Rennen
Ich habe wahllos Klamotten in den Koffer geschmissen, den ich hinter mir herziehe. Am Hauptbahnhof treibt sich eine Menge Gesindel, um diese Uhrzeit rum, aber die Zugtickets waren günstig. Bewaffnet mit kochend heißem Kaffee und bösen Blicken, die jeden, der mir auch nur einen Meter zu nah käme, in Flammen aufgehen lassen würden, bin ich unterwegs zum Gleis 4, wo der IC nach Braunschweig abfahren wird. Dass ich mir Urlaub im März genommen habe, hängt mit Tuas Geburtstag zusammen. Ursprünglich hatte ich geplant, irgendwas für ihn zu organisieren. Heute steht fest, selbst wenn ich es versucht hätte - ich hätte keine Party planen können. All meine Kraftreserven sind restlos aufgebraucht.
Ich analysiere die Sitzplatznummern, die auf der Gepäckablage vermerkt sind, checke auf Reservierungen, und finde schnell ein freies Abteil. Mit Musik auf den Ohren trinke ich meinen Cappuccino in langsamen, großen Schlucken. Die Augen halte ich geschlossen, hier im Zug gibt es sowieso nichts zu sehen. Erst als ich eine Nachricht von Stean bekomme, löse ich mich aus meiner Trance.
Stean: Alles pünktlich bei dir?
Iara: Soweit ...
Stean: Wie geht's dir?
Iara: Pari und Mika denken, ich bin bei Tua. Sie waren nicht da, als ich raus bin. Ich kämpfe mit meinem schlechten Gewissen.
Stean: Du frisst es ja nicht in dich rein, du willst nur mit den beiden nicht über eure Krise sprechen, und das ist okay. Alles in deinem Tempo, Misty.
Iara: Ich bin so froh, wenn ich endlich da bin und du mich in den Arm nimmst.
Stean: Das mache ich, versprochen.
Zeit vergeht, und wieder mal weiß ich gar nicht, wie viel. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder, kann nicht sagen, ob ich nur geblinzelt oder vielleicht doch geschlafen habe. Wenigstens ein Mensch sollte erfahren, wo ich wirklich bin. Ich scrolle durch meine Kontakte und wähle Tariks Nummer.
"Hey Sonnenschein."
"Hey Teddy."
Tarik erkennt sofort an meiner kratzigen Stimme, dass irgendwas nicht in Ordnung ist.
"Was ist los?"
Ich starre hinaus. Wer durch Brandenburg prescht, der sieht eine Menge Wald. Oder Gehölz. Verwaschene Verästelungen, die zu bloßen Schemen abmagern, wenn die Augen an ihnen kleben bleiben wollen.
Ich presse meine Hand gegen die kalte Scheibe des Zuges und informiere ihn: "Ich sitze im ICE nach Braunschweig."
"Du besuchst Stean?" Er ist überrascht, ich kann es ihm nicht verübeln. Bis gestern wusste ich ja selbst nicht, dass ich mich Hals über Kopf in dieses Abenteuer stürzen würde. "Für den Geburtstag bist du aber zurück, oder?", hakt er nach.
"Nein. Ich bleibe für einige Tage."
"Shit, wie heftig habt ihr denn gestritten?"
"Wir haben nicht gestritten ... Wir haben uns getrennt." Ich schlucke. "Es ist aber nicht so schlimm, wie es klingt", schiebe ich kleinlaut hinterher.
Tarik schweigt einige Sekunden.
"Klingt richtig scheiße", versetzt er dann.
"Okay, das ist es", gebe ich zu. "Aber es ist nicht so, dass es direkt alle wissen müssen. Wir lieben uns noch. Damit hat es nichts zu tun." Beim Sprechen habe ich mich vorgelehnt, mein Körper ist mal wieder so angespannt, als müsste ich jede Sekunde lossprinten. Doch Tarik sagt etwas, das dafür sorgt, dass ich zurück in meinen bequemen Sitz sinke.
"Das war die richtige Entscheidung, Iara."
"Das kann ich fühlen", bestätige ich es leise, und die Flügel meines Herzens müssen wieder einmal Federn lassen.
