Ich weiß noch, wie ...

Gegen Mittag trage ich einen selbstgemachten Salat die Treppenstufen hoch zur Wohnung meiner Mutter und meines Stiefvaters. Beide stehen schon an der Tür bereit, um mich in Empfang zu nehmen, und beide lächeln so breit, als könnten sie sich nichts Schöneres vorstellen an den frühen Nachmittag bis zum gemeinsamen Kaffeetrinken um 16 Uhr mit mir zu verbringen.

"Hallo, ihr Zwei", begrüße ich sie und umarme meine Mutter. Thoralf nimmt mir hinter ihrem Rücken die Schüssel ab und ich forme ein lautloses Danke mit dem Lippen, worauf er mir mit einem ebenso lautlosen Gern geschehen antwortet. Er stellt den Salat auf eine freie Ecke des Schuhregals und drückt mich ebenfalls kurz an sich.

"Wie schön, dass du da bist", freut meine Mutter sich und zieht mich gleich noch einmal zu sich, um mir ein Küsschen auf die Wange zu hauchen.

"Es ist auch schön, euch mal wieder zu sehen." Mit einem gutmütigen Grinsen im Gesicht gehe ich auf die Knie und entknote die Schnürsenkel meiner Sneakers. "Ich bin schon gespannt auf deinen Salat!"

"Das ist ganz einfacher Gurkensalat, Mama", lache ich.

"Dann ist er bestimmt auch ganz einfach lecker", sagt sie und ich spüre, wie sie mir einen weiteren Kuss auf den Haaransatz gibt.

Thoralf, dem mein peinlich berührter Blick aufgefallen sein wird, greift nach der Hand seiner Frau.
"Schatz, ich glaube, ich habe die Servietten vergessen. Würdest du noch welche aus dem Schrank holen für uns?"

Mama schnalzt missbilligend mit der Zunge, wie um ihn dafür zu rügen, dass er es überhaupt gewagt hat, die Servietten zu vergessen.
"Natürlich, wir treffen uns im Wohnzimmer am Esstisch, ansonsten ist nämlich alles vorbereitet. Getränke stehen bereit, mein Engel, bitte bedien dich", meint sie, streichelt über meine Locken.

Als sie weg ist und ich mich von meinen Schuhen befreit habe, richte ich mich auf.
"Puh, danke", sage ich leise zu Thoralf und fächle mir etwas Luft mit der Hand zu.

"Sie freut sich einfach sehr, dich zu sehen", erklärt er.

"Ach, echt?", trieze ich ihn und er verdreht die Augen, klopft mir auf den Rücken. Wir gehen ins Wohnzimmer, wo ich die Servietten auf dem Tisch entdecke, von denen er behauptet hat, er hätte sie vergessen. Thoralf zwinkert mir zu, als ich ihn anschaue.

Da höre ich auch Mama schon aus der Küche rufen: "Wo sind denn die bedruckten mit dem grünen Pflanzenmotiv? Die wollte ich so gern für heute!"

"Falscher Alarm!", ruft Thoralf zurück. "Ich hatte sie doch schon rausgelegt", sagt er, als meine Mutter zu uns stößt.

"Herrje, Thoralf, du bist ein Schussel", murmelt sie. Er zeigt sich ungerührt davon und zieht ihren Stuhl für sie zurück. Sie setzt sich und ich nehme gegenüber von beiden Platz. "Erzähl, Kind, wie geht es dir?", fragt Mama mich und ich betrachte die Köstlichkeiten vor mir, während ich ihr antworte.

"In Ordnung, würde ich sagen." Ich greife nach einem Sesamring, der herrlich duftet und löffle mir etwas Hummus auf meinen Teller, in den ich das Brot dippen kann.
"Es ist gerade eine ziemlich harte Zeit, aber ich komme zurecht, ich hab ja meine Freunde - zum Glück."

"Und Johannes", wirft Mama ein.

Ich schüttle langsam den Kopf.
"Nein, wir haben uns getrennt", offenbare ich.

Mama und Thoralf machen beide große Augen. Er legt seine Hand auf ihre und sie verschränkt ihre Finger daraufhin sofort mit seinen.
Mein Stiefvater findet als Erster von uns seine Stimme wieder.
"Das ist aber schade."

"Ist etwas vorgefallen?", will Mama prompt wissen.

"Ja und nein", erwidere ich kryptisch. "Wir hatten zuletzt eine schwere Phase durchzustehen. Sein Vater ist gestorben."

"Du meine Güte", versetzte meine Mutter und ihre Hand rast zu ihrem Herzen, bleibt auf ihrer Brust liegen. Auch Thoralf schluckt.

"Es geht ihm wieder gut, er hat sich davon erholt."

"Und du?", fragt Thoralf zwischen.

"Mir geht es auch okay. Es ist das Beste so", sage ich ihnen, was ich mir selbst jeden Tag erzähle. Je mehr Zeit ins Land geht, desto wahrer scheint es zu werden.

"Das ist wirklich sehr schade", beteuert meine Mutter.

"Wie gesagt, es ist besser so", gebe ich mit dem Anflug eines Knurrens in der Stimme zurück und schöpfe mir Suppe aus dem großen Topf, der zwischen uns steht, in eine kleine Schale.

"Ich weiß noch, wie ihr an Weihnachten dort auf der Couch gesessen habt", sagt sie und starrt auf das Sofa mit dem orangen Samtbezug in der Ecke des Raumes.

"Tatjana, Schatz ...", bringt Thoralf sie zum Schweigen, indem er in meine Richtung nickt. "Lass uns über etwas anderes reden."

"Wie läuft es in der Schule mit den Kindern?", frage ich sie und sie sieht mich noch ein paar Sekunden mitleidig an, bis ihr Mann sie antippt und so aus ihrer Trance reißt.

"Ich habe ganz tolle Klassen bekommen dieses Jahr, und bald sind Sommerferien, da fliegen wir nach Ägypten", berichtet sie und wirft Thoralf einen Blick zu, der sie aufmunternd anlächelt und sich mir zuwendet.

"Ich glaube, das wird toll. Wir werden über den Nil schippern und Koshary mit den Einheimischen essen. Ich war vor Jahren schon mal in Kairo und habe Tatjana davon erzählt."

"Das freut mich für euch."

"Du könntest ja mitkommen!", platzt es aus meiner Mutter raus. Ich setze ein Lächeln auf.

"Das ist ein liebes Angebot, Mama, aber ich fahre sicher nicht mit euch in den Urlaub."

Sie sieht beschämt auf ihren leeren Teller. Noch immer hat sie sich nichts von den Leckereien genommen, die sie für uns bereitgestellt hat. Ich greife in die Obstschale und biete ihr einen Apfel an. Sie nimmt ihn stumm entgegen.

"Vielleicht hilft eine Reise dir dabei, die Trennung zu verarbeiten", schlägt sie vor.

"Ich mache vielleicht bald einen Ausflug mit Freunden irgendwohin", sage ich, um sie zu beschwichtigen und wechsle das Thema. "Und jetzt probiert gefälligst meinen Gurkensalat, den will ich nicht umsonst angeschleppt haben."

Mein Stiefvater lacht und nimmt den Deckel ab. Mit einem Löffel schaufelt er sich eine große Portion auf seinen Teller.
"Danke, dass du vorbeischaust und uns heute mitversorgst."

"Das mach ich gern, schließlich hab ich ja auch was davon." In der Hoffnung, dass sich die Lage nun ein wenig entspannt, schiebe ich mir einen Löffel Grießklößchensuppe in den Mund. Wie hat Mika noch vor Kurzem zu mir gesagt? Leichter wird's nicht.

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