Johannes
Kittys offener schwarzer Ledermantel wird von einem Windstoß erfasst, als sie auf uns zuläuft. Sie durchbohrt mich mit ihrem Blick. Für Mika würde sie wahrscheinlich töten, wenn nötig. Ich kann ihre Entschlossenheit spüren, bis ins Mark, und es beschert mir eine Gänsehaut.
"Kann ich euch vielleicht helfen?", fragt sie schneidend, stellt sich dicht neben ihren Freund, stützt sich mit einer Hand auf seiner Schulter ab und schaut mich an mit ihren rasiermesserscharf gewetzten Augen. Ihr metallischer Lidschatten in Elektrisch-Blau verstärkt den Eindruck nur noch, dass sie mich jederzeit vernichten könnte.
Ein Fingerzeig von ihr, ein Blitz - und da ist nur noch ein Häufchen Asche auf dem Boden, wo ich eben noch stand.
Ich versuche sie auzublenden, blicke flehend meinen Kumpel an. Keine Ahnung, was ich mir davon verspreche. Vielleicht, dass er sich bei mir entschuldigt, mir sagt, dass es nicht fair von ihm war, mich so anzugehen, oder was ähnlich Abwegiges. Aber Mika schließt bloß die Augen und atmet tief durch; sieht erst mich an, als wäre ich ein hoffnungsloser Fall, und letztlich Kitty.
"Lass uns reingehen", murmelt er und schlingt einen Arm um ihre Taille.
Kittys Blick ruht währenddessen auf mir. Sie rätselt sicher, wie wir uns so in die Haare kriegen konnten.
Und dann sehe ich es plötzlich.
Mitleid schleicht sich in ihre Züge. Das, was mir Mika verwehrt hat. Eigentlich müsste ich mich darüber freuen, das ist es schließlich, was ich mir gewünscht habe. Stattdessen brennt es mir völlig unerwartet ein Loch ins Herz.
"Du kannst ja nachkommen", sagt sie, sanfter jetzt. Sie dreht sich wieder in die Richtung, aus der sie kam. Mika schiebt sie ein Stück vorwärts. Um schneller von mir wegzukommen, oder sowas.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und kehre den beiden den Rücken. Ein paar Autos donnern die Straße neben mir runter. Ihre Scheinwerfer sehe ich nur verschwommen. Die Tränen in meinen Augen lassen sie aufblühen wie Farbe, die von den nassen Borsten eines Pinsels in einen Becher Wasser tropft.
Als mein Blick den Eingang wieder streift, kann ich in der Ferne ausmachen, wie sich die gesamte Gruppe in den Club reinbegibt. Ohne mich. Bis auf eine Person, deren verschwommener Umriss langsam näher kommt ...
"Geh weg!", fahre ich Jess instinktiv an und presse mir die Hände auf die Ohren, kneife die Augen zusammen. Ich will nichts sehen, nichts hören, ganz besonders nicht von ihr ... Meine Existenz ergibt gar keinen Sinn mehr! Ich habe alles weggeworfen, was ich hatte, als ich Tua aufgegeben habe.
"Ich schlage dir einen Kompromiss vor." Ihre Worte dröhnen in mir, obwohl ich mir alle Mühe gebe, sie nicht zu verstehen. "Ich gehe nirgendwohin und du lässt auf der Stelle dieses Gehampel."
"Das ist kein Kompromiss!", zischle ich.
Jess schüttelt den Kopf, dabei schnalzt sie mit der Zunge. "Iara. Hör auf, durchzudrehen."
Ich kann nicht in Worte fassen, wieso ich tue, was sie verlangt. Aber mich überkommt so ein bizarres Gefühl ... Alles, was ich hier mache, ist lächerlich. Mich überwältigt diese kleine Erkenntnis so sehr, dass ich schon wieder in Tränen ausbreche und auf den Bordstein sinke. Aber dieses Weinen fühlt sich weniger verzweifelt und verkrampft an.
Jess setzt sich neben mich.
"Solche Ausbrüche sind sowieso immer sinnlos", sagt sie. "Erst recht, wenn es dabei um Eifersucht geht." Ich wische mir übers Gesicht und schlucke hart, einmal, zweimal ... Sie hat es also durchschaut. "Bevor ich mich für dieses Schlampenleben entschieden habe, war ich verheiratet", öffnet sie sich mir unvermittelt und ich mustere ihr hübsches Profil. "Hast du das gewusst?"
