No. 10
In der WG ist niemand, als ich sie betrete. Wie passend. Die Tür ziehe ich hinter mir zu, und kaum ist sie geschlossen, atme ich flacher, schneller. Schluchzend, ohne meine Jacke oder meine Schuhe auszuziehen, falle ich auf einen der Sitzsäcke.
Das ist nicht fair. Wieso musste es so kommen?
Weil ich es nicht wahrhaben wollte, dass das die logische Konsequenz aus allem ist. Wir sind nicht mehr, wer wir waren. Und wir werden auch nie wieder zu diesen Menschen.
Mein Handy gibt ein leises Pling von sich und ich schiele durch den Tränenschleier aufs Display. Die Buchstaben verschwimmen vollständig vor meinen Augen, nachdem ich endlich entziffert habe, was da steht.
Tua: Ich liebe dich.
Meine Finger verkrampfen. Allein mir die Worte im Kopf zurechtzulegen, treibt mich in die wildeste Verzweiflung. Ich presse meinen Finger auf den Knopf an der Seite und schalte mein Telefon aus. Stille, für ein paar Minuten, bis sich der nächste Schlüssel im Schloss dreht.
Es sind Mika und Kitty. Mein Mitbewohner und seine Freundin lachen über irgendetwas und ich wische mir rasch die Tränen aus dem Gesicht.
"Hi", begrüße ich beide flüchtig, ehe ich mich in mein Zimmer stehle.
Mika sieht mir fragend nach. Sein Blick bohrt sich förmlich in meinen Rücken, ich drehe mich aber nicht um. Er soll mir nicht folgen. Aber ich könnte ihm gerade auch gar nicht den Eindruck vermitteln, dass alles okay mit mir ist. Deshalb schaue ich lieber nicht zurück, nicke ihm nicht zu oder winke ab.
Ohne drüber nachzudenken ziehe ich mich in meinem Schlafzimmer bis auf die Unterwäsche aus. In Zeitlupe krieche ich in mein Bett, und weine augenblicklich bitterlich, denn es riecht nach Tua. Zum Glück nicht penetrant, er hat vorgestern das letzte Mal hier übernachtet. Auf alle Fälle ausreichend, dass ich mich wieder einmal frage, was da vorhin passiert ist.
Ich weiß schon jetzt, wir werden darüber reden müssen. Aber aktuell kann ich keinen klaren Gedanken fassen, weil meine Gefühle komplett verrückt spielen.
Ich wünschte er wäre hier.
Und ich wünschte, ich hätte ihn nie kennengelernt.
Noch nie hab ich mich so überfordert gefühlt. Dieses Eingeständnis führt mir eine Sache deutlich vor Augen: Alle seine Angelegenheiten gehen mir unter die Haut. Tua hält nichts von mir fern, und das hab ich mir durch meine Ungeduld und Beharrlichkeit höchst eigens zuzuschreiben. Ich dachte, ich könnte damit umgehen, aber ich fühle mich unendlich klein.
Meine Mutter hat früher viel Nena gehört, und beim Refrain haben meine Schwester und ich oft mitgesungen. Einige der Zeilen sind für immer in meiner Erinnerung archiviert:
Liebe will nicht
Liebe kämpft nicht
Liebe wird nicht
Liebe ist
Liebe sucht nicht
Liebe fragt nicht
Liebe ist
So wie du bist
Ich schließe die Augen und wiederhole die Worte stumm als Mantra, bis ich einschlafe ...
+
Ein Klopfen reißt mich unsanft in die Realität zurück. Stunden sind vergangen, das verrät mir der Blick auf die Uhr. Ich wickle mich fest in meine Decke.
"Herein", krächze ich.
Meine beste Freundin reckt ihren Kopf durch den Türspalt.
"Oje, Süße, hab ich dich geweckt?" Ihre braunen Kulleraugen hat sie vor Schreck weit aufgerissen hat.
"Ist doch in Ordnung, so spät ist es ja noch nicht", beschwichtige ich sie und ziehe die Nase hoch, angle nach den Taschentüchern auf meinem Nachttisch. "Was gibt's denn?", frage ich Pari nebenbei, die prompt zu mir huscht und sich auf meine Bettkante setzt.
"Dag und ich haben den Nachmittag vor der Gedächtniskirche gesessen. Er hat uns Kaffee geholt und wir haben Stunden in der Kälte gehockt und geredet", schwärmt sie und ich lächle müde. Hoffentlich tut sie es als verschlafenes Schmunzeln ab. Tatsächlich bräuchte ich mir da aber gar keine Sorgen machen. Sie beachtet mich nicht richtig. Pari wollte das wohl nur irgendwem erzählen.
"Ich hoffe, er hatte eine Decke dabei", kommentiere ich.
"Ja, er war vorbereitet."
"Du hattest also einen schönen Nachmittag?"
Nun blickt sie mir doch ins Gesicht. Sie strahlt, ihre Augen leuchten wie im Fieber der Glücksgefühle. Ich hab sie lange nicht mehr so verliebt erlebt. Pari nickt.
"Es war wirklich schön mit ihm."
"Das freut mich für dich, Süße."
Mein Lächeln erstirbt, denn mein Bauch grummelt. Ich habe nicht zu Abend gegessen. Aber ich habe auch absolut keinen Appetit.
„Ich wollte mir einen Tee kochen.“
„Nein, danke“, lehne ich ihr Angebot ab, das sie mir nicht einmal unterbreiten musste. Pari mustert mich schief und ihre Ohrpiercings blitzen, als silbernes Mondlicht darauf trifft.
"Geht's dir gut?"
"Nein", flüstere ich wahrheitsgetreu.
Die Mundwinkel meiner besten Freundin sacken nach unten.
"Oh, Süße, was ist passiert?", hakt sie nach. Ich schmiege mich in ihre Arme und schlucke hart.
"Ich bin heute viel zu fertig."
"Aber wa-"
Ich knuffe sie in die Seite, bevor sie weitersprechen kann.
"Nicht mehr heute."
Pari löst sich von mir. Sie wirkt verunsichert. Tja, ich hätte wissen sollen, dass ich sie damit aktuell nicht belasten kann.
„Sag mir nur ... Wie schlimm ist es?“
Für einen kurzen Moment starre ich ins Leere.
Wie schlimm ist es?
"Es ist. Also, es ist nicht schlimm. Es ist einfach nur." Pari sieht mich noch immer forschend an. "Besser kann ich es nicht erklären", füge ich also kleinlaut hinzu.
"Ich könnte dir etwas backen", schlägt sie leise vor. Ich würde seufzen, aber der Laut bleibt mir in der Kehle stecken.
"Ist leider keins dieser unaufdringlichen Probleme, die sich mit deinen Schoko-Bananen-Cupcakes lösen lassen."
"Falls ich was für dich tun kann ..." Sie spricht nicht weiter. Ich erwidere nichts. Pari reibt über ihre Unterarme und steht auf. Im Türrahmen macht sie nochmal Halt. "Wir könnten ja morgen reden."
"Könnten wir." Ich ringe mir ein Lächeln ab.
"Okay." Etwas beruhigter schiebt sie sich in den Flur. "Ich mach zu."
"Ja."
Noch immer in meine Decke gewickelt, stehe ich auf. Das Parkett ist arschkalt unter meinen Füßen, doch diesen Umstand ignoriere ich, als ich mein Handy einschalte.
Neun verpasste Anrufe von Tua, bis jetzt ... Da kommt Nummer zehn.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top