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Am Samstag fällt mir ein, dass ich noch frisches Holz schlagen muss, und gehe hinaus in den Garten. Es ist nicht wirklich mein Garten, sondern einfach die freie Wiese zwischen Haus und Wald. Im Geräteschuppen lagere ich das vorgeschnittene Holz und gehe an die Arbeit.

Es ist herrlich sonnig und die dicke Felljacke lasse ich im Haus. Die ersten Tage habe ich für sie schräge Blicke von Nagi geerntet. Sie ist Tierschützerin mit Leib und Seele. Dass ich mit einer Robbenfelljacke zur Arbeit erscheine, hat ihr zuerst vor den Kopf gestoßen.

Es ist ein Erbstück, habe ich ruhig erklärt und die Schultern gehoben. Von meinem verstorbenen Vater, aber das habe ich nicht ausgesprochen. Eine Jacke wie diese hält einiges aus, mehr, als der ganze Polyester, den man heute in den Läden bekommt.

Sankt Walborrow hat Verbindungen zu mehrere Häfen für den Fischfang, gelegentlich gehen die erfahrenen Fischer auch auf die Waljagd. Das passiert aber sehr selten, weil Sankt Walborrow keine Lizenz für die Subsidenzwirtschaft besitzt. Manchmal kommen die Jagdgemeinschaften von weiter nördlich der Küste, wenn sie einen Wal bis hier verfolgt haben und man kann ihre Boote draußen vor der Küste schaukeln sehen. Das Wasser ist dann aufgewühlt und immer wieder buckelt der glatte Rücken eines Grauwals aus den Wellen. Es ist ein schaurig schönes Ereignis, das einen Kampf zwischen zwei Naturgewalten darstellt. Zwischen zwei Welten, die einander respektieren, aber von denen nur eine gewinnen kann.

Ich habe Nagi nicht erzählt, dass mein Vater zu ihnen gehört hat. Also viel früher. Noch bevor ich geboren wurde. Er ist nie wieder zurückgekehrt und hat stattdessen ein neues Leben begonnen, nachdem meine Mutter verschwunden ist.

Verschwunden hat er immer gesagt. Nicht gestorben, verschwunden. Als würde sie einfach eines Morgens zurück in unser Leben spazieren. Er hat vergeblich gewartet, viele, viele Jahre.

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und halte inne. Sankt Walborrow ist ein Ort für Gestrandete und Geflüchtete, wie mich. Wie Nagi und Julian. Wie Gerda und ihr Freund. Wie Herr Jakobsen. Man spricht nicht darüber, denn es geht auch niemanden etwas an. Nagi hat mich nie nach meinem echten Vornamen gefragt und ich nie nach ihrem. Es reicht, dass die Behörden Bescheid wissen. Der Absender des Geisterbriefs weiß sogar noch ein Stück mehr.

Ich stelle die Holzfälleraxt auf den Boden und stütze mich darauf. Im Wald höre ich einen Specht hämmern und frage mich, wie ich hier überhaupt Angst haben kann. Es ist alles normal. Vielleicht ein wenig abgeschieden, aber selbst Gerda meint, dass ich hier ein wundervolles Grundstück habe.

Dass sie es nicht gekauft hat, schreibe ich ihrem Freund aus der Vergangenheit zu.

Der Specht fliegt auf und ich erkenne seinen roten Schopf zwischen den schneebeladenen Ästen aufblitzen. Dann bearbeitet er wieder die Stämme. So wie ich. Ich schlage Holz, bis der Schuppen voll ist, und bringe genügend Vorräte durch die Hintertüre ins Haus. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht doch einfach Nagi bitten soll, bei ihr übernachten zu dürfen. Oder Julian.

Ich sitze in der Küche vor einer dampfenden Tasse Tee und starre mein Telefon an der Wand an. Dann die Türe und durch die Spitzengardine hindurch auf den Postkasten. Ich habe noch gar nicht überprüft, ob ich eine Antwort auf meine Nachricht bekommen habe.

Es wird langsam dunkler und ich verpasse das Zeitfenster, noch einmal in die Stadt zu fahren. Die Landstraße ist wenig beleuchtet und letzte Nacht hat es gefroren. Der Asphalt ist unter der dünnen Schicht Schnee heimtückisch und ich will nicht riskieren, mir etwas zu verstauchen oder gar zu brechen. Bevor ich mich verbarrikadiere, gehe ich zum Postkasten. Ich lasse die Türe wie auch schon letztes Mal offen stehen, öffne die Klappe, doch finde nichts. Ich bin gleichermaßen erleichtert, wie enttäuscht. Dann denke ich an das kratzende Geräusch an meiner Türklinke und bin nur noch erleichtert. Vielleicht ist der Spuk vorbei.

Ich wache mitten in der Nacht auf. Der Mond steht direkt über dem See. Das erkenne ich durch mein Fenster, weil mich eben dieser geweckt hat. Ich reibe mir die Augen und rapple mich halb auf. Ich wache nie in der Nacht auf. Und ich lasse auch nie die Vorhänge unverschlossen. Trotzdem erkenne ich, dass meine lichtdichten Gardinen weit offen stehen.

Ich habe sie bestimmt zugezogen. Oder, überlege ich, ich war einfach schon so durch den Wind, dass ich es vergessen habe.

Ich schiebe mich aus dem Bett und schlüpfe in meine Hausschuhe. Obwohl ich einen dicken Wollteppich liegen habe, ist es frisch. Ich ziehe die Vorhänge gerade zu, als ein dumpfes Poltern durch die Luft dringt. Ich halte inne und lausche, mein Herz jagt in die Höhe und ich warte auf das verräterische Klopfen an meiner Türe. Ich blicke hastig auf meine Armbanduhr und ziehe die Vorhänge wieder ein Stück auf, um etwas sehen zu können.

Es ist kurz nach Mitternacht. Sonntag. Am liebsten würde ich einfach wieder ins Bett gehen. Nicht wach zu sein, erspart mir dieses Spektakel mitzuerleben. Aber ich kann unmöglich wieder einschlafen.

Das Poltern kommt von hinter dem Haus. Aus meinem Werkzeugschuppen. Es rumpelt und scheppert, der Rechen fällt um und ein Glas zerspringt auf dem Boden. Ich lege mich trotzdem wieder ins Bett. Das ist bestimmt ein wildes Tier, das in meinem Schuppen nach etwas Essbarem sucht.

Ich schlafe nicht, bis es hell wird. Die Geräusche sind vor Stunden verstummt, aber mein Geist nicht.


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