Nur ein Traum
Nach der Nacht im Bunker vergeht die Woche wie im Zeitraffer. Ich habe kaum begriffen, dass schon Freitag ist, aber als Mika mich spontan fragt, ob ich Lust habe, mit ihm, Kitty und ein paar von ihren Freunden feiern zu gehen, sage ich zu. Es kann mir nur gut tun, mir die Seele aus dem Leib zu tanzen, als würde man mich exorzieren. Dann bin ich vielleicht endlich geläutert.
Nicht nur, dass Pari entgegen all meiner Warnungen mit Dag nach Paris abgehauen ist, um dort das Wochenende mit ihm zu verbringen ... Oh, nein. In der vergangenen Woche hatte ich viele weirde Träume, in denen ganz besonders oft Kenny aufgetaucht ist. Nach dem Aufwachen habe ich jedes Mal Maurice verflucht, weil er alles daran gesetzt hat, dass ich diesem Mann begegne, den Universal eingestellt hat, um mich zu ersetzen. Maurice drauf ansprechen, wollte ich aber nicht. Er würde sich bloß darüber lustig machen, dass ich ihm jetzt quasi schon vorwerfe, er hätte seine Finger bei meinen Träumen im Spiel. Es war meine Entscheidung, zu dieser Bunker-Party zu gehen. Wenn hier einer schuld ist, dann bin ich es.
Das Gute ist: Kenny nimmt seit einigen Tagen so viel Platz in meinem Kopf ein, dass ich kaum noch an Tua denke.
Wie tief der Stachel allerdings noch sitzt, merke ich deutlich, als ich an diesem lauen Freitagabend auf einmal Jess gegenüberstehe. Tuas ehemaliger F+.
Sie erkennt mich offensichtlich auch. Ich sehe in ihren Augen, dass sie genau weiß, wann sie mich das letzte Mal gesehen hat. Auf Hannes' Geburtstagsparty vor einigen Monaten. Als Tua und ich noch zusammen waren.
Automatisch greife ich nach Mikas Hand und drücke sie. Er dreht mir den Kopf zu. Sein fragender Gesichtsausdruck entgeht auch dem Rest der Gruppe nicht und die vielen Augenpaare, die sich auf uns richten, machen mich nervös.
"Kann ich kurz mit dir reden?", frage ich ihn schnell, trete ein paar Schritte zurück und schlucke, denn Kitty mustert mich skeptisch. Sie hat mir noch immer nicht verziehen, dass ich mich haltlos besoffen habe an dem Abend, an dem wir eigentlich zu Hause entspannt in Mikas Geburtstag reinfeiern wollten. Wir vier, er, sie, Pari und ich. So hat ihr Freund sich das gewünscht. Und dann hab ich alles kaputt gemacht. Ich weiß genau, dass das hier auch ein Friedensangebot ihrerseits ist. Sie will mich in ihren Freundeskreis einbinden, um so ihren guten Willen zeigen. Schließlich bin ich Mika wichtig, und sie liebt ihn sehr. Deswegen respektiert sie unsere Freundschaft, obwohl sie kein großer Fan von mir ist.
Mika lässt sich von mir wegziehen. Nicht ohne seiner Freundin vorher ermutigend zuzunicken. Kitty nickt ebenfalls und lenkt die Aufmerksamkeit der Gruppe zurück auf die restlichen Getränke vom Späti, die wir zum Vorglühen eingesackt haben und die verteilt werden wollen.
"Kennst du sie?", frage ich meinen Kumpel und nicke dabei unauffällig in Jess' Richtung. Sie wirft mir immer wieder verstohlene Blicke zu, ist sonst aber ganz im Gespräch mit Kitty und den anderen Feierwütigen, mit denen wir heute ursprünglich um die Häuser ziehen wollen. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher, ob ich das noch immer möchte.
