Perspektivisch
Bei Tarik und Jenn riecht es nach der klammen Wäsche, die zum Trocknen in ihrer Küche steht und nach Zitronenmelisse, Basilikum und anderen frischen Kräutern, die in Töpfen auf ihrem Balkon wachsen.
Er steht am Herd, gebeugt über einen Suppentopf in dem Chili con carne auf niedriger Stufe vor sich hinköchelt. Dass er mich bekocht, war so gar nicht geplant. Jenn ist noch unterwegs, sie arbeitet heute nach Längerem mal wieder als Fotografin. Ein paar Newcomer haben sie für ein Shooting gebucht. Dabei sollen Bilder für das Booklet ihres Debüt-Albums entstehen. Eigentlich wollte Tarik sie mit dem Essen überraschen, nun verspätet sie sich aber doch und wir sollen allein anfangen. Das hat er mir aus ihrer Nachricht vorgelesen.
"Nimmst du das Baguette aus dem Ofen?", bittet er mich. Ich schiebe meine Teetasse über den grob gemaserten Holztisch weit weg von mir, umrunde die Kücheninsel und öffne die Ofenklappe, um das Brot rauszuholen. Es duftet herrlich. Vorhin hat er es mit einer Marinade bestrichen, einem Mix aus Butter, Olivenöl und mit im Mörser zerriebenem Anis.
"Du solltest öfter kochen", meine zu ihm. "Darin bist du wirklich gut."
"Das geht nur, wenn Ruhe in meinem Kopf herrscht", erwidert er. "Wieso kochst du nicht häufiger?"
"Ich koche öfter als du", lache ich. "Zwei- bis dreimal pro Woche. WG-Leben, schon vergessen?"
"Ihr seid da anders als die typische Berliner WG", gibt er mit felsenfester Überzeugung in der Stimme zurück.
"Wie läuft es mit Jenn?", wechsle ich rasch das Thema.
"Sie hat sich eingekriegt, sonst würde ich das hier auch nicht tun. Die Hochzeitsvorbereitungen nerven sie noch immer, ich hab schon überlegt, ob ich nicht lieber mit ihr durchbrennen sollte. Nur sie und ich, ab nach Las Vegas."
"Und uns lasst ihr alle hier oder was?" Ich zeige ihm einen Vogel. "Wenn du glaubst, dass du mich an einem der wichtigsten Tage deines Lebens nicht um dich haben wirst, dann hast du dich geschnitten."
"Eine Sache, über die wie uns unterhalten haben, war die Gästeliste", entgegnet er plötzlich scharfzüngig. "Und wir wissen nicht mal, ob wir Tua und dich gerade überhaupt an einen Tisch setzen können. Geschweige denn nebeneinander." Ich schaue ihn aus großen Augen an. Tarik schüttelt lediglich den Kopf. "Hör auf damit, mich für irgendwas an den Pranger zu stellen, was ich nicht mal getan habe."
"Okay", erwidere ich leise.
"Tut mir leid", entschuldigt er sich bald. "Ich wollte dich nicht so angehen, ich hab schlecht geschlafen."
"Warum, was war los?"
Tarik nimmt zwei Schüsseln für uns aus dem Schrank. Ich schnappe mir derweil das Besteck und bringe es rüber, um den Tisch damit zu decken. Das Brot ist jetzt auch soweit abgekühlt, dass ich es in Scheiben schneiden kann.
"Ich hab mich hin und her gewälzt. Irgendwann bin ich raus auf den Balkon, um eine zu rauchen. Ich wollte Jenn nicht wecken, sie hat es aber mitbekommen. Wir haben dann geredet, mehrere Stunden. Es hat mich so getriggert, dass sie mich zuletzt voll allein gelassen hat. Als würde es sie nicht wirklich jucken, wie es mir geht, obwohl sie das Wichtigste für mich ist. Ich hab mich genau gefühlt wie mit siebzehn ..."
