Novemberblues

Ich bin aufgestanden, ich habe die Gardinen aufgezogen, ich habe mich angezogen und gefrühstückt UND ich bin vor die Tür gegangen.

Es gibt Tage im Leben eines Mannes, da ist es besser im Bett liegen zu bleiben, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und so zu tun, als existiere die Welt und ihre Bedürfnisse nicht. Heute ist so ein Tag. Erster November 2017 und ich habe Geburtstag, so ein Scheiß.

Neunzig Jahre sind jetzt seit dem ersten Mal vergangen und ich nehme meinen Eltern immer noch übel, dass ich ein Novemberkind bin. Solange ich denken kann, jedes Jahr dasselbe. Ich stehe auf, öffne die Gardinen und? - Genau! Scheißwetter, trübes Licht und grau in grau. Alle Menschen in unserem Frühstücksraum haben schlechte Laune und ein Grund zum Feiern bin ich auch nicht. War ich nie und wollte ich auch nie sein.

Vor die Tür bin ich gegangen ... tja, warum eigentlich? Weil ich Geburtstag habe und nichts besseres mit mir anzufangen weiß. Ich bin der Letzte unserer alten Garde und als Lieselotte vor fünf Jahren auch noch von mir ging, bin ich in die "Villa Unbesorgt" umgezogen. Auch nur alles Schall und Rauch. Toller Name, nichts dahinter. Altenheim bleibt Altenheim.

Darum bin ich jetzt auch hier. Goldenes Klassentreffen. Klasse 9a aus dem Abgangsjahr 1967. Die meisten von den jungen Leuten sind jetzt auch schon an die siebzig. Erschrocken war ich direkt über den kleinen Andreas, der sieht älter aus als sein eigener Vater. Ist aber auch kein Wunder, hat als Jugendlicher schon gesoffen, was das Zeug hält. Sieht auch nicht so aus, als ob sich das geändert hat.

Dass diese Amalie Immerfroh alle soweit zusammenbekommen hat, wie wir hier sitzen, ist wirklich erstaunlich.

Klingt wie früher, wenn ich den Klassenraum betreten habe. Da wurde auch getuschelt und geraschelt. Wenn ich den Raum betrat - Zack - waren alle mucksmäuschenstill. Zugegeben, das war heute nicht so. Heute sind alle angekommen und wollten nicht glauben, dass ich noch lebe und gekommen bin. Frechheit, meine Klassen sind immer ein Quell der Freude für mich gewesen.

Bis eben war ich geneigt zu glauben, dass es kein Fehler ist hier zu sein. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Diese impertinent fröhliche Amalie schwingt sich hinter das Mikrofon um eine Rede zu halten. Allerdings muss ich zugeben, dass sie das auch früher schon immer gut gemacht hat. Sie war nie in einer von diesen sogenannten Cliquen. Deshalb konnten sie auch alle als Klassensprecherin anerkennen. Sie war immer Mittlerin zwischen allen. Doch, doch, das hat sie immer gut hinbekommen.

Ihr Lieben,

als ich letztes Jahr zu Silvester über meine guten Vorsätze für das neue Jahr grübelte, habe ich mir das erste Mal eingestanden, dass ich in der Vergangenheit nicht einen meiner guten Vorsätze für das neue Jahr umgesetzt habe. Das ist nicht weiter schlimm, eher die Natur von guten Vorsätzen. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als das, was das Wort sagt, nur ein Vorsatz. Den ersten dieser nie erfüllten Vorsätze habe ich getroffen, als wir aus der Schule entlassen wurden. Unsere Abschlussfeier war eine tolle Party, bei der wir am Ende auf den Tischen getanzt haben.

Das Ende der Schulzeit haben wir aus zwei Gründen so rauschend gefeiert. Zum einen, weil wir jetzt nicht mehr in die Tretmühle "Schule" mussten, zum anderen auch, weil wir vergessen wollten, dass damit ein Lebensabschnitt endet. Ein Lebensabschnitt, in dem es selbstverständlich war, dass wir uns täglich sahen und sprechen konnten.

An diesem Abend fasste ich den Vorsatz, dass das nicht das Ende ist. Ich wollte so viel. Vor allem aber, wollte ich euch nicht aus den Augen verlieren. Wir alle wissen, dass es am Ende doch so gekommen ist. Uns ist schlichtweg das Leben mit seinen verschiedenen Wegen dazwischengekommen.

Was ich behalten habe, ist unsere Klassenliste. Anhand dieser habe ich euch alle gefunden. Etwas, was ich gehofft, aber nicht erwartet hätte, macht mich sehr glücklich. Unser alter Klassenlehrer, Herr Miesepimpel, der alte Haudegen, ist noch am Leben und heute hier."

Siehst du wohl, dass meine ich. Schwafelt erst ohne Ende und zack, haut sie einen Spruch raus, über den auch noch alle lachen.

Es hat Spaß gemacht das Klassentreffen zu planen und mit euch allen gesprochen zu haben. Auf meine Frage, woran ihr euch am besten aus unserer gemeinsamen Schulzeit erinnern könnt, bekam ich fast immer dieselbe Antwort.

Wir waren eine tolle Klasse!

