Extrempositionen

Wieder Tuas Sicht, schließt nahtlos an ...

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Ich antworte nicht sofort, esse weiter und versuche zu fassen zu kriegen, was aus Hannes und mir geworden ist. Aber bevor ich dem Ding einen Namen geben kann, flutscht es mir immer weg.

"Hallo?", macht Jenn irgendwann genervt und bewegt ihre Hand vor meinen Augen auf und ab. "Jenn an Tua, bitte melden?"

"Hör mal auf jetzt damit", sage ich schroff und greife nach ihrem Unterarm. Sie leistet keinen Widerstand, also gebe ich sie frei. "Ich weiß es nicht. Wir sind Brüder für immer, das haben wir uns geschworen. Aber hat er's mir geschworen oder Elias? Ich weiß gar nicht, ob er je begriffen hat, dass ich nicht tatsächlich sein Bruder bin, und das lässt mich ganz seltsam fühlen." Jenn nickt ernst zu meinen Worten. "Ich treffe ihn nächsten Freitag, hol ihn von der Arbeit ab. Wir wollen boxen, dann was essen. Er will mit mir reden über ein paar Dinge, hat er gesagt."

"Über Iara und dich."

"Auch, wahrscheinlich. Aber wenn er sagt, er will reden, dann weißt du nie genau, was kommt. Ich glaube, Iara hat vielleicht recht und er hat 'ne Nummer mit Joyce geschoben. Wir haben oft über Reviergrenzen geredet früher."

Ihre Hand knallt auf meinen Hinterkopf.

"Au, wofür war das?", beschwere ich mich und reibe mir über die schmerzende Stelle.

"Was für Reviergrenzen? Zeig mal bisschen mehr Respekt für Frauen."

"Sei mal nich' so streng, du weißt doch, was ich gemeint habe."

"Dann sag auch, was du meinst und labere keinen Müll", bleibt sie unerbittlich und ich verdrehe die Augen, wofür ich sie mich ein zweites Mal schlägt.

"Okay okay, ich achte auf meine Worte und du achtest auf deine Aggressionsprobleme, Deal?!", fahre ich sie ungehalten an, weil es mir wirklich gegen den Strich geht. Was sie zum Glück spürt.

"Tut mir leid", nuschelt sie und beißt in ihr Sandwich um die unangenehme Stille zu rechtfertigen, die sich zwischen uns breitmacht.

"Ehrlich, dieser Typ ...", sinniere ich irgendwann weiter über Hannes. "Ich wusste immer, irgendwas stimmt nicht mit ihm. Er war noch destruktiver drauf als ich und gleichzeitig haben wir die geilsten Gespräche über so Vieles geführt. Über Rebellion, Liebe, Freundschaft, Loyalität, Verbrechen und Strafe, Krieg ... Wir haben über alles geredet, wenn wir allein waren, nur fast nie über ihn. Mir ist das auch immer aufgefallen. Ich hab trotzdem nie versucht, es in 'ne andere Richtung zu drehen mit ihm. Vielleicht hab ich gemerkt, dass er aus meinem Leben verschwinden wird, wenn ich ihm zu krass auf den Zahn fühle. Das wollte ich nie. Aber jetzt, wo ich weiß, was wirklich los war und wie er überhaupt nach Berlin kam und wieso, da ist es doch fast egal, ob er wieder verschwindet. Ich dachte, ich würde voll die wichtige Rolle in seinem Leben spielen, aber ich - so als Mensch - bin ja eigentlich voll egal. Und schon immer egal gewesen auch. Ich bin ein Ersatz für seinen kleinen Bruder und er sieht mich in dieser Rolle. Für ihn bin ich Elias, wie er ihn nie hat kennenlernen können. Statt ihn altern zu sehen, hat er mich altern sehen."

"Tua", wirft Jenn ein. "Komm, bitte. Sieh das einmal in deinem Leben klar - Hannes hat sich dauernd in die Scheiße reingeritten, und wie er mit Iara geredet hat, davon will ich gar nicht erst anfangen. Ich mach das nicht gern, aber ich analysiere dich jetzt einfach mal auf 'ner psychologischen Ebene, okay? Du bist dein eigener größter Feind und du hast dir jemanden gesucht, der das im Außen für dich verkörpert. Hannes spielt auch für dich nur 'ne bestimmte Rolle. Er ermöglicht es dir, dich mit dem zu konfrontieren, was du an dir selbst nicht leiden kannst. Mit deinen Extrempositionen. Du hast versucht, diesen Mann zu lieben als wäre er dein Bruder, weil du endlich in Einklang mit deinen Anteilen kommen wolltest. Das machst du seit Jahren. Und was anderes war deine Beziehung zu Iara in dem Sinne auch nicht, du wolltest einfach nur ihr Wesen verstehen, weil du wusstest, das bist auch du. Aber Menschen gehen darüber hinaus. Warum fühlt es sich wohl an, als hätten du und Hannes aneinander vorbei gelebt? Na, weil genau das passiert ist, du Hirni."

Ich runzle die Stirn und schlucke den letzten Bissen herunter, den ich mit einem Schluck Sprite wegspüle.
"Ich glaub, ich hab dich noch nie so lange am Stück reden hören", sage ich.

Jenns Augen blitzen gefährlich.
"Nichts ist für immer. Nicht, wenn du dich verändern willst, und das musst du, wenn du frei sein willst. Dann ist es egal, wer bleibt. Alle die gehen, gehen - weil sie gehen sollen. Wenn Hannes aus deinem Leben verschwindet ist es nur das Beste."

"Und was ist mit Iara? Wenn sie verschwindet, ist das dann auch das Beste?"

"Keiner ist da was Besonderes", gibt sie ihre Überzeugung preis.

"Deswegen hast du Angst vor der Hochzeit", schieße ich zurück.

Sie blinzelt überrascht.
"Was?"

"Du hast Angst, weil die Leute sagen, man heiratet nur jemanden, der besonders ist. Aber Tarik ist für dich nichts Besonderes. Er behindert dich auch nicht in deiner Freiheit, also darf er bleiben, solange er will. Ich glaube wie du, dass keiner wirklich was Besonderes ist. Nur Liebe an sich ist was Besonderes, und du kannst nur für wenige Menschen so tief empfinden. Ich hab für vier Frauen Liebe empfunden in meinem Leben, und klar, vielleicht steht Nummer fünf schon irgendwo in den Startlöchern, aber Nummer vier ist Iara und das, was sie und ich geteilt haben, ist auf alle Fälle nichts, was ich leichtfertig aufgeben will. Ich weiß, dass das bei dir und Tarik genauso ist. Und ich schwöre dir eins: Wenn du nicht bald begreifst, dass das allein schon ausreicht um einen Menschen guten Gewissens zu heiraten, dann wird es bloß noch schwieriger zwischen euch. Entweder du lässt dich darauf ein, dass du ihn so sehr liebst, was 'ne Tatsache ist, oder du lässt deine Angst gewinnen und ihn gehen. Deine Entscheidung."

Zuerst sagt sie eine Weile gar nichts, dann scheinen die Worte langsam bei ihr anzukommen.
"Wir hatten über dich geredet", murrt sie schließlich.

"Und dann haben wir über dich geredet. Gott, Jenn. Du bist nicht unsichtbar. Was war so schlimm daran?"

"Nichts, war schon okay", gibt sie zu.

"Klär das mit Bulgarien mal. Ich fahr ins Studio. Falls du was brauchst oder so, meldest du dich." Wir umarmen uns und ich lege einen Zwanziger auf den Tisch. "Bis dann."

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