Er hat mir von dieser Phase in seinem Leben erzählt. Vergessen von seinen Eltern hat er nach Aufmerksamkeit gesucht, und sie nur dann bekommen, wenn er Scheiße gebaut hat. Dann haben sie alle gejohlt. Nur mit Niko, Maurice und Sinan war das anders für ihn. Die Jungs haben sich gegenseitig hochgezogen, sind zusammen gewachsen. Der kriminelle Anteil in Tarik wurde geweckt durch dieses Gefühl, nicht gesehen zu werden, gar nicht bemerkt. Selbst von denen nicht, an denen ihm am meisten lag.
"Konntet ihr euch aussprechen?", frage ich sanft.
"Ja. Sie hat sich auch wie damals gefühlt. Beobachtet von mir, wie damals von allen, die sich Sorgen um sie gemacht haben. Wir sind irgendwann schlafen gegangen. Ging. War eben nur 'ne kurze Nacht."
"Ziemlich blöd gelaufen. Aber immerhin konntet ihr das lösen", sage ich.
"Ja, für den Moment. Die nächste Krise kommt sowieso. Als ich ihr den Antrag gemacht hab, musste ich auch daran denken. Klingt jetzt bescheuert und wie kein gutes Zeichen, wenn ich das so sage, aber in Wahrheit ist sie eben die einzige Frau, mit der ich vermutlich echt alles durchstehen kann."
"Vermutlich", wiederhole ich. Hinter diesem einzelnen Wort steckt so viel. Ich finde es auch wahrscheinlich, dass Tua und ich nochmal von göttlicher Hand zusammengeführt werden, aber ich will nicht auf Wahrscheinlichkeiten bauen, wie Tarik es bei Jenn tut. "Ich bin immer da für dich, das weißt du", versichere ich ihm nochmal und Tarik nickt.
"Lass essen", schlägt er vor.
Wir setzen uns hin, die Stuhlbeine kratzen über den Boden.
"Wie geht's dir gerade?", fragt er mich und nimmt sich vom Baguette.
"Ich ... versuche eine andere Perspektive einzunehmen", antworte ich zögerlich. "Es ist wichtig, dass ich ein stückweit zurück zu meinem Lebensmut finde. Ich bin echt sehr tief gegangen mit Tua, und seine Depression hat sich irgendwann zwischendurch ja sowas wie verselbstständigt. Wenn ich ehrlich bin, dann tut es auch nicht mehr so weh jetzt nach der Trennung wie meist davor. Er ist mir so aus dem Weg gegangen, nachdem sein Vater gestorben ist. Ich glaube, da ist mir erst wirklich klar geworden, wie sehr ihn dieser Schicksalsschlag im Griff hatte. Viel stärker, als dass ich es je hätte ausgleichen können. Der Verlust hat alles bei ihm hochgeholt. Und bei mir hat es dann eine Menge hochgeholt, als er sich verschlossen hat. Ich hab mich irgendwie zurückgesetzt gefühlt, so als hätte er mich damit an meinen angestammten Platz verwiesen. Als wäre ich nur zu guten Zeiten erwünscht. Zu schlechten Zeiten hat er versucht, jedes Leid von mir fernzuhalten und mich damit eigentlich nur allem noch schlimmer ausgesetzt, weil er sich nicht kontrollieren konnte. Ich glaube, ich habe ein Recht darauf zu erfahren, wie anders die Dynamik in einer Beziehung auch sein kann. Ich weiß nicht mit wem, ich weiß nicht wann, und ich weiß ganz bestimmt nicht, ob Tua und ich als Paar zu eurer Hochzeit kommen oder ob wir an weit voneinander entfernten Tischen sitzen müssen - Aber ich weiß, dass ich das hinkriege und mir selbst wieder Leben einhauche."
"Das weiß ich auch, Sonnenschein. Aber ich find's schön, dass du das so von dir aus sagen kannst. Jetzt iss, bevor dein Chili kalt wird." Er lächelt. Ich erwidere es und tunke meinen Löffel in die Suppe.
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