Die Büchse der Pandora

"Aufstehen." Neben meinem Ohr schnipst es. Murrend krümme ich mich zusammen, drehe mich weg von Stean, der sich neben die Couch hockt und sich den Geräuschen nach zu urteilen munter Cornflakes löffelweise in den Mund stopft. "Du kriegst gleich deine eigene Schüssel."

"Geh weg."

"Du träumst wohl immer noch. Ich geh nicht weg, Misty." Zuerst versteife ich mich, als er es sagt, aber er will mich nur aus meinem Schildkrötenpanzer hervorlocken. Weil es ihn kümmert. Und ich liebe ihn unter anderem eben dafür. Also überwinde ich mich mit einem Seufzer.

"Bringst du mir einen Kakao?" Als ich mich umdrehe, blicke ich geradewegs in das grinsende Gesicht meines besten Freunds.

"Warm oder kalt?"

"Warm, bitte." Er springt auf. "Stean", pfeife ich ihn eilig zurück, ehe er im Flur verschwinden kann. "Kippst du einen Espresso obendrauf?" Überrascht hebt er die Augenbrauen. "Ich lag wach diese Nacht ...", gebe ich leise zu und starre auf die weißen Sonnenflecken auf seinem grauen Teppich. Das Herbstlicht fällt durch die Dachluke. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist.

"Du hättest zu mir kommen können", sagt er.

Ich schweige, und er weiß wieso. Er ist nicht derjenige, in dessen Arme ich mich gewünscht habe.

"Mach mir bitte meinen Kakao, und vergiss den Espresso nicht."

Mit Steans Rückkehr hat sich in seinem Wohnzimmer dann so einiges getan. Ich habe meine Schlafstätte aufgeräumt und mich selbst auch etwas. Äußerlich jedenfalls. Eine Spange hält meine Locken fern von meinem kaltgeschwitzten Nacken. Stean hat mir ein T-Shirt von sich zum Schlafen gegeben und ich habe es inzwischen gegen eins von meinen eigenen eingetauscht. Es liegt gefaltet unter meinem Kopfkissen. Außerdem bin ich in ein Paar Jogginghosen geschlüpft.

Er reicht mir meinen Wachmacher. "Danke", flüstere ich. Gleich beim ersten Schluck schmecke ich aber, dass er den Espresso weggelassen hat. "Für nichts", füge ich entsprechend garstig hinzu, doch Stean zeigt sich davon unbeeindruckt. Dass er mich keinen Kaffee auf meinen Schlafmangel kippen lassen wird, hätte ich mir denken können - genau das drückt seine Miene unmissverständlich aus.

"Erzähl", fordert er mich sanft auf.
Ich wärme meine Hände an der Tasse und setze mich aufs Sofa. Er lässt sich neben mir nieder und mustert mich ausgiebig. Zu ausgiebig.

"Kannst du das lassen?", fahre ich ihn gereizt an. Ich schnalze mit der Zunge und kassiere einen Todesblick von ihm.

"Was soll die Scheiße, Iara?", will er nun wissen. Er klingt so streng. Ich könnte heulen. Gerade weil ich diesen Tonfall verdiene. "Rede darüber mit mir. Du hast dich von ihm getrennt, obwohl du ihn liebst. Ich weiß, wie hart das für dich sein muss. Genau deshalb wär's besser, du würdest mit mir darüber reden."

Ich schlucke hart und nippe ohne ihm zu antworten an meiner heißen Schokolade. Vielleicht hört mein Hals dann damit auf, sich immer weiter zuzuschnüren. Fehlanzeige.

Im nächsten Moment rinnen mir dicke Tränen die Wangen runter und ich versuche nicht einmal, sie wegzuwischen.

Stean bleibt still und ich weine neben ihm. Er sagt nichts, er umarmt mich auch nicht. Irgendwie tut es trotzdem gut, dass er einfach da ist. Ich kann sein Deo riechen und die Wärme fühlen, die von ihm ausgeht. Die Tränen werden weniger. Ich trinke einen kleinen Schluck Kakao. Dann noch einen Zweiten, einen Größeren diesmal.

