Die Fragen 1-6
Um dreißig Euro ärmer und drei Selbsthilfebücher reicher verlasse ich die Buchhandlung meines Vertrauens am Montag. Der Sonntag nach der Party war schwer für mich. Pari war zum ganztägigen Lernen mit ihren Kommilitonen verabredet. Mika hingegen hat mir nicht einmal gesagt, wo er ist, seine Nachrichten sind ungelesen geblieben, bis er mir heute Vormittag geantwortet hat, dass er diesen Abend wieder zu Hause ist, dann aber mit einigen Leuten zum digitalen Spieleabend verabredet ist. Er meinte, er würde mir anbieten, mitzumachen, hätte aber kein gutes Gefühl dabei. Als ich ihn gefragt habe, wieso, hat er mir freiheraus geantwortet, dass ich meine Situation nicht angehe und ihm wohler dabei wäre, wenn er mich zur selben Zeit in der WG wüsste, aber allein. Nur beschäftigt mit mir und meiner Lage. Mich hat das im ersten Moment schwer schlucken lassen, aber auf den zweiten Blick kann ich würdigen, wie recht er hat.
Deshalb geht es heute um meine Interessen. Eins davon ist definitiv die menschliche Psyche und mit der will ich mich befassen. Auch wenn ich vom Fachkauderwelsch nur wenig Ahnung habe: Wozu gibt es populärwissenschaftliche Sachbücher? In ein paar davon kann ich reinschnuppern. Ich habe mir losen Tee in der Markthalle gekauft und werde mich mit einer wohltuenden Tasse der Bergkräutermischung sicher einige Stunden beschäftigt halten können. Das ist in jedem Fall als Kiffen und Tuas Alben hören.
Noch nie war ich so auf mich gestellt wie jetzt, und ich bemerke meine fehlende Selbstfürsorge an allen Ecken und Enden. Es war so einfach, meine eigenen Bedürfnisse zu vergessen, solange ich mich nur auf andere und besonders auf meinen Freund konzentriert habe. Und es wäre nicht minder einfach, damit weiterzumachen, indem ich Serien bingewatche. Aber die Bücher in meinen Händen habe ich aus einem Grund erworben. Sie haben mit mir und meiner Situation zu tun. Und ich bin bereit für eine neue Perspektive. Auch wenn final ich diejenige bin, in der das Umdenken stattfinden muss - So ein paar Anstöße können nicht schaden.
Ich schließe die Tür auf und bereite alles vor für die Lese-Session, doch als ich mich zwischen den Decken und Kissen ausgebreitet habe, die dampfende Teetasse neben mir auf dem Nachtschrank, erstarre ich plötzlich und mich überfällt die Trauer, die ich auf Arbeit immer wieder beiseite schiebe. Ich atme ein und aus, möglichst tief und langsam. Denn ich will nicht so heulen, nicht in Panik und Verzweiflung, weil ich nicht weiß, wie es weitergehen soll. Dieses Mal werde ich mich nicht reinsteigern, nehme ich mir vor. An sich darf die Trauer da sein, aber ich muss an Steans Worte denken: Das ist die Tränen nicht wert. Stimmt, unwiderruflich.
Einige Male sage ich es mir im Stillen und atme. Es geht bei dieser Trennung doch um keinen echten Verlust. Das, was so wehtut, ist das Trugbild, das kaputtgegangen ist. Alle drei Bücher, die hier vor mir liegen, werden mir das bestätigen. Warum es so wehtut, als hinge mein Leben davon ab, das ist die Frage, der ich nachgehen sollte.
Aber ich weiß auch, wieso. Kraftvolle Illusionen über Beziehungen haben mir geholfen, mein Leben von früher zu überstehen. Mein ganzes Netz aus den hunderttausend Menschen, die ich heute kenne, hatte ich damals noch nicht. Es ging immer um Loyalität in meiner Jugend, aber Loyalität aus welchen Gründen und mit welchen Menschen? Unser Motto bei den Kleptos war, dass wir gemeinsam durch die Hölle gehen, und viel weiter konnten wir uns gar nicht leisten zu denken. Es war immer eher eine Frage der Zeit, bis die Polizei dahinterkommen würde. Aber als unsere Diebesbande aufgelöst wurde, hatte meine Schwester mich schon irgendwie da rausgeboxt. Gegen meinen Willen, doch im Nachhinein bin ich ihr dankbar.
Diese Art von kranker Loyalität hat sich mit den ehrgeizgetriebenen Bildern einer grandiosen Zukunft verbunden, als ich Tua begegnet bin. Weil ich weiterträumen konnte als nur bis morgen. Weil wir beide aus so scheinbar zerrütteten Verhältnissen kommen. Weil es für uns beide was Besseres geben musste als die Vorstadt und diese Teenagerjahre.
Wenn ich mir überlege, woher unsere Verbundenheit rührt, dann aus viel Verarbeitung. Tua ist wie eine Romantisierung dieses Lebensabschnitts. Wenn wir einander gekannt hätten, wie hätten wir uns gegenseitig beeinflusst?
Noch während ich nach einer Antwort auf diese Frage suche, stürzt das gesamte Gedankenkonstrukt über mir zusammen. Mir den Kopf zu zerbrechen hilft mir nicht weiter. Besonders nicht mit den großen Was-wäre-wenns.
Ich bin allein. Ich bin wirklich allein.
Zitternd greife ich nach einem der Bücher, die ich gekauft habe und blättere das Inhaltsverzeichnis auf, suche nach einer Anleitung fürs Alleinsein. Gleichzeitig rast es durch mich hindurch, wie ich das verlernt haben kann, wo meine Lebendigkeit abgeblieben ist, was passiert ist, dass ich mich so abhängig von Tua gemacht habe - welcher verdammte Teil von mir wollte das?!
Ich lege das Buch wieder weg und greife stattdessen nach dem Tee. Es ist wichtig, dass ich mich beruhige. Am liebsten würde ich vorspulen, um zu verstehen, wie das alles miteinander zusammenhängt. Warum es so kommen musste. Aber mir bleibt wie immer nur das Vertrauen in die Geschicke des Universums. Vor seinem Tod hat Tuas Vater mir verraten, dass sein Sohn mich heiraten will. Vielleicht liegt das alles noch immer im Bereich des Möglichen. Vielleicht sollte ich die Hoffnung nicht aufgeben.
Oder ich sollte genau das tun.
Ich habe keine Antworten, nur so viele Fragen.
In sekundenschnelle habe ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt und notiere sie mir alle auf einem DIN-A5-Block, den ich sonst für meine To-do-Listen benutze.
1. Was ist mir außerhalb meiner Beziehung wichtig?
2. Kann ich mir vorstellen, irgendwann in der Zukunft nochmal mit einem anderen Mann zusammen zu sein?
3. Wie habe ich mich gefühlt, bevor wir zusammengekommen sind im Vergleich dazu, wie ich mich nun fühle, wo es vorbei ist?
4. Wenn ich meine eigene Freundin wäre: Was für einen Umgang mit der Trennung würde ich mir für mich wünschen?
5. Was muss sich in mir ändern, damit ich wieder sowas wie glücklich mit meinen Leben bin?
6. Was ist meine Vision, wohin es mit mir gehen soll?
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