Graustufen
Ich weiß noch, wie ich mich in Tua verliebt habe. Es hat mich überrascht. Wenn die körperliche Anziehung zwischen uns nicht so stark wäre, würde ich ihn dann heute zu meinen engsten Vertrauten zählen? Wie Tarik oder Stean?
Wer wir wohl wären, wenn es Iara und Tua nicht gäbe ...
Unter meinen Schuhen knacken Äste, Stean und ich sind ein Stück rausgefahren und laufen durch den Wald. Die Luft ist angenehm kühl und klar. Es sind nur wenige Leute unterwegs. Die perfekte Gelegenheit, um endlich auszupacken.
"Ich weiß nicht, ob ich ihn zurückwill", sage ich, und es hallt komisch in mir nach. "Das hab ich mich noch nie gefragt. Ich hab angenommen, dass es so ist, weil ich ihn liebe."
"Das ist eine wichtige Frage", erwidert Stean und mustert mich forschend. Er hat seine Hände in die Taschen seiner Collegejacke geschoben. "Ihr habt inzwischen so viel Scheiße miteinander durch ... Es gibt keine falsche Antwort darauf, aber es muss eine Antwort irgendwo in dir geben und wir können versuchen sie zu finden, wenn du möchtest. Du willst doch auch, dass es weitergeht, wenn du wieder in Berlin bist. Ich kenne dich. Was du brauchst, ist eine handfeste Entscheidung für oder gegen eine Beziehung mit ihm."
"Glaubst du, er ist schlecht für mich? Sei bitte ehrlich."
Steans Mund steht offen und er lacht, aber es dringt kein Laut heraus. "Spinnst du?", sagt er dann. "Denkst du, ich gucke mir an, wie du mit jemandem zusammen bist, der schlecht für dich ist? Iara, Iara, Iara." Er schüttelt den Kopf über mich. Ich hatte Angst, dass er mir seine wahre Meinung verschweigt. Seine Reaktion beruhigt mich irgendwie. "Du bist meine Freundin, ich hätte Tua längst in die Wüste geschickt, wenn ich je gedacht hätte, dass er schlecht für dich wäre."
"Dann glaubst du, er ist gut für mich?", hake ich nach.
Er legt die Stirn in Falten, und wieder schüttelt er den Kopf.
"So schwarz-weiß ist die Welt nicht, Misty. Ich hab euch zusammen gesehen und mir angehört, was du erzählt hast - und mit Tarik gesprochen, weil er Tua besser kennt als ich. Ihr fordert einander ganz schön heraus. Er verlangt Dinge von dir, die dir fast unmöglich erscheinen und du verlangst von ihm, was ihm am allerschwersten fällt. Aber ihr tut das nicht, weil ihr einander so dringend ändern wollt."
"Nein", bestätige ich es. "Ich kenne ihn nur einfach besser als er sich kennt, und ..."
"Und er kennt dich besser als du dich", vervollständigt er meinen Satz. "So hab ich das beobachtet. Das ist es halt. Deshalb habt ihr vielleicht noch eine Chance. Ihr glaubt aneinander. Wenn ihr miteinander redet, versteht ihr auch mehr."
"Aber was ist dann schiefgelaufen?", will ich wissen und klinge dabei fast verzweifelt.
Stean ignoriert diesen Panikanflug und zuckt die Schultern.
"Das kannst du ja mal beantworten."
Ich schaue nach vorn, da liegt ein Baumstamm quer über dem Weg. Wir klettern drüber und ich werfe einen Blick zurück auf den entwurzelten Ahorn, ehe ich wieder nach vorn schaue, wo der Waldweg ganz genauso aussieht wie hinter dem Sturmschaden. Ebenmäßig und trittweich.
"Es war zu viel", sage ich. "Der Tod seines Großvaters und wie er zugemacht hat. Jetzt der Tod seines Vaters, und diese abgedrehte Geschichte rund um Hannes' kleinen Bruder, der wie er aussieht ... Ich wusste nicht, worauf ich mich einlasse. Ich wusste es wirklich nicht, ich hatte keine Ahnung." Tränen schwemmen meine Augen, doch was er als nächstes sagt, lässt mich schlucken und ich begreife, dass ich mich zusammennehmen muss.