"Jenn weiß es wahrscheinlich schon", fährt Tarik fort. "Tua hat sie gestern zu sich eingeladen. Sie hat bei ihm gepennt und sich nicht mehr bei mir gemeldet."
"Dann kannst du mit jemandem darüber reden. Das ist gut. Ihr könnt Meinungen austauschen."
Mein bester Freund seufzt nur.
"Irgendwer, der nichts davon erfahren soll?"
"Pari und Mika", antworte ich wie aus der Pistole geschossen. "Außerdem Bastian, dem will ich es selbst erzählen. Sonst geht er auf Tua los."
"Was ist mit Maurice, Niko, Sinan?", fragt er nach seinen engsten Freunden.
"Schätz es bitte selbstständig ein, ich kann das gerade nicht."
"Du klingst wie meine Mom früher", murmelt er plötzlich und ich halte den Atem eine Sekunde lang an. Auch ich sehe die Parallelen zwischen mir und Khepri, seiner Mutter. "So erschöpft", präzisiert er dennoch.
Draußen ist das schwarze, wirre Geäst kahler Bäume dem klaren Grau der brachliegenden Felder gewichen.
Ich weiß nicht, ob ich nicht genau wie Khepri an jemandem hänge, der mich runterzieht. Vielleicht sehen wie bei ihr damals alle andern, was ich selbst nicht sehen kann.
Von dem Moment an, in dem wir zusammen kamen, habe ich nichts als Liebe für Tua empfunden.
Wenn ich heute aber Seite an Seite mit ihm durch die tiefsten Täler hetze, als ginge es dabei um Leben und Tod, kann ich mir nicht länger einreden, dass ich schwebe. Denn inzwischen weiß ich, dass er rennt. Tua rennt. Er rennt, um von A nach B zu gelangen; er rennt weg vor sich, vor seinen Gefühlen.
Und ich bin immer mitgerannt.
Ich hatte nie die Puste, ihm all die Fragen zu stellen, die mir unter den Nägeln brennen. Bis an meine äußersten Grenzen bin ich jetzt gegangen.
Es ist unbeschreiblich: Wie der Sprung vom Zehner. Du gehst den Schritt, du fällst - du fliegst!
Aber sobald dein Körper das Adrenalin abgebaut hat, wirst du dir deiner eigenen Schwäche gewahr.
Dein Horizont ist weiter denn je, schließlich bist du geflogen, hast getan, wovon du immer geglaubt hast, es wäre dir ganz und gar unmöglich.
Und dann bist du gefallen ... Zurück in die Ordnung, unser Schicksal.
Ich habe nichts als Liebe für meinen Freund empfunden. Von der ersten Sekunde an, bis zu diesem Augenblick.
Es fühlt sich schrecklich an. Und doch ist mir nur passiert, was uns allen unweigerlich passiert: Ich habe inzwischen vergessen, welche Sekunde die erste war.
Vielleicht war es, als die Tür des Fahrstuhls bei Universal aufging und ich zum ersten Mal in seine großen Augen geblickt habe. Vielleicht, als ich ihn das erste Mal habe lachen hören. Sein Lachen ist wirklich wunderschön. Oder als er der Einzige war, der sich nicht von mir hat wegschicken lassen, bei dem großen Besäufnis nach der Trennung von meinem Ex. Vielleicht war es, als wir uns geküsst haben, weil wir beide die Finger nicht mehr voneinander lassen wollten. Ich dachte damals, es würde anstrengend werden, ihn zu meiden; dass ich das nicht kann. Das ist auch nicht falsch. Anstrengender ist es bloß, Tua zu lieben.
Das Schlimmste aber ist für mich, ihn so zu vermissen. So wie ich es tue.
Ich renne immer weiter, bis ich fliege - dann falle. Tua genauso.
Wer von uns beiden stirbt wohl früher an Kreislaufversagen, weil ihm das Herz explodiert?
Nichts als Liebe empfinde ich. Denn Liebe ist zu einem Synonym für alles geworden in unserer Beziehung. Für Leid, Lust, Lektionen - für das Leben selbst.
Ich will ihn ... Aber will ich die Schuld, die er sich aufgeladen hat?
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