Straßenlaternenstrobo
Tuas Sicht, viel Spaß!
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Straßenlaternenstrobo - Das Wort schießt mir durch den Kopf in Ultraschallgeschwindigkeit. Sofia bei Nacht wirkt wie eine Traumsequenz. Neben mir regt sich sich Jenn auf dem Beifahrersitz. Sie hat meinen Hoodie als Kissen benutzt, damit ihr Kopf nicht immer wieder gegen die kalte Scheibe knallt im Schlaf. Jetzt blinzelt sie und ich sehe, wie die Müdigkeit in ihren Augen vertrieben wird von wachem Glanz.
"Krass", flüstert sie und es vermischt sich mit den Klängen von Frank Oceans White Ferrari. Wir fahren an der hell erleuchteten Alexander-Newski-Kathedrale vorbei, ich lenke den Wagen wie in Trance durch den Kreisverkehr, doch immer mal wieder sehe ich zu meiner besten Freundin. Ich könnte schwören, ich hab sie noch nie so beeindruckt von irgendwas gesehen.
Den ganzen Tag waren wir in den Bergen unterwegs und haben mehr geschwiegen als miteinander geredet. In ihr arbeitet es schon seit wir hier angekommen sind, aber heute ist es extrem. Nichts hab ich gehört von ihr, nur das Geräusch der Milliarden Zahnräder in ihrem Inneren. Und jetzt ist es verstummt.
"Willkommen zurück", sage ich und fange ihr Lächeln auf.
"Das ist so schön", murmelt sie.
Ja, das ist es. Wir lassen die Kathedrale hinter uns, biegen stattdessen in die Straße ein, in der unser Hotel liegt.
"Ich will auf die Dachterrasse", meint Jenn unvermittelt und zieht sich meinen Hoodie über den Kopf. "Kommst du mit?"
Eine knappe halbe Stunde später sitzen wir an einem Tisch auf der berühmt-berüchtigten Dachterrasse des Hyatts und überblicken die goldene Metropole. Jenn mit ihrem Scotch in der Hand, ich mit einem No Gin & Tonic.
"Heute hast du gar nicht geredet", spreche ich sie auf ihr Schweigen an.
"Hab Tarik vermisst", gesteht sie, und es fällt ihr sichtlich schwer.
"Jenn." Ich warte ab, bis sie mich anschaut. "Es ist okay, ein Stück deiner Unabhängigkeit loszulassen. Das macht dich nicht weniger frei."
Sie trinkt einen Schluck.
"Ich weiß nicht, ob ich das wert bin. Dass er mich so liebt, mich sogar heiraten will ..."
"Wer außer dir stellt das infrage?", entgegne ich und nehme selbst einen tiefen Zug von meinem Drink.
"Gibt viele, die das infrage stellen würden."
"Irgendwer dabei, den du zu deinen Freunden zählst? Oder nicht?"
Sie schüttelt den Kopf.
"Nicht."
"Nicht", wiederhole ich und lasse eine kurze Pause. "Du hast alle Antworten, die du brauchst. Mach dir nicht alles mit so dummen Fragen kaputt. Sieh dir dein Leben an: Du hast einen Freund, der dich so liebt, dass er dich heiraten will. Coole Menschen mögen dich, uncoole halten sich von dir fern. Du hast im Leben alles erreicht, was ich immer für mich wollte. Dein Paradies ist direkt um die Ecke."
Auf Jenns Lippen legt sich wieder dieses echte Lächeln wie vorhin im Auto.
"Du bist richtig gut darin, einen aufzubauen", macht sie mir ein Kompliment. "Du musst da nicht mal drüber nachdenken, du sagst einfach das Richtige. Beineide ich dich manchmal drum." Sie leert ihr Glas und stellt es auf dem Tisch ab. Sofort bildet sich ein feuchter Ring am Rand. Der letzte Kellner, der schon eine Weile mit Aufräumarbeiten zugange ist, erinnert uns freundlich daran, dass die Rooftop-Bar gleich schließen wird.
"Ich will nicht gehen", wispert Jenn, als er weg ist. "Ich will nicht schlafen."
