1.
Jenny
Die Strömung reißt mir fast die Füße weg. Ich spüre die Kraft, die dieser Fluss hat. Das kühle Wasser umschlingt meine Knöchel, meine Waden und schließlich auch meine Knie. Ich falle beinahe, als ich mich vorwärts bewegen möchte. Ich verliere das Gleichgewicht und stolpere im Fluss umher. Plötzlich umklammert mich jemand und ich werde doch nicht zu Boden gerissen. Eine starke Hand hält mich fest. Ich schaue hinauf und sehe mal wieder diese Zahl.
21012050.
Ich hasse sie. Bald wird sich der Tod meinen Freund schnappen, Louis wird bald sterben. An einem qualvollen Tod.
"Hey, was macht ihr denn da?", ruft mein Vater. Von ihm habe ich die Gabe, das Todesdatum meines Gegenübers sehen zu können. Es ist schrecklich. Man möchte nicht wissen, wann wer stirbt. Und das Allerschlimmste ist, dass ich auch noch fühle, wie derjenige stirbt. Ich merke, ob er einen schönen Tod bekommt und friedlich einschläft oder ob er ermordet wird und verblutet.
Meine Zahl sehe ich nicht und das ist auch gut so.
"Jenny wurde von der Strömung umgerissen. Und ich hielt sie fest.", antwortet Louis. Er hat eine tiefe und raue Stimme, aber für mich gibt es hier in dieser zerbrochenen Welt keine schönere.
Wir, also meine Brüder Harry, Noah und Theo, mein Vater Marc und mein Freund Louis sind auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Es ist tiefster Winter und wir müssen einen eiskalten Fluss durchqueren. Einen anderen Weg gibt es nicht.
Vor längerer Zeit gab es in England ein Erdbeben. Alles, was die Menschheit hier je geleistet hat, ist vernichtet worden. Zahlreiche Menschenleben wurden ausgelöscht. Damals versuchte ein Junge namens Tobias, die Städte zu warnen. Er hatte auch die Gabe. Natürlich glaubte ihm niemand. Er tat alles, was er konnte und manche Leben konnte er sogar retten. Er ist ein Vorbild für mich, aber ich weiß noch nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt.
Jedenfalls sind fast alle Gebäude damals zerstört worden und die ganze Technik, alles, was jemals erfunden wurde, alles wurde unbrauchbar. Bis heute haben die Überlebenden noch nicht viel tun können. Es fehlen viele Dinge, die man für den Wideraufbau benötigt. Auch die Nahrungsmittel sind knapp.
In manch kleineren Städten fingen die Menschen an, aus dem Schutt schlichte Häuser zu rekonstruieren, in denen sie nun wohnen. Natürlich sind diese mit den einfachsten Mitteln gemacht worden.
Meine Mutter starb bei dem Erdbeben. Ab da bin ich die einzige Frau in meiner Familie und ich versuche, für meine Brüder so etwas wie eine Mutter zu sein. Harry ist 3 Jahre jünger als ich, also 15, Noah ist 13 Jahre alt und Theo ist der jüngste mit 7 Jahren. Ich habe die drei sehr lieb, auch wenn sie mich manchmal ziemlich nerven.
Nachdem meine Mutter starb, flohen wir aus London. Wir erreichten nach mehreren Stunden eine kleine Stadt, Canterbury, und auch da legte das Erdbeben alles lahm. Wir halfen, so viel wir konnten, die verletzten und toten Menschen zu bergen. Meine zwei kleinsten Brüder erlitten damals einen Schock. Harry verarztete mit mir sogar leichte Wunden, da wir 2 Wochen vor dem Unglück einen Erste Hilfe Kurs belegten.
Zusammen mit einer älteren Frau fuhren wir dann weiter nach Dover, also noch weiter in den Süden. In dieser Stadt bauten die Leute schon Hütten aus Wellblech und Geröll und da blieben wir auch.
Mehrere Jahre lebten wir jetzt da in solchen instabilen Häusern. Man kann schon sagen, dass wir eine Gemeinschaft gebildet haben. Louis lernte ich dann auch kennen. Er war sozusagen mein Nachbar gewesen, bis er sich entschloss, mit uns mitzukommen, eine neue Welt kennenzulernen und ein neues Zuhause zu finden.
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