Verstehen

Es kostet mich einiges an Überwindung und doch ziehe ich den Hörer nach rechts um den Anruf anzunehmen. Wozu noch warten?

"Hey", begrüße ich ihn mit belegter Stimme.
"Hey. Ich muss mit dir über was reden", meint Tua ohne Umschweife und ich fahre mir übers Gesicht, bevor ich die Heizung aufdrehe, und mich wieder zurück auf mein Bett pflanze. "Hast du gerade Zeit?"

Das Laken wirft Falten, die ich ein paar mal glatt zu streichen versuche, doch es will mir nicht gelingen und meine Bewegungen werden hektischer. Tua kriegt das mit, ich bin mir sicher, er sagt aber nichts dazu. Kein Laut dringt über seine Lippen.

Wieso nur schaffe ich das nicht? Das ist doch nicht so schwer!

Wohl nur zu schwer für mich ... – Ich scheitere.

Als ich das schließlich realisiere, bleibt meine Hand reglos auf dem rauen Stoff liegen. Bloß um im nächsten Augenblick blitzartig hochzuschnellen. Ich decke das Mikro an meinem Handy ab, weil ein herzzerreißendes Schluchzen aus mir heraus sprudelt. Könnte er es hören, wer weiß, ob er mich noch bitten könnte um das, worum er mich bitten wird.

"Jep", antworte ich ihm schließlich.

Tua setzt an, unterbricht sich dann jedoch. Mir schlottern die Knie. Ich möchte nicht offiziell Schluss machen. Er auch nicht. Aber da liegt ein Scheiß-Findling zwischen uns, und wir können weder drüber klettern noch drum herum gehen. Beides haben wir schon versucht.

"Möchtest du zuerst?", fragt er mich vorsichtig.
"Nein. Sag du erstmal."

Eine kleine Pause entsteht, in der er schluckt. So deutlich, dass das Geräusch mitaufgezeichnet wird.

"Lass uns Schluss machen, Iara."

Zischend ziehe ich die Luft ein. Und mein Herz setzt einen Schlag aus. Es schmerzt höllisch, aber zu meiner Überraschung nur so kurz wie ein Pflaster abzuziehen. Er hat es ausgesprochen. Ich bewundere seinen Mut.

"Ich wollte dir gerade dasselbe vorschlagen", offenbare ich ihm mit belegter Stimme. "Ich weiß nur nicht, ob ich das gekonnt hätte."

"Bitte glaub nicht, dass das einfach für mich gewesen wäre ...", raunt er. "Ich mach gerade 'ne Menge durch und ich will dich da nicht wieder so mitreinziehen wie nach dem Tod meines Vaters." Damit ist es ihm offenbar ernst.

"Heißt das, wir sehen uns nicht mehr?", hake ich nach. In mir zieht sich automatisch alles zusammen. Meine Eingeweide drängen sich um mein Herz, wollen es schützen; und drohen, es dabei zu zerquetschen.

"Darüber wollte ich auch noch mit dir reden. Ich -" Er stoppt sich und fährt dann fort. "Wir müssen das nicht an die große Glocke hängen. Klar, sagen wir's unseren Freunden, auf jeden Fall." Mein schlechtes Gewissen meldet sich, als ich an Mika und Pari denke. Aus irgendeinem Grund, den ich noch nicht zu fassen kriege, würde ich ihnen die Trennung lieber verschweigen. "Aber Bekannte kann man vielleicht im Ungewissen lassen. Du musst natürlich nicht lügen, so ist das nicht gemein-"
"Was zwischen uns vorgefallen ist, kann ich eh keinem Bekannten erklären. Um das zu kapieren, muss man schon dabei gewesen sein", schnappe ich ärgerlich und will mich gleich darauf entschuldigen. Doch Tua reagiert verständnisvoll.

"Da hast du recht ... Ich würde dich trotzdem gern sehen, wenn das okay für dich ist. Nicht wie in einer Beziehung, es ist schon eine richtige Trennung. Ich könnte es nur nicht ..."

Nicht ertragen.

"Ich will dich auch sehen, trotzdem", funke ich dazwischen. "Aber ...", schleicht sich ein leiser Einwand über meine Lippen. "Können wir vielleicht nicht ...?"
"Ich glaube, Sex sollte tabu sein solange", beantwortet er meine Frage, ohne dass ich sie stellen musste.
"Ja", stimme ich ihm zu. Egal, was er vorhin noch behauptet hat: Irgendwie kann er meine Gedanken lesen. "Ja, finde ich auch."
"Okay."

"Okay."

"Vergiss nicht, dass ich dich liebe, Iara."

Ich balle die Hand instinktiv zur Faust. Nicht, weil ich an irgendwas meine Wut ablassen will. Eher würde ich mich liebend gern an irgendwas festkrallen, oder besser irgendjemandem - Tua.

Doch da ist nichts, nur Luft und meine Fingernägel, die sich in meinen Handteller bohren.

"Ja, ich –" Die Worte bleiben mir im Hals stecken.

"Du musst nix erwidern, auch wenn du jetzt vielleicht denkst, du solltest was dazu sagen. Ich verstehe, wenn das noch nicht geht."

"Ich brauche ein paar Tage für mich", krächze ich.
"Das ist in Ordnung. Bis bald?"
"Bis demnächst", verabschiede ich mich dumpf und als ich den mahnenden Ton höre, der ankündigt, dass der Anruf abgebrochen wurde, füge ich atemlos hinzu: "Ich liebe dich."

Eine Träne kullert mir die Wange runter und fällt aufs Display, wo ich ein Foto von uns als Sperrbild eingestellt habe. Es ist mein Lieblingsbild. Wir küssen uns darauf und seine Hand schiebt mein Top ein Stück hoch. Mein unterer Bauch liegt bereits frei.

Die Momentaufnahme ist in der Wohnung von Luk und Aleks entstanden. Wir haben die kleine Coco gebabysittet.
Als Aleks uns gesehen hat, musste sie ein Foto schießen, meinte sie. Der Anblick wäre zu ästhetisch, zu vollkommen gewesen, um die Kamera unverrichteter Dinge wieder sinken zu lassen.
Wenn ich mir den Schnappschuss heute angucke, verstehe ich sie.
Tua hat mich vervollständigt, und ich habe ihn umgekehrt komplettiert. Auf dem Foto ist das deutlich zu sehen.
Heute ist von der Kraft, die wir darauf ausstrahlen, nichts mehr übrig.

Ich trockne meine nassen Wangen mit dem Handrücken. Die Leere in mir ist so groß, dass sie mir Angst macht, aber ich raffe mich auf, marschiere rüber zum Fenster und kippe es an.

Draußen regnet es. Ich schließe die Augen und lausche dem Prasseln. Und während Tropfen für Tropfen vom Himmel fällt, erinnere ich mich daran, wie sie im ewigen Kreis wieder aufsteigen und zu Wolkendunst werden. Regentropfen legen in der Regel einen ganzen Kilometer zurück, bevor sie auf Erde treffen.

Tarik hat einmal zu mir gesagt, ich wäre wie Regen ... Und genau jetzt enthalten seine Worte etwas so Warmes, Tröstendes, dass ich das Gefühl habe, das alles endlich zu verstehen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top