"Ich auch nicht", pflichte ich ihr bei und schaue mich um. Der Kellner ist weg. Nach drinnen verschwunden. Auf einem Tisch, der unter einer Art Carport steht, liegen die ganzen Karten für die Bargäste. Die weiße bodenlange Tischdecke sticht mir förmlich ins Auge durch das Dunkel der Nacht hindurch. "Machen wir was Verrücktes", schlage ich vor. Jenn folgt meinem Blick. Sie steht auf und wir eilen zu unserem Versteck. Ich halte das Tischtuch an einem Zipfel hoch, sodass sie problemlos drunterkriechen kann und folge ihr. Wir sitzen dort und schweigen. Jenn greift nach meinen Händen - ihre sind schwitzig vor Aufregung. In meinem Kopf summt es schon wieder White Ferrrari. Nach und nach gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich sehe ihre funkeln. Mit demselben Glanz, den alles Verbotene reflektiert.
Schritte nähern sich, Stimmengewirr der Schichtarbeiter, die sich voneinander verabschieden. Ich verstehe Bulgarisch in Fetzen, wenn ich mich anstrenge wie jetzt, und muss unwillkürlich grinsen, denn wir werden nicht auffliegen.
"Sie gehen", flüstert Jenn leiser als notwendig.
Ich erwidere nichts, boxe triumphierend gegen den Stoff und klettere aus unserem Unterschlupf. Jenn reiche ich eine Hand und sie folgt mir an die frische Luft. Die Bar ist vollkommen leer und still. Wie magisch angezogen von der Szenerie trete ich ans Geländer und schaue runter auf die Straßen, wo die letzten Feierlustigen ihre Runden drehen. Die Berge, die wir heute erklommen haben, sind Schatten in der Ferne.
Neben mir knipst es. Als ich zu ihr sehe, hat Jenn ihr Handy gezückt und widmet sich dem Schnappschuss.
"Sorry, war zu schön", erklärt sie. "Sonst frag ich zuerst."
"Darf ich?", bitte ich sie. Sie zeigt mir das Bild und ich muss ihr zustimmen. Ich sehe gut aus darauf, angestrahlt von goldenem Licht hebt sich meine Gestalt gegen die saphierblaue Nacht ab. Dieser Ausdruck muss ganz oft in meinen Augen liegen. Es ist dieses Gefühl, nach dem ich in der Musik schon so lange suche und das ich scheinbar doch nie ganz einfangen kann. Für Jenn ist es nur ein Schnappschuss. Nur ein ... Moment ...
"Findest du dich so hässlich drauf, dass ich das löschen soll oder was?", reißt mich die Stimme meiner besten Freundin in die Gegenwart zurück.
"Nein, bloß nicht", wehre ich lachend ab. "Sorry, ich war so abwesend, weil ... Weißt du, ich mach mich immer wahnsinnig damit, das abbilden zu wollen. Das, was man auf diesem Foto sieht. Musikalisch versuch ich genau das, seit 500 Jahren. Und dann machst du ein Foto, und darin ist alles."
"Das liebe ich am Fotografieren. Fotografieren ist effektiv. Es ist immer Kunst, wenn du nur den richtigen Moment erwischst. Tonnen an Vorbereitung und Nachbearbeitung sind nie das Entscheidende. Das Entscheidende ist immer nur der Moment. Man muss spüren, wenn er eine Qualität hat, und dann musst du ein Bild machen. Es ist nicht immer ein intensiver Moment, verstehst du? Wir sind hier nur gerade, es passiert nix. Aber das ist quality time für uns." Sie lächelt mich an und ich erwidere es. "Quality time ist die beste Zeit um Fotos zu machen. Scheiß auf Belichtungszeiten, ästhetische Bildkomposition und all das. Wenn quality time ist, bin ich eine gute Fotografin und du ein gutes Motiv."
"Du bist echt einmalig", lasse ich sie wissen und sie knufft mich leicht.
"Du doch auch, Großer. Sonst würden wir uns nie so gut verstehen."
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