XIX

Trotzdem sitzen wir am Sonntagmorgen alle um den Küchentisch und spinnen die absurdesten Theorien. Warum die beiden nicht aufgewacht sind. Warum ich sie nicht geweckt habe, schelten mich beide, aber ich hebe nur die Schultern. Ich konnte nicht. Ich konnte nicht rational denken. Julian wirft mir einen langen Blick zu, den ich ignoriere.

»Was genau sollst du denn machen?«, fragt er schließlich. »Was erwartet der Absender von dir, wenn du dort hinaus gehst?«

Ich zucke die Schultern und hebe meine Teetasse mit zitternden Händen an die Lippen. Ich nehme einen Schluck und ziehe dann den Brief zu mir. Überlege mir eine Nachricht. Ich schreibe darauf: Was muss ich machen? Streiche es durch. Was passiert, wenn ich es nicht mache?

»Das schicke ich morgen ab.«

»Morgen?«, will Nagi wissen. »Am besten sofort!«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, Nagi, es ist immer noch Sonntag. Wir können die Türe nicht öffnen.«

Sie runzelt die Brauen und wechselt einen Blick mit Julian. Ich merke, was in ihren Augen geschrieben steht, Zander ist völlig durch den Wind, verrückt, scheinen ihre Blicke die Dinge auszusprechen, die sie mir nicht ins Gesicht sagen wollen.

»Okay, also morgen.«

Ich bedanke mich, zeige ihnen, wo sie sich Frühstück richten können und lege mich in mein Bett.

Der Tag vergeht träge. Julian und Nagi wecken mich nicht und ich geselle mich erst fürs Abendessen wieder zu ihnen. Ich spreche wenig und kaue abwesend auf den Fertignudeln herum. Danach spielen wir wieder Karten, aber auch da bin ich nicht anwesend. Ich denke an die Briefe, an die Warnung, die Aufforderung. An Gerdas Freund und daran, dass ich weglaufen sollte. Dass er und ich es aber nicht können, dass die Briefe immer kommen werden.

Nur Sie können entscheiden, wie es jetzt weiter geht. Womit? Ich habe das nie gewollt. Wie will ich, dass es weiter geht? Ich reibe meine müden Augen und erschrecke, als Nagi ihre Hand auf meinen Unterarm legt.

»Zander?«, wiederholt sie vorsichtig und ich blinzle sie an. »Vielleicht solltest du ein Bad nehmen, das entspannt.«

Ich starre sie verständnislos an, blicke zu Julian, der aber ebenso besorgt aussieht, und nicke mechanisch. Ja, sage ich. Eine gute Idee. Dann stehe ich auf und schlurfe ins Bad. Ich verriegle nicht einmal die Türe, sondern lasse einfach das heiße Wasser in die Wanne laufen, entkleide mich und sinke ins Schaumbad.

Es ist still. Durch die Türe höre ich Julian und Nagi leise plaudern und lachen. Es ist gut, dass sie auch ohne mich zurechtkommen. Dass es Nagi nicht unangenehm ist.

Was habe ich getan, um das zu verdienen? Um diese Briefe zu erhalten? Diese Drohungen? Ich habe nichts verbrochen. Niemals.

Trotzdem finde ich mich später in der Lage, dass ich Nagi darum bitte, mit mir in meinem Bett zu schlafen. Aber in Nagis Augen erkenne ich dieselbe Unruhe, als ich sie gebeten habe, bei ihr unterkommen zu dürfen.

»Es tut mir leid«, sagt sie leise, beschämt, erschüttert und ich weiß, dass ich sie nicht in hundert Leben dazu zwingen würde. Eher leide ich alleine, als eine ihrer Grenzen zu überschreiten. Es ist schließlich Julian, der anbietet, sich zu mir zu legen, und ich nehme dankend an. Nagi sieht zerknirscht, aber gleichzeitig erleichtert aus und ich schenke ihr ein zuversichtliches Lächeln. Sie weiß, dass ich es ihr nicht übelnehme.

Die Idee ist, dass ich das Klopfen in meinem Schlafzimmer nicht höre und daher nicht aufschrecke. Ich liege neben Julian in der Dunkelheit und starre auf das zugezogene Fenster. Mein Bett ist nicht sonderlich breit, wir haben gerade so Platz, Schulter an Schulter zu liegen.

»Zander?«, sagt Julian schließlich in die Stille und ich schiele in seine Richtung. »Warum glaubst du, klopft es?«

Ich schlucke. »Ich weiß es nicht.«

Er brummt. »Und warum glaubst du, erhältst du diese merkwürdigen Briefe, ohne Absender?«

Ich hebe die Schultern. »Gerdas Freund hat auch nicht erklärt, warum er sie bekommen hat.«

»Aber sie wissen alles über dich«, hakt Julian vorsichtig nach. »Wieso sollte der Absender gleichzeitig alles über dich, und alles über Gerdas Freund wissen? Ihr seid völlig verschiedene Menschen und kennt einander nicht.«

Ich öffne den Mund für ein Gegenargument, finde aber keines. So habe ich die Sache noch gar nicht gesehen. Ich bin nicht alleine damit, ich bin nicht verrückt, aber das, was Julian gerade andeutet, lässt mich unleugbar verrückt wirken. Vielleicht habe ich mir Gerdas Freund auch nur eingebildet und da war niemand am anderen Ende der Leitung. Vielleicht habe ich mir das Läuten eingebildet. Ich weiß nicht, ob mich das beruhigt, oder verängstigt.

»Was könnte man von mir wollen?«, murmle ich und drehe mich zu Julian, damit ich nicht länger das Fenster anblicken muss.

»Ich weiß es nicht«, entgegnet Julian und ich spüre seinen Blick auf meinem Gesicht. »Ich kenne dich doch kaum.«

Das sitzt. Irgendwie kränkt es mich, auch, wenn es die Wahrheit ist. Wir kennen uns kaum. Julian und Nagi sind schon seit zwei Jahren Teil meines Lebens und ich weiß nichts über sie oder sie über mich. Im Grunde.

»Ich habe nichts verbrochen«, sage ich leise. »Ich bin nicht hier her gekommen, weil ich mich vor dem Gesetz verstecke«, füge ich hinzu und lausche auf Julians aufmerksamen Atem.

»Wovor bist du dann davongelaufen?«

Die Frage trifft mich mit sanftem Atem mitten ins Gesicht. Ich bin nicht davongelaufen, will ich sagen, kann es aber nicht. Ich denke an das leere Apartment meines Vaters, an die Stille und die Einsamkeit zwischen den Wänden, auf dem Küchentisch und unter dem Teppich. An die kalte, sterile Endlosigkeit in jeder Ecke und die bittere, ätzende Trauer auf jeder Oberfläche.

Ich bringe kein Wort hervor, dafür aber Tränen. Ich bin einsam. Unendlich einsam auf dieser ewig uferlosen Welt.

Julian sagt nichts mehr darauf, streicht mir jedoch einmal sanft über den Kopf. Meine Tränen fließen größtenteils stumm, nur mein angestrengter Atem verrät, wie aufgewühlt ich bin. Und es ist schön, hier zu liegen, in der Einsamkeit die nach außen hin in diesem Moment keine ist.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top