Gottes Echokammer
Bevor es losgeht: Ich habe experimentiert. Dieses Kapitel ist aus Tuas Sicht. Über Feedback freue ich mich, danke <3
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In meinem Kopf pocht der Beat seit Wochen; es ist unangenehm, wie er sich mit dem Rauschen des Wassers aus der Dusche vermischt. Die Stille fehlt mir. So ist es oft, wenn sich neue Ideen an die Oberfläche kämpfen.
In mir ist der Track komprimiert, er ist mein Wesenskern. Ich höre alles gleichzeitig. Die lauten und die leiseren Passagen, bis in die kleinteiligsten Nuancen hinein. Alles andere wird zum Störgeräusch in dieser Phase der Entstehung: Jeder Tropfen, jedes raschelnde Blatt im Wind, jedes gesprochene, gedämpfte Wort der Nachbarn über oder unter mir.
Musik ist Strömung, sie will fließen. Ich bin nicht ihre Quelle, ich bin nur Gottes Echokammer. Und nie sprechen wir dieselbe Sprache. Er und ich - ich und Gott.
Ich fange immer und immer wieder von vorn an: verbarrikadiere mich im Studio und bewege meine Hände, ohne ihnen konkrete Befehle zu erteilen. Sie sind schlauer als mein Torfkopf. Nichts denkt. Alles klingt.
Mit den Händen kann ich übersetzen, als wäre Musik Gebärdensprache. So hab ich es Iara beschrieben und sie hat genickt und gesagt, das stimmt.
Wieso bist du dir sicher? Ich check's selbst nicht mal, wie das funktioniert. - Ich weiß es nicht, hab ich doch auch gar nicht behauptet. Es fühlt einfach nur wahr an, wenn du es so erklärst.
An meinem Körper rinnt das Wasser herab, als ich aus der Duschkabine trete. Ich ignoriere das Handtuch, betrachte mich im Spiegel, sehe nicht mich darin, sondern Elias.
Das zweite Mal in meinem Leben zweifle ich daran, ob ein Foto wirklich echt sein kann. Beide zeigen mich; zeigen einen Mann, der mir völlig fremd ist. Aber an den, der Jess im Arm hält, an den erinnere ich mich noch.
An den anderen nicht, das bin nicht - Elias, hallt sein Name durch meinen Kopf, und die Musik in mir türmt sich zu meterhohen Wellen auf. Ich verziehe vor Schmerz das Gesicht ... blinzle, öffne die Augen ... Wasser an meinen Wimpern.
Mein Spiegel holt mich zurück in die Realität. Er zwingt mich, mich zu erinnern. Sonst stand Iara genau jetzt rechts von mir; die Zahnbürste im Mund, das Reinigungsgel auf den Wangen oder die Tagescreme auf der Nasenspitze.
Einen Tag ist es her, gestern haben wir uns getrennt. Weil es das Richtige war, wenn auch anstrengend. Und so unglaublich ermüdend.
Ich verzichte aufs Abtrocknen, stoße die Badezimmertür auf, durchquere den Flur und lasse mich nass auf mein Bett fallen. Der Bezug meines Kissen klebt an meinem oberen Rücken, es ist angenehm. Ich starre an die Decke und merke nicht, wie mir die Augen zufallen.
Hinter meinen Liedern sehe ich sie noch immer. Die weiße Decke. Sie kennt keinen Klang. Sie ist die Stille nach dem Telefonat mit ihr ‐ und der Hintergrund, vor dem sich der Beat endlich fügt.
Ich schrecke auf, bin staubtrocken, rolle mich von meiner Matratze, greife mir frische Anziehsachen aus dem Schrank, streife sie über und betrete mein provisorisch eingerichtetes Heimstudio; fahre den Rechner hoch und gehe dabei auf und ab, vier Quadratmeter in die eine Richtung ... vier Quadratmeter in die andere ... tippe hastig, drücke Enter ... Die Türklingel ist es, die den Moment in der Luft zerfetzt, und ich erstarre zu Eis.
Ich war soweit. Gott hat zu mir gesprochen und ich habe ihn verstanden. Aber das Chaos hat im Bruchteil einer Sekunde die Allmacht wieder an sich gerissen.