"Hat Tua es gewusst?", erwidere ich dumpf. Sie verneint. "Woher soll ich es dann wissen?", kontere ich.
Sie umarmt ihre Knie und legt ihren Kopf darauf ab, schaut mich an aus ihren braunen Katzenaugen. "Von Mika vielleicht. Oder Kitty. Die wissen es."
Ich ziehe die Nase hoch und spüre, wie mein Puls sich schleichend beruhigt.
"Was ist mit ihm passiert?", frage ich sie und beziehe mich dabei auf ihren Ehemann.
"Er ist gestorben." Sie schließt die Augen. Fast sieht es aus, als würde sie friedlich schlafen. Aber sie erinnert sich wohl einfach an ihn.
"Tut mir leid", flüstere ich. Wir schweigen eine Weile. Es ist nicht unangenehm, dass sie mir Gesellschaft leistet. Das sollte mich nicht so überraschen. Tua wollte um jeden Preis verhindern, dass Jess und ich miteinander reden. Er wollte genau diese Art von Gespräch verhindern, die wir gerade führen. Ein aufrichtiges Gespräch, das sich ganz natürlich aus dem Nichts entwickelt hat.
"Du musstest mir davon nix erzählen", wispere ich.
Jessica zuckt die Schultern. "Und? Ich habe es trotzdem getan."
Mir geht durch den Sinn, dass das etwas war, was Tua an mir fasziniert hat. Dass Menschen mir oft auf Anhieb vertrauen.
"Darf ich dich etwas fragen?", breche ich das Schweigen. Jess reagiert nicht. Ich fahre trotzdem fort, weil es mich schon so lange beschäftigt und mir das hier wie der richtige Moment erscheint, um endlich mehr darüber zu erfahren. "Als es zu diesem Seitensprung kam ... Wusstest du damals von Mascha?"
"Ja, ich wusste von ihr", antwortet sie ohne Umschweife. Ihr Tonfall trägt keine Leichtigkeit, aber auch keine Reue, in sich. "Dass sie zusammen gewesen sind, wusste ich auch. Das war falsch von mir, dass ich mich mit ihm eingelassen habe, aber ich bin ehrlich mit dir: Ich glaube, ich wollte auch, dass seine Beziehung kaputt geht. Nicht, um ihren Platz einzunehmen. Echt nicht, Gott bewahre. Ich konnte es bloß damit vor mir selbst rechtfertigen, dass ich ihr in gewisser Weise einen Ausweg angeboten habe. Es ist schwer rauszukommen aus dieser Hölle, in der sie beide festgesteckt haben, ohne heftigen Auslöser, der die Dinge in Gang bringt. Ich habe sie traumatisiert, das war nicht direkt geplant ... Aber wenigstens hat sie mit ihm Schluss gemacht, als es rauskam."
"Deswegen hast du ihn gevögelt? Um Mascha zu retten?", hake ich ungläubig nach. Mit einem Hauch herablassenden Misstrauens in der Stimme, für den ich mich schon im nächsten Augenblick schäme.
Sie runzelt die Stirn. "Du hast doch auch nur gefickt mit ihm am Anfang, oder irre ich mich da?"
Scheinbar erwartet sie wirklich eine Antwort, also nicke ich. Erst danach nimmt sie den Faden wieder auf.
"Dann weißt du doch genau, wie er ist. Ich habe ihn meiner Schwester vom Leib gehalten, so hat das alles angefangen zwischen ihm und mir. Joyce hat mich darum gebeten. Wir haben uns unterhalten, damit er nicht mehr so unangenehm an ihr rumbaggert. Als er das generell eingestellt hat, war es dann gut. Ich fand ihn okay. Er hat es nicht versteckt, dass er kein guter Mensch ist. In dieser Hinsicht waren wir auf einer Wellenlänge." Sie lacht trocken. "Er hat mir nicht mal selbst von Mascha erzählt, weißt du? Das war Hannes. Ich wusste danach, dass er so eine Art Badboy sein muss, aber die super-peinliche Variante."