Die Grüppchenbildung hat sich immer wieder verschoben. Mal waren wir mit dem einen etwas dicker, mal mit dem anderen. Wir waren selten einer Meinung, aber wenn es darauf ankam, haben wir zusammengehalten wie Pech und Schwefel. Legendär war, wie Frau Gesundheitswahn im Winter immer wollte, dass wir die Fenster öffnen, wenn wir aus der Pause zurückkamen. Das hat sie so lange mit uns gemacht, bis Klaus in unsere Klasse kam. An einem besonders kalten Tag war die Rebellion groß. Gerade hatten wir uns in der Pause auf dem Schulhof fast den Hintern abgefroren, als Frau Gesundheitswahn forderte, dass wir die Fenster öffnen sollten. Keiner von uns hat Anstalten gemacht dies zu tun. Nach der dritten Aufforderung sagte Klaus ganz trocken: "Frau Gesundheitswahn, es sind schon viele erfroren aber noch keiner erstunken." Die gesamte Klasse musste nachsitzen. Aber - fortan blieben die Fenster geschlossen."

Typisch, das passte zu der. Sie dachte, weil sie jung ist, wüsste sie, wie die Kinder ticken. Am Ende konnte sie sich nie durchsetzen. Ist dann immer mit puterrotem Kopf in das Lehrerzimmer gekommen und hat sich darüber beklagt, dass die Kinder nicht taten, was sie wollte. Kinder - pfhhh. Das waren schon junge Menschen, die kurz vor dem Schulabschluss standen. Sie sollten bald in die Ausbildung. Nur, weil sie sich nicht immer so benommen haben, änderte es nichts daran, dass sie ernst genommen werden wollten. Die waren schon gut so, wie sie waren - meine Klassen.

Am besten konnten wir uns aber an Herrn Miesepimpel und seinen Novemberblues erinnern.

Er war mit Abstand der beste Klassenlehrer, den wir uns wünschen konnten. Wenn wir wegen irgendetwas Zeit schinden wollten, hat er das nicht durchgehen lassen. „Kinder", hat er immer gesagt, „das Leben ist zu kurz um alles auf später zu verschieben. Irgendwann ist später vorbei. Dinge, die ihr genauso gut jetzt erledigen könnt, erledigt lieber gleich, dann habt ihr später Zeit für anderes."

So ist es. Hätten Lieselotte und ich nicht beschlossen, die Tour nach Dubai, mit der Jeep Safari durch die Wüste, zu ihrem achtzigsten Geburtstag zu buchen, hätten wir diese tolle Zeit nicht mehr gemeinsam erlebt.

Bei unserer Abschlussfeier hat Herr Miesepimpel uns von seiner Tante Rosumeck erzählt." „Kinder" hat er gesagt, „meine Tante Rosumeck sagte immer: „Junge, du hast im Leben zwei Möglichkeiten!", also denkt immer daran, ihr könnt nichts daran ändern, wie und wo ihr auf die Welt gekommen seid. Sehr wohl aber habt ihr es in der Hand, zu entscheiden, ob das auch so bleiben soll. Ihr könnt bleiben und sein, was ihr schon seid. Ihr könnt gehen und herausfinden, was auch sein könnte. Wichtig bei alledem ist immer, dass ihr mit euren eigenen Entscheidungen zufrieden seid. Im Leben steht man dann und wann vor einer Wand und glaubt, dass es nicht weitergeht. Überlegt gut, ob der Weg geradeaus dann der einzige Weg ist. Ihr könnt vor der Wand stehen bleiben, ihr könnt aber auch schauen, ob am Ende der Wand ein Weg ist, der vorbeiführt."

Wenn die das heute noch so genau wissen, dann habe ich es gut gemacht, dass ich damals aus dem Nähkästchen geplaudert habe. Danach ging die Feier ja erst richtig los. Hätte nicht gedacht, dass das noch so hängen geblieben ist bei den Früchtchen. Wüsste ja zu gerne, was die Immerfroh vorhin mit dem Novemberblues meinte. Muss sie nachher noch mal beiseite nehmen und fragen. Über den alten Haudegen ist auch noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Zu guter Letzt möchte ich mich bei euch allen bedanken, dass ihr einverstanden gewesen seid das Klassentreffen nicht im Sommer zu veranstalten, wie es ja eigentlich richtig gewesen wäre.

Als ich von Herrn Miesepimpel erfuhr, dass seine geliebte Lieselotte nicht mehr an seiner Seite ist, habe ich mich gefragt, wie er heute damit klarkommt, dass er ein Novemberkind ist. Früher hat er uns den letzten Nerv damit geraubt, dass er immer am ersten November im Klassenraum stand und sagte: „Kinder, ich bin aufgestanden, ich habe die Gardinen aufgezogen, ich habe mich angezogen und gefrühstückt UND ich bin vor die Tür gegangen.

Es gibt Tage im Leben eines Mannes, da ist es besser im Bett zu bleiben, die Decke über den Kopf zu ziehen und so zu tun, als existiere die Welt und ihre Bedürfnisse nicht. Heute ist so ein Tag. Erster November und ich habe Geburtstag. So ein Scheiß."

Am Tag danach ist er immer in die Klasse gekommen und sagte: „Kinder, ich entschuldige mich. Sowohl für gestern als auch für heute. Meine geliebte Lieselotte hat gestern eine Party für mich geschmissen. Alkohol bekommt mir nicht und deshalb jetzt, Bücher raus und freie Beschäftigung - aber leise!"

Es kam der Gedanke auf, den er bei der Abschlussfeier in unsere Köpfe gepflanzt hat. Aus unseren Gesprächen weiß ich, dass ich nicht die einzige bin, deren Leben sich danach oft an diesen wenigen Worten ausgerichtet hat.

Du hast im Leben zwei Möglichkeiten!

Und deshalb bitte jetzt - alle Wunderkerzen an!"

Happy Birthday to you,

happy Birthday to you,

happy Birthday alter Haudegen,

happy Birthday to you.

Ende


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top