XXII
Eine tiefe, innere Kälte verfrachtet mich die nächsten Tage effektiv auf die Couch. Ich muss mich auf der Arbeit krankmelden. Nagi hat es Julian erzählt, denn am Donnerstagmorgen höre ich seinen Van über die neuen, ungeräumten Schneewehen holpern, die der Winter dort hinterlassen hat. Als wolle er mich abkapseln und einsperren.
Ich lausche Julians Schritten, erst durch den knirschenden Neuschnee, dann dumpf auf der Veranda. Es klopft. Ich stemme mich aus meinen Decken, stelle den Tee ab und schlurfe zur Tür, um ihn hereinzulassen.
»Julian?«, frage ich zur Sicherheit und meine Finger verharrend zitternd auf der Türklinke.
»Nagi hat gesagt, du bist krank. Ich habe Suppe gebracht. Ich weiß ja, dass du wenig kochst.«
Ich lächle matt, zögere aber trotzdem. Spähe zuerst durch den Spion und erst, nachdem ich seinen Anorak und die tief ins Gesicht gezogene Haube erkenne, öffne ich. Ich winke ihn mit schlaffer Geste herein und sperre die Kälte wieder aus. Julian stellt die Tupperbox auf die Anrichte und macht sich daran, die Suppe aufzuwärmen. Ich lass ihn machen und ziehe mich mit der Tasse zurück aufs Sofa. Dann schweigen wir gemeinsam.
Das Erste, was Julian mich fragt, ist, ob ich die Überwachungskamera ausgewertet habe. Ich verneine und ziehe die Wolldecke enger um mich. Allein der Gedanke daran lässt meinen Puls in die Höhe schnellen. »Ich habe Angst«, sage ich zu meinem Tee, der inzwischen kalt geworden ist.
Julian brummt und rührt im Topf.
»Aber nicht, weil da was sein könnte«, erkläre ich der grünlichen Flüssigkeit und schwenke sie behutsam im Kreis. »Sondern, dass da nichts sein könnte.«
Julian stößt ein »Hm« aus und füllt eine Portion Suppe in eine der wenigen Schalen, die ich besitze. Sie hat einen Sprung und im bunten Keramikmuster fehlt eine Ecke. Er reicht mir die Schüssel und legt einen Löffel hinein. Es ist Hühnersuppe und ich glaube, ich habe, seit ich nach Sankt Walborrow gezogen bin, noch nie etwas Herrlicheres gerochen. Ich will mich erklären, aber ich bin zu beschäftigt damit, die Suppe trotz Temperatur in mich hineinzuschaufeln.
Julian setzt sich an den Küchentisch und beobachtet das flackernde Feuer durch das Ofengitter, legt nach und stellt die leergegessene Schale ins Spülbecken. »Wieso fürchtest du dich vor nichts?«
Die Frage fühlt sich vorsichtig an, sie schwebt wie ein Löwenzahnsamen in der unbewegten Luft meiner Küche und wagt es nicht, sich zu setzen. Genauso wenig, wie ich es wage, darauf eine laute Antwort zu geben. Ich habe die Erklärung direkt vor mir, sehe die Worte wie bunte Wimpel hin und her tanzen und zögere.
»Weil es bedeutet, dass ich verrückt bin.«
Julian hebt die Schultern. »Zwischen verrückt sein und den Symptomen eines Traumas liegen Welten.«
Trauma. Das Wort ist wie ein Feind, ein ungebetener Gast, der sich unbehaglich zwischen uns drängt. Aber nicht nur zwischen Julian und mich, hier inmitten meiner winzigen Küche, die nur aus Couch und Tisch zu bestehen scheint und dennoch von einem Abgrund zerteilt ist, der wie ein bodenloses Loch klafft, sondern auch zwischen Nagi und mir. Zwischen allen, die hier gestrandet sind.
»Ich habe kein Trauma«, sage ich fest und überzeugt. »Aber ich werde bald eines entwickeln.«
Julian wirft mir einen Seitenblick zu und schmunzelt, als er mein schwaches Grinsen sieht. Ich senke meinen Blick wieder auf meine Hände und zupfe an den Fransen der Wolldecke. Dann schauen wir uns eben die Videoaufzeichnungen an, sage ich zu meinen Knien und Julian nickt.
Ich behalte Recht. Auf dem Überwachungsband sieht man nichts Außergewöhnliches. Wir erkennen meinen flimmernden Kopf im Fenster der Hintertür, wie er durch die Nachtsichtkameras in starkem Kontrast in grün und weiß schwebt, aber von den Geräuschen fehlt jede Spur. Da ist nichts und obwohl ich mir dessen bewusst war, rieselt mir eine kalte Gänsehaut den Rücken hinunter, krabbelt über meine Arme und Beine und geht mir unter die Haut.
»Jetzt weißt du zumindest, dass du dich nicht fürchten brauchst«, sagt Julian, aber ich schweige. Ich erzähle ihm nicht von meiner nächtlichen Besucherin, denn wie das Klopfen wird sie erst real, wenn ich es ausspreche.
Julian erkundigt sich nach meinem Befinden, ich danke ihm für die Suppe und er entschuldigt sich. Die Arbeit ruft und er muss heute einige Besuche machen. Ich nicke und winke ihm hinterher. Sobald sein Van außer Sichtweite ist, sperre ich die Tür energisch ab. Es wird Abend und ich mache mir Tee, werfe einen letzten Blick aus dem Fenster, widerstehe dem Drang, Nagi anzurufen und um Gesellschaft zu bitten, und halte mitten in der Bewegung inne. Die Kanne in meiner Hand wird schwer, aber ich merke es kaum. Die Fahne meines Postkastens ist oben. Das Geräusch der Kanne, die auf der Theke aufsetzt, dröhnt laut in meinen Ohren und mischt sich mit dem Ticken der Wanduhr. Ich kann es nicht erklären, aber ich reiße die Türe auf und bin auf halbem Weg zu diesem verhöhnenden roten Quälgeist, ehe ich mich entsinne, was ich hier mache. Es ist zu spät, mich umzuentscheiden, ich spähe die Auffahrt hinab, sehe aber nichts als zugeschneite Sträucher und Bäume und öffne die Klappe.
Da liegt ein Brief. Er ist schneeweiß und unberührt, aber die Tinte auf seiner Brust ist rot wie Blut. So rot wie die Fahne des Postkastens, so rot wie die Schneebeeren und so rot wie die Haube im Federkleid des Spechtes. So rot wie die Stickerei auf meinem Hemd und so rot wie die Kiemen des Zanders, wenn er nach Luft schnappt.
Du weißt, was zu tun ist.
Mehr ist es nicht, dass auf dem Blatt Papier steht, das mit ebenso roter Tinte beschrieben wurde. Ja, das weiß ich. Ich nehme den Brief mit hinein und verschließe meine Tür.
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