Unfreiwillig breche ich in Gelächter aus und sie stimmt mit ein. "Ist doch so, oder?"
"Ja, das trifft es ziemlich gut." Das Grinsen bleibt auf meinen kleben, während sie weiter erzählt.
"Jedenfalls hat er es geschafft, dass ich ihn mit zu mir genommen habe. Noch am selben Abend, an dem wir uns kennengelernt haben. Ich mochte ... etwas an ihm. Irgendetwas ..." Sie angelt danach und es dauert eine Weile. "Keiner lügt wie Johannes", behauptet sie dann. Sie sagt es mit einer schweren Süße, die ich beinah auf meiner Zungenspitze schmecke. Ihre Stimme hat dieses wohlklingende Vibrato, fast wie die meiner Schwester. "Du weißt, was ich meine, oder? Wie kann ein Mensch so lügen?" Die letzte Frage richtig sie scheinbar mehr ans Universum denn an mich.
Ich weiß es. Tua hat es mir selbst verraten. Er vergisst im Bruchteil einer Sekunde, dass es eine Lüge war, die ihm entschlüpft ist. Und wenn er erstmal glaubt, es wäre wahr, dann ist für jeden praktisch kein Unterschied mehr erkennbar zwischen Märchen und Realität.
Sie räuspert sich.
"Du hast von meiner Seite aus nichts zu befürchten, Iara. Ich bin nicht mehr wie vor ein paar Jahren, und du bist nicht Mascha. Er mag dich, vielleicht liebt er dich sogar. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass er dazu fähig sein soll. Keiner der Jungs ist das wahrscheinlich, außer Momo natürlich. Auf jeden Fall habe ich seit Hannes' Geburtstagsparty viel nachgedacht, und ich will keinen Kontakt mehr zu deinem Freund. Falls das das Problem ist, und der Grund für deinen Streit mit Mika."
"Johannes ist nicht mehr mein Freund", kläre ich sie auf und sie schaut mich ernst an. "Deswegen ist Mika sauer, wei-"
"Bitte sag mir doch jetzt nicht, dass du so ein Drama veranstaltest, weil du Liebeskummer hast." Ich spüre, dass mir die Hitze bis hoch in die Wangen steigt. "Wegen Johannes", ergänzt sie. Ich äußere mich noch immer nicht dazu, aber meine Mundwinkel zucken. "Johannes!", wiederholt sie seinen Namen überdeutlich, um anschließend loszulachen. "Scheiße, verdammt. Das ist doch nicht wahr. Der Typ ist ein Blender, Iara. So auzurasten wegen ihm, ist unter deiner Würde. Und wenn du Besitzansprüche stellst, zeugt das von schlechtem Geschmack. No offense."
"Du kennst mich gar nicht, du kannst das wohl kaum beurteilen", brumme ich leicht beleidigt. Obwohl sie ähnlich wie Mika reagiert.
"Mag sein, aber ich kenne Johannes. Scheiße, Iara ..." Sie stößt noch ein Lachen aus, ein kraftloses diesmal. "Du darfst dich wegen niemandem so fertig machen. Kein Mann wird das jemals wert sein, dass du so den Verstand verlierst. Und das schließt diesen Idioten mit ein. Aber sowas von. Der Typ hat doch mehr Probleme als Charakter. Das Leben ist kurz und kostbar, und du musst nehmen, was du kriegst. Manchmal ist das leider einer wie Johannes, der zwischen dem Menschen, der ihm gegenübersteht, und seiner Welt, die er hasst, nicht richtig unterscheiden kann; der sich prügelt, auch mal tagelang untertaucht, und wegen seiner Depressionen fast eingeht, weil er sich lieber mit andern boxt als mit seinem inneren Schweinehund. Aber dem weinst du keine weitere Träne nach, okay? Dir stehen alle Türen offen, du bist jung, sexy und das Leben spielt dir ausschließlich in die Karten, auch wenn du das nicht immer auf Anhieb begreifst."
Ich beobachte die vorbeifahrenden Autos, lasse ihre Worte auf mich wirken.
"Okay", bestätige ich.
Sie lächelt mir aufmunternd zu und steht auf, klopft sich den Straßenstaub von ihren Jeans. "Ich will jetzt reingehen, zu den anderen. Kommst du mit?"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top