Ich lasse den Kopf sinken, stütze meine Stirn auf meinem Handteller ab. Normalerweise treffe ich Vorkehrungen, weil ich diese Unterbrechungen hasse, doch heute habe ich das Gegenteil getan.
Durch die Freisprechanlage fordert Momo mich mit seiner warmen Stimme auf, Vadim und ihn reinzulassen. Ich tue, was er sagt. Eine Sekunde lang wirkt es fast surreal auf mich, dass sie Jenn im Schlepptau haben. Dann wird mir klar, dass es ganz einfach Zufall sein wird. Sie wissen alle Bescheid. Und sie sind alle gekommen.
"Wo ist deine Frau jetzt?", fragt Momo ohne Umschweife.
Wir haben uns an den großen runden Esstisch in meinem Wohnzimmer gesetzt. Ich stiere auf die Obstschale. Ich weiß nicht, wo Iara ist. Das ist peinlich.
Jenn räuspert sich.
"Sie ist zu Stean nach Braunschweig gefahren, sagt Tarik."
Ich sehe Momo verständnisvoll nicken und mache mit. Vadim hat die Hände in den Hosentaschen und mustert mich schweigend von der Seite. Wieder ergreift Jenn das Wort. "Das zwischen euch ist nicht endgültig vorbei, das ist dir klar, oder?"
"Gar nichts ist mir klar", murmle ich.
"Komm, Großer." Sie taxiert mich durchdringend, bis ich sie anschauen muss. "Lass die Scheiße. Schieb nicht die Verantwortung von dir weg. Du gehst erstmal weiter zu deinen Sitzungen. Sie beruhigt sich schon, du beruhigst dich auch -"
"Mann, Jenn. Therapie ist keine Wunderheilung", knurre ich und schäme mich im nächste Moment, was jeder, der hier gerade mit mir am Tisch sitzt, merkt.
Als ihre Blicke drohen, unerträglich für mich zu werden, stehe ich auf und fange an, im Zimmer auf und ab zu laufen. So wie vorhin, als ich den PC hochgefahren habe. Wie lange ist das her?
"Ich bin nicht dieser Mensch", sage ich mir leise und wiederhole es. "Ich bin nicht dieser Mensch. Ich bin nicht dieser Mensch."
"Warst du aber."
Vadims Worte treffen mich dort, wo es am allermeisten wehtut. Dadurch, dass er sich so selten äußert, hat seine Meinung besonderes Gewicht für mich. Er sieht mir mitten in die Augen und ich bin gebannt von seinem Gesichtsausdruck, der so blank und neutral ist, dass ich auch dann keinen Vorwurf hineininterpretieren kann, wenn ich mir die allergrößte Mühe gebe. "Zeit, was zu verändern", fügt er noch hinzu.
"Du musst", betont Momo und Jenn nickt bekräftigend.
"Hannes hatte einen kleinen Bruder, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, und der sah aus wie ich", platzt es aus mir heraus. "Er hieß Elias."
Drei Augenpaare sind weit aufgesperrt.
"Wie hast du das rausgefunden?", fragt Jenn.
"Über seine Ex und seinen älteren Bruder. Die haben Iara gestalkt, dann haben sie ihr dreistes Verhalten aber erklärt und uns Fotos von früher gezeigt. Darauf ist Hannes mit seinem Bruder zu sehen. Mit Elias. Aber das könnten genauso gut Bilder von Hannes und mir sein. Ich hab mich nicht von Iara getrennt, weil's mal wieder an der Zeit war. Wir haben uns getrennt, weil das alles einfach viel zu viel ist. Mein Vater ist erst vor ein paar Monaten gestorben, Hannes macht uns ständig Ärger. Währenddessen zerfickt das anstehende Album meinen Kopf." Ich trete an meine Freunde heran und sage verzweifelt in die Runde: "Ich bin am Limit. Iara auch. Aber es ist gut, dass ihr da seid. Ich will wirklich keine Scheiße bauen. Das hier ist meine allerletzte Chance im Leben."
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