Erst jetzt lehnt Stean sich mir ein Stück entgegen. Die Tasse Kaffee, die er in der Hand hält, duftet verführerisch. Stean trinkt zwei Americanos am Tag, einen am Morgen und einen nach dem Mittagessen. Ich schaue ihn an, meinen besten Freund, der mir so vertraut ist. Wenn ich mit ihm nicht sprechen kann, dann mit niemandem.

"Da ist ein Loch", beschreibe ich es. Danach weiß ich gar nicht weiter.
"Da ist viel Platz, wo vorher keiner war, hm?", formuliert er es um und ich nicke.
"Er fehlt", fasse ich die Tatsachen nüchtern zusammen. Stean nickt.
"Aber nicht erst seit vorgestern, oder?"
"Nein", hauche ich, und wieder brennt es, in meinen Augen, meinem Hals, meinem Kopf.

"Ich muss das fragen", schickt er voraus, bevor er mit der eigentlichen Frage loslegt: "Hast du ihm geschrieben heute Nacht?"
Ich schüttle den Kopf.
"Por deus ... Ein Fitzelchen Würde ist mir geblieben."
"Hat er dir geschrieben?"
Ich lege die Stirn in Falten.
"So ein schlechtes Bild hast du von Tua? Dass du glaubst, er macht sowas?" Stean zuckt die Schultern.
"Früher war er anders."

Er belässt es dabei. Wir trinken beide in stummer Eintracht.

"Ja, das stimmt", bestätige ich irgendwann. "Blöd, was? Ich hab die Büchse der Pandora geöffnet, das war keine gute Idee."
"Was redest du für Schwachsinn? Du hast nur eins geöffnet - sein Herz." Stean sieht mich an und der Ernst in seinen braunen Augen lässt mich milde lächeln. "Steh dazu, verdammt."

Meine Augen wandern wieder zu den Sonnenflecken. Flecken klingt so unförmig. Es sind eigentlich Streifen. Diagonal und scharfkantig drängt sich die Sonne durch die Jalousie.

"Ich musste oft an seine Ex denken, weißt du?", offenbare ich. "Was sie wohl über mich gedacht hat. Oder denkt. Nachdem sie Tua so viele Jahre bearbeitet hat, ist ihre Beziehung zu ihm ultimativ in die Brüche gegangen. Obwohl sie sein Kind unter dem Herzen getragen hat. Und bis wir beide dann in einer festen Beziehung waren, hat es nicht halb so lang gedauert. Was, wenn ich auch nur so eine Art Wegbereiterin für eine andere Frau bin? So wie sie am Ende nur meine Wegbereiterin war."

"Sie hat eine unglaublich wichtige Rolle in seinem Leben gespielt, Iara. Sprich ihr das nicht ab. Sie war mehr für ihn als nur eine Wegbereiterin für die, die nach ihr kommen sollte. Und wie sie bist auch du mehr. Das ist die einzige Gemeinsamkeit mit seiner Ex, die dich interessieren sollte", hält er dagegen.

"Hast du weitergemacht nach Katja?" Ich weiß, dass Katja ein rotes Tuch für ihn ist, aber ich hab mich selten so allein gefühlt wie in dieser Sekunde. Sowas wie ein Leben nach Tua sehe ich nicht für mich. Bei Stean und Katja war das ähnlich damals.

"Jeden Tag", erwidert er. "Ich hab jeden Tag weitergemacht. Manchmal hieß das, nach einer schlaflosen Nacht auf Kaffee zu verzichten. Kleine Schritte. Jeder von euch hat mir vorgehalten, dass das bei Weitem nicht reichen wird, um sie endlich zu vergessen. Aber ich wollte sie in Erinnerung behalten. Sie ist meine Vergangenheit."

"Was kommt danach?", frage ich ihn, voller Neugier und Hoffnung dieses Mal.
Er lächelt.

"Frieden."

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