"Nur auf einen andern Menschen, Iara."
Ich schaue Stean an, will protestieren, aber die Vernunft gebietet mir etwas ganz anderes. Wo soll das mit mir hinführen, wenn ich aus allem ein viel schlimmeres Drama mache? Was passiert ist mit Tua und mir, war aus der Perspektive des Schicksals ja wohl total logisch. Und ich muss darauf vertrauen, wie Vovó immer gesagt hat.
"Du siehst immer ins tiefste Innere eines Menschen. Aber wir sind nach außen nicht unbedingt so strahlend hell wie unser Kern", gibt Stean zu bedenken.
Er hat recht. Ich habe mich in den Menschen verliebt, der Tua nun mal ist; zwischen allem Schutt seiner miesen Vergangenheit, hinter der Mauer des Stark-wirken-Wollens und zu Füßen seiner Abgehobenheit. Er gibt sich mir nicht einfach preis, das wird er nie. Niemand tut das. Dazu braucht es Vertrauen und Geduld. Bin ich überhaupt selbst vertrauenswürdig, wo ich ihm doch mittlerweile keinen Vorschuss mehr gewähre?
Ich konzentriere mich und versuche zu sehen, was Tua die letzten Monate gesehen hat, und plötzlich kommen mir wieder Hannes' Worte in den Sinn. Dass ich inzwischen die Hoffnung verloren habe, meinen Funken. Weit weg von ihm und allem, nüchterner betrachtet, erkenne ich, was er damit wohl meint.
Mir war das alles zu anstrengend in letzter Zeit. Es hat mich zerrissen, und wieso? Weil ich mir nach wie vor Tuas Zeug auflade, obwohl er es nicht will und mir das auch schon oft so gesagt hat. Das Beste, was ich für ihn hätte tun können, wäre gewesen, dass ich mich um mich kümmere. Anstatt mir ständig Gedanken über seine Depressionen zu machen, hätte ich anständig schlafen sollen, ausgehen mit Freunden, feiern, leben. Was Hannes sagt, stimmt von vorn bis hinten: Ich bin nur noch der Schatten dieser Frau, in die Tua sich verliebt hat. Mein Lebensmut ist mir entglitten, und ich habe es noch nicht einmal bemerkt.
"Ich hab ihn gehasst, weil er sich so aufgeführt hat. Weil wir uns seit Monaten im Kreis drehen und ich nur noch angestrengt bin, genau wie er. Die ganze Zeit, nichts als Entwicklung, Entwicklung, Entwicklung. Ein Kummer jagt den nächsten", jammere ich, obwohl ich längst spüre, wie sich ein neues Verständnis für unsere verflixte Lage in mir breitmacht.
"Dass dich das belastet hat, versteh ich, und ich bin auch froh, dass du den Cut gesetzt hast. Erstmal bist du raus aus dieser beschissenen Situation." Ich nicke zu Steans Worten. "Ich weiß, du liebst ihn, und ich weiß, wie schwierig es manchmal sein kann, auf einen andern Menschen klarzukommen. Besonders, wenn es ihm mental nicht gut geht. Ernsthaft, ich fühle mit dir."
"Du willst doch noch was anderes an much herantragen", fordere ich ihn indirekt auf, es auszuspucken.
"Eine Sache nur: Wenn du jemanden liebst, suchst du dir nicht aus, wie er ist oder wie eure Beziehung ist. Du liebst und lässt dich darauf ein ‐ eben weil du liebst. Und du arbeitest an dir, denn das heißt es eigentlich, wenn beide für ihre Beziehung arbeiten. Jeder arbeitet an sich."
"Stean, kommen wir wieder zusammen?", frage ich kleinlaut, denn ich wünschte, er oder irgendwer könnte mir das verraten.
"Das ist deine Entscheidung, Iara, und natürlich seine. Willst du ihn denn nun zurück?"
In mir dreht sich alles, mein Kopf, mein Magen ...
"Ich liebe ihn. Aber im Moment weiß ich nicht, was das für uns bedeutet."
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