XII

Es dauert viel zu lange, bis ich Julians Van für die Arbeit in meine Auffahrt rollen höre. Es ist bereits dämmrig, die Sonne hat sich heute den ganzen Tag nicht mehr gezeigt. Das Klopfen auch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich für die Nacht in die Wohnküche wandern soll, näher zu Nagi und Julian, aber dafür auch näher zur Türe. Ich denke nicht, dass ich überhaupt schlafen kann, bevor es nicht Mitternacht wird.

Nagi ruft mich an und Julian begrüßt mich ebenso. Er nennt mich Einsiedlerkrebs. »Nicht Zander«, scherzt er und ich verdrehe die Augen.

Er hat eine Runde ums Haus gemacht und die Schuppentüre fest verriegelt, damit nicht wieder Marder einbrechen. Jetzt sitzen die beiden in seinem Van und trinken heißen Kaffee aus der Thermoskanne.

Julian hat seinen Van ausgeräumt und extra Platz für mehrere Decken und Schlafsäcke geschaffen. Dass er Sonntagnacht in seinem harten Auto schlafen muss, stört ihn dabei nicht. Ich vermute, weil er sich den Van mit Nagi teilen kann, oder aber er ist so verrückt wie sie und gewinnt aus dieser ganzen Misere auch noch etwas.

Wir bleiben schließlich die ganze Nacht wach, plaudern über das Eisfischen und dass wir das schon viel zu lange nicht mehr gemacht haben. Nagi erwähnt den Brief nicht und ich spreche ihn auch nicht an. Sie hat ihn zurück in den Postkasten gelegt und ginge es nach mir, könnte er auch dortbleiben. Aber ich weiß jetzt schon, dass das Erste, das ich morgen machen werde, nachschauen ist, was in ihm geschrieben steht.

Als wäre die Situation nicht schon schräg genug, fängt Julian an, Geistergeschichten zu erzählen. Oder viel mehr Geschichten von unheimlichen Kreaturen im Wald, die manchmal, angelockt von menschlicher Zivilisation, auf leichte Beute hoffen.

Nagi lacht hysterisch und ich höre, dass sie Julian heftig gegen die Schulter boxt. Ich kenne auch solche Geschichten von meinem Vater. Aber die beschränken sich nicht nur auf den Wald. Auch im Meer wohnen Ungeheuer. Ich habe als Kind immer gedacht, er meint die Riesenkalmare oder Haie, aber dabei hat er nur den Kopf geschüttelt. Die Meeresbewohner wollen uns nichts Böses. Was dann, wundere ich mich. Ich glaube nicht an Übernatürliches. Vielleicht sollte ich.

Das Klopfen erklingt noch einmal, ehe es Mitternacht wird. Aber dieses Mal ist es subtil, vorsichtig und ich muss den Hörer von meinem Ohr nehmen, um es wahrzunehmen. Ganz sachte tastet sich das Klopfen am Rand meiner Türe entlang, testet sie. In meinem Kopf entsteht das Bild zweier Hände, mit langen, knochigen Fingern, an deren Enden spitze Krallen sitzen. Sie schieben sich in meinen Gedanken über das Holz der Türe, drücken sich neugierig in den Spalt um den Rahmen und inspizieren, ob es einen anderen Weg hinein gibt.

Ich werde Gerda jagen, wenn es sein muss, damit sie mir alles berichtet, was sie über das Klopfen und die Briefe weiß.

Wir sind wohl alle eingeschlafen, ehe der Morgen anbricht. Als ich blinzle, liegt meine Küche in kobaltfarbenem Morgengrauen. Irgendwie habe ich es geschafft, den Hörer aufzuhängen, ehe ich zusammengesunken bin. Ich gähne und strecke meinen verspannten Rücken, hieve mich vom Boden und spähe durch die Spitzengardine hinaus auf den Van.

Alles ist noch von der Morgendämmerung weich gezeichnet, es ist beinahe totenstill, aber das bedeutet, dass es nicht mehr klopft. Ich gehe mich rasch duschen und ziehe mich an. Dann koche ich Tee und mache mich fertig für die Arbeit. Aus dem Augenwinkel schiele ich immer wieder zum Van und als es sieben wird, rufe ich Nagi an.

Sie geht verschlafen ans Telefon und ich erinnere sie, dass wir in einer halben Stunde bei der Arbeit sein müssen. Ein schlecht gelaunter Julian knurrt irgendwo neben Nagi, aber als ich aus dem Haus zu ihnen in den Van steige, begrüßt er mich.

Ich gebe nicht zu, dass es mich eine Menge Überwindung gekostet hat, überhaupt die Türe zu öffnen. Vielleicht kommen wir zu spät, weil ich zu lange mit angehaltenem Atem in meiner Küche gestanden bin und auf die kalte Türklinke gestarrt habe.


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