte er das auch falsch aufgefasst. Schließlich hatte Lia nur ein Wort gesagt. Ein Wort war kein Grund zur Panik. Ein Wort konnte nichts ausrichten. Ein Wort konnte und sollte niemanden so berühren. So beruhigte sich Timo für den Moment. Ein bisschen. Ein Wort änderte sein Leben.
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