XV
Die nächsten Tage berichte ich Nagi, was sich zugetragen hat, und sie schlägt ebenfalls vor, dass ich eine Weile aus dem Haus gehe. Ich hebe unschlüssig die Schultern, gestehe, dass sich das wie eine Flucht anfühlt, und das finde ich nicht gut.
Nagi, die normalerweise den Leuten ihren Willen lässt, sieht mich aber nur besorgt an. Meine Augenringe müssen schlimmer aussehen, als heute Morgen im Spiegel. Sie empfiehlt mir, dass ich mir Urlaub nehme, aber ich lehne ab.
Nein, dann hätte ich nichts mehr, das mich ablenkt. Ich weiß, dass sie donnerstags meistens ihren Buchklub hat, aber heute schlägt sie vor, nach der Arbeit Eisfischen zu fahren.
Also fahren wir nach der Arbeit zum Eisfischen. Wir halten kurz vor ihrer Hütte, sie packt ihre Sachen, wir brühen uns Kaffee auf und sie zieht sich ihren gefütterten Anorak an. Wir stoppen auch kurz bei mir, damit ich mich ausrüsten kann, und dann bringt sie uns einen Kilometer weiter südlich meines Hauses an den See. Ich bin erleichtert, mehrere Autos parken zu sehen. Wir sind nicht die Einzigen hier.
Nach dem heftigen Schneefall der letzten Tage strahlt heute wieder die Sonne, und die Oberfläche des Sees ist bereits zerfurcht von Schlittschuhen. Wir suchen uns unseren üblichen Ort und gehen ans Werk. Es ist beruhigend, etwas zu tun, das der Körper gewohnt ist und ich wundere mich nur ein wenig darüber, wie mir das Eisfischen schon nach diesen wenigen Jahren bis ins Blut übergegangen ist. Ich bohre das Loch ins Eis und vergrößere die Wuhle ein wenig, während Nagi die Angeln vorbereitet.
Es ist idyllisch. Es ist beruhigend auf dem kleinen Hocker zu sitzen und einfach zu warten. Zu wissen, dass die Arbeit zu einem kommt, dass man nichts tun kann, außer zu warten.
Jetzt musst du zu ihnen gehen, bevor sie herausfinden, wie sie zu dir gelangen. Eine Gänsehaut kriecht mir über die Arme. Ich kann nicht warten. Ich muss zu ihnen gelangen, bevor sie zu mir kommen. Um was zu tun? Was machen sie mit mir, wenn sie mich erwischen?
Meine Gedanken fangen wieder an, sich zu drehen, ich kann der Ruhe nichts mehr abgewinnen. Ich rutsche auf meinem Hocker hin und her, fühle mich verfolgt und blicke oft nach Norden. Dort, wo mein Haus wartet. Wo die Türe wartet. Was mache ich bei ihnen? Erschlage ich sie mit der Axt? Lasse ich sie mich erschlagen? Spreche ich mit ihnen? Oder stille ich bloß ihren Hunger, bis sie das nächste Opfer finden? Sie wissen doch schon genau, wer ich bin. Woher ich gekommen bin. Wieso ich hier bin. Was wollen sie von mir?
Nagi seufzt neben mir. »Wenn du nicht still sitzt, verscheuchst du nicht nur die Fische. Und einen Zander fängst du dann bestimmt nicht.«
Ich ringe mir ein Lächeln und eine Entschuldigung ab. Ob ich vielleicht die restliche Woche bei ihr unterkommen kann. Sie zögert nur kurz. Ich weiß, dass diese Bitte eine stille Abmachung bricht. Wir erhalten keine Einblicke in unsere Privatsphäre. So funktioniert unsere Freundschaft und das erste Mal frage ich mich, ob sie nur deswegen überhaupt funktioniert. Weil ich nicht weiß, wer Nagi ist. Oder wer sie gewesen ist.
Ich bin dabei meine Bitte zurückzuziehen, da willigt sie schließlich ein. Aber sie muss aufräumen, meint sie. Zurzeit gibt es keinen Platz für mich. Ich nicke, versichere aber, dass sie das nicht tun muss. Nagi presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.
»Ich weiß. Aber du brauchst Hilfe. Ich werde sie dir nicht ausschlagen.«
»Danke.«
Wir fangen nichts, aber das ist in Ordnung. Nagi setzt mich zuhause ab und fährt dann aufräumen. Ich biete ihr an, zu helfen, aber sie lehnt entschieden ab. Stattdessen packe ich eine kleine Reisetasche mit den wichtigsten Dingen. Kleidung, Badeutensilien, ein Handtuch. Ich stehe vor den wenigen Habseligkeiten, die ich besitze und kaue auf meiner Lippe. Ich weiß, dass Nagi mich nicht bei sich haben möchte. Vielleicht ziehe ich sie dadurch mit in das, was mich verfolgt. Lege eine Fährte.
Ich rufe sie an und erkläre ihr, dass es schon in Ordnung ist. Nagi ist für einen Moment lang still. Dann bedankt sie sich und fängt an zu weinen. Ich bin schockiert, vor den Kopf gestoßen. Ich habe Nagi noch nie weinen gehört oder gesehen, noch nicht einmal den Tränen nahe. Ich gestatte mir eine Frage.
»Willst du darüber sprechen?«
Nagi lehnt ab. »Jetzt nicht.«
Ich akzeptiere das und versichere ihr, dass wirklich alles in Ordnung ist. Sie bietet mir aber an, das Wochenende bei mir zu bleiben. Ich sage, sie muss sich zu nichts verpflichtet fühlen, wenn ihr nicht wohl dabei ist. Sie bedankt sich wieder und dann legen wir auf.