"Das ist Jess", antwortet Mika. "Kitty hat sie, glaube, auf 'nem Konzert kennengelernt." Er kratzt sich ratlos am Kinn und schaut mir suchend ins Gesicht, versucht schlau zu werden aus dem ängstlichen Flackern in meinen Augen.
"Garantiert auf seinem Konzert ...", flüstere ich. Mika hört es nicht.
"Hast du Beef mit ihr?" Er wirkt besorgt, legt mir seine Hand auf die Schulter. Ich weiche geübt seinem Blick aus.
"Nein. Aber sie ist -" Mir bleibt im Hals stecken, was Jess ist.
Mika lässt mich erst schweigen, dann verdreht er doch irgendwann die Augen.
"Raus damit", fordert er mich streng auf.
"Sie ist Tuas frühere Freundschaft-Plus", sage ich tonlos.
Mikas Mund öffnet sich, doch es dauert eine Weile, bis er etwas erwidert.
"Das ist nicht dein Ernst, dass du sie deswegen so schräg anglotzt, oder?" Fassungslos schüttelt er den Kopf über mich. "Du bist verrückt, wenn das dein Problem ist. Verrückt!", wiederholt er mit Nachdruck. "Iara, ich hab dich lieb, glaub mir das, aber du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank. Mann, du bist nicht mehr mit Tua zusammen! Seit Monaten. Akzeptier's doch endlich. Ich kann nicht länger mit ansehen, wie du diesem Typen hinterher heulst. Der hat dich zeitweise wie Dreck behandelt. Und zu deiner Info: Ich mag Jess. Jess ist 'ne coole Freundin von Kitty, ich versteh mich gut mit ihr. Ich hab mich voll gefreut mit ihr und den anderen feiern zu gehen heute. Während Pari mit Dag rüber nach Frankreich fliegt und du wie ein Schlosshund jaulst wegen deinem Ex, hat Kitty organisiert, dass ich wenigstens einen Abend mal abschalten kann. Unter anderem mit Jess. Und mit dir. Und jetzt steh ich hier wieder und babysitte dich. Du bist eifersüchtig auf 'ne Frau, die vor dir da war. Wie immer. Wann hörst du endlich auf damit?" Er sieht sich um nach der Gruppe und entfernt sich noch weiter von den Leuten. Ich folge ihm, mit gesenktem Haupt. Wie die Kuh, wenn sie zur Schlachtbank geführt wird. Es stimmt. Alles, was er sagt. Ich halte Jessicas Gegenwart nicht aus, weil sie vor mir da war. Weil sie Tua anders kennt, als ich ihn kenne. Weil ich den Gedanken nicht ertrage, dass sie ihn vielleicht sogar ein stückweit besser kennt.
"Willst du wissen, was ich dir nicht erzählt habe?", reißt Mikas Stimme mich zurück in die Gegenwart. Ich nicke schwach, obwohl sich vor meinem inneren Auge gerade eine riesige Collage aus Erinnerungen an meine Beziehung in sämtliche Himmelsrichtungen ausbreitet.
"Ich war schon vor 'ner Weile beim Urologen. Wegen der ganzen Drogen, die ich konsumiert habe, kann ich keine Kinder mehr zeugen." Vor Schock starre ich ihn mit offenem Mund an. Seine grünen Augen glänzen matt. "Und während ich versuche, irgendwie auf diese Scheiß-Nachricht klarzukommen, sind Pari und du die übelsten Hurensöhne. Ihr könnt euch nicht mal für verfickte fünf Minuten auf jemand konzentrieren, der nicht Dag oder Tua ist. Nicht mal auf mich! Und ich bin euer bester Freund aus der Schule, wir wohnen zusammen, und ich war immer für euch da! Das macht mich so wütend, Iara", erklärt er und der ganze Schmerz, der aus ihm spricht, überrollt mich in ungnädigen Wellen. "Ich war noch nie so wütend auf euch wie im Moment, ich schwör's dir. Pari geht ja fast noch als bemitleidenswert durch, aber du: Du bist einfach nur feige."
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