Ich sitze diesen Abend ruhiger auf meinem Sofa vor dem Ofen und sticke. Ich denke, es ist gemein, in den realen Problemen meiner Mitmenschen Halt zu finden. Aber ich tue es, ich finde Halt und mit einem Schlag rücken meine eigenen ein Stück weit nach unten. Ich frage mich, was Nagi passiert ist. Wovor sie geflohen ist. Warum sie niemanden zu sich nach Hause bringen kann. Aber das sind Fragen, die darf ich eigentlich gar nicht stellen. Das ist Nagis Sache, nicht meine.
Ich denke auch an Julian. Den Van mit ihm zu teilen, war in Ordnung gewesen. Vielleicht muss ich aufhören, so ein Kind zu sein. Ich bin schreckhaft und das wirkt sich auf meine Freunde aus.
Ich prüfe die Schlösser und gehe früh schlafen. Schlafe das erste Mal seit Wochen durch. Der Tag auf dem Eis hat wirklich Wunder bewirkt und ich nehme mir vor, öfters draußen zu sein. Gerade jetzt.
Ich habe heute Spätschicht im Café und lasse den Freitag langsam angehen. Mache Tee und Frühstück, räume auf, leere den Ofen. Hole frisches Holz und sehe im Schuppen nach dem Rechten. Ich räume ein wenig Schnee hinterm Haus und warte auf den Specht. Er fängt an zu hämmern und ich lehne mich mit einer Tasse Tee in der Sonne gegen meinen Schuppen. Es drängt nichts. Gestern hat mich das Warten beunruhigt. Heute tut es wieder gut. Ich höre die Krähen rufen und suche den Himmel zwischen den schwarzen, kahlen Ästen ab.
Ich mache mich fertig für die Arbeit und gehe wieder ins Haus. Gerade will ich die Wohnungstüre aufsperren, als ich sehe, dass das Balkenschloss offen ist. Ich runzle die Stirn und schiebe meine Tasche nach hinten, um mich vor das Schloss zu hocken.
Ich habe ganz sicher abgeschlossen. Das mache ich immer, seit ein paar Wochen noch gründlicher. Ich habe das Schloss sogar vor dem Einschlafen geprüft. Es war ganz sicher zu. Das Gefühl von unzähligen Spinnenbeinen huscht über meine Haut. Nein, denke ich. Ich bin die normalen Schlösser gewohnt. Mit den Balkenschlössern bin ich einfach noch nicht so vertraut. Und das normale Türschloss ist völlig normal zwei Mal abgesperrt. Alles ist normal. Es ist in Ordnung.
Ich gehe nach draußen und schließe hinter mir ab. Dann prüfe ich den Postkasten, aber er ist leer. Über dem See sehe ich einen Schwarm Krähen kreisen. Ich beobachte sie für eine Weile, ehe ich mich losreiße. Ich muss an die indigofarbene Krähe auf dem Postkasten denken, die Nagi nicht gesehen hat. Ich hole mein Rad von der Veranda und kämpfe mich durch wadentiefen Schnee. Ich muss unbedingt auch vor dem Haus schaufeln, wenn ich morgen Zeit finde.
Bei der Arbeit versuche ich Nagi ein positives Gefühl zu vermitteln. Ich spreche viel mit ihr, rede über den Tag auf dem See, bis sie mich mit einem Lächeln zur Seite nimmt und mir versichert, dass alles okay ist.
Okay, sage ich und sie drückt mich kurz. In der Pause erzählt sie mir davon, was sie meinetwegen im Buchklub verpasst hat. Ich konzentriere mich auf ihre Worte, lasse aber den Inhalt des Buches an mir vorbei driften. Nagi ist das gewohnt. Sie hat einmal gefragt, ob ich beitreten will, aber ich habe ihr das mit dem Verlieren erklärt. Ich lese nicht gerne über Dinge, die nicht real sind. Sie hat nicht nachgefragt. So läuft das zwischen uns.
Ich fühle mich mutiger, als ich nach Hause fahre. Dann komme ich auf die Veranda und hole meinen Schlüssel hervor. Das automatische Licht springt surrend an und ich blinzle kurz in die Helligkeit. Dann halte ich inne.
Ich beuge mich zum Schloss und erkenne, dass das Metall zerkratzt ist. War es immer schon zerkratzt? Manchmal brauche ich mehrere Anläufe, um das Schlüsselloch zu treffen, es ist also nicht unüblich, dass kleine Kratzer um das Schloss verteilt sind, aber ... waren sie immer schon so tief?
Ich schlucke und ziehe meine Handschuhe aus. Fahre mit den Fingerkuppen über das Metall. Es ist eiskalt und beißt in meine Finger. Wieso, denke ich, wieso macht ihr das? Die Paranoia ist auf einen Schlag zurück. Ich untersuche die gesamte Türe und finde Kratzspuren auch an den Ecken. Ich schließe auf und stelle fest, dass die Kratzspuren dort enden, wo der Türstock beginnt. Mir wird heiß und dann kalt. Wieso sind mir diese Details nicht schon früher aufgefallen?
Ich gehe hinein und drehe das Licht an, ziehe alle Vorhänge zu und verriegle alle Schlösser. Was mich fertig macht, sind nicht die Kratzer an Tür und Schloss, sondern mein Unvermögen zu sagen, seit wann sie da sind.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top