IX

Ich weiß nicht, wie ich die Nacht überstehe. Dieses Mal steht nicht nur meine alte Schuhtruhe, sondern auch die niedrige Kommode vom Flur vor meiner Türe. Vor der hinteren habe ich die Holzkiste gezogen. Meine Gänsehaut will sich auch unter der Dusche am nächsten Morgen nicht lösen und bevor ich das Haus verlasse, rufe ich Nagi an. Sie hebt verdattert ab. Ich wollte nur ihrer Stimme lauschen, sage ich und sie lacht verlegen.

»Bitte nicht du auch noch«, scherzt sie und ich lache heiser in den Hörer. »Denk an unser professionelles Arbeitsverhältnis!«

Mache ich, sage ich und hänge das Telefon auf die Gabel. Mir geht es sofort besser. Nagi ist so normal wie immer, dann bin ich es auch. Dann ist mein Haus es auch. Trotzdem zögere ich, die Türe zu öffnen. Ich erwarte einen brüllenden Höllenschlund, oder einfach nur schwarzes Nichts, aber vor mir breitet sich meine Veranda aus, die Auffahrt mit dem Postkasten und dann die Brachwiese hinter dem schiefen Lattenzaun, welche mein Grundstück vom See trennt. Ich schlucke heftig und verschließe meine Türe.

»Mit dir stimmt was nicht«, stellt Nagi fest und stemmt ihre manikürten Hände in die Hüften. Ich stehe neben ihr an der Theke und reinige den Milchschäumer, als ich mich unter ihrem sezierenden Blick wiederfinde.

Ich hebe nur die Schultern. »Diese ganze Sache mit den Briefen hält mich wach«, gestehe ich eine Halbwahrheit und blicke nicht auf.

Nagi seufzt und dann spüre ich ihre warme Hand auf dem Arm. »Hey, Zander«, sagt sie ernst. »Wir gehen heute gleich zum Gemischtwarenladen. Dann hat der Spuk ein Ende.«

Zander. Mein neuer Spitzname, der Kari abgelöst hat. Nagi hat mich so getauft, weil ich es immer irgendwie schaffe einen Zander aus dem See zu fischen. Du bist genauso scheu wie die, sagt sie jedes Mal. Kein Wunder, dass sie immer bei dir anbeißen. Sie erkennen sich in dir.

Dass das keinen Sinn ergibt, stört sie nicht. Für Nagi sind Worte nur ein Medium, die Gedanken dahinter meistens vielschichtiger, als irgendein Wort es je ausdrücken könnte.

Jetzt nicke ich nur. Gerda wird mir dieses seltsame Gefühl nehmen, da hat Nagi recht.

Der Gemischtwarenladen ist für einen Ort wie Sankt Walborrow gut besucht, selbst jetzt noch. Die Straßenlaternen springen surrend unter der dicken Schneedecke an und durch den reflektierenden Schnee wirkt die Umgebung heller, als sie zu der Zeit selbst in der Stadt sein sollte.

Wir betreten den Laden und Nagi reibt sich die Hände gegen die Kälte draußen. Julian ist zufällig auch hier und winkt uns zu, lässt uns aber unseren Freiraum. Ich gehe zur Ladentheke und erkundige mich nach Gerda.

»Hier!«, antwortet uns eine laute, volle Stimme aus dem Lagerbereich des Ladens und der Verkäufer tritt lächelnd beiseite.

Gerda drängt sich an dem jungen Mann vorbei und wischt sich die Hände an ihrer Schürze sauber.

»Was gibt's?«, will sie wissen und Nagi blickt mich erwartungsvoll an.

»Tut mir leid, für die Störung«, beginne ich unbeholfen. »Ich habe einen Brief bekommen, den ich nicht bekommen hätte sollen.«

Gerda lacht laut auf und ihre roten Wangen strahlen mit ihren listigen Augen um die Wette. »Das ist dann wohl ein Fall fürs Postamt, Schätzchen«, poltert sie amüsiert und das lockt Julian dann doch an.

»Nein, nein. Es geht um einen Brief, einen Streich«, erklärt Nagi und nickt mir aufmunternd zu.

»Ja. Ein Brief, der eine Scherznachricht enthält. Eine Warnung. Die Polizistin hat mich letzte Woche zu Ihnen verwiesen. Es gab demnach schon einmal so einen Streich im Ort.«

Gerdas Lachen erlischt und mit ihm der Funke in ihren Augen. Auf einmal ist sie still, so still wie ich es die letzten drei Sonntage gewesen bin. »Eine Warnung, ja?«

Sie runzelt die Stirn und winkt uns dann nach hinten ins Lager. Wir folgen und Julian schließt sich uns wortlos an. Ich sage nichts dagegen.

»Kommt das denn häufiger vor?«, ist das Erste, was Gerda wissen will, sobald sie uns in ihrem Lager stellt. Ihre braunen Augen wirken in dem blauen Neonlicht fast schwarz, ihre Haut ist jetzt fleckig und käsig. Wir sehen alle aus wie Gespenster.

»Nein«, sage ich, aber da ist ein Zögern in meiner Stimme, das Gerda aufmerksam macht.

»Denk gut nach. Bist du dir sicher?«

Ich werfe Nagi und Julian einen hilfesuchenden Blick zu, aber die beiden starren mich nur ihrerseits neugierig an. Ich schüttle den Kopf. »Ich meine ja, ich bin mir sicher. Sowas würde man doch merken.«

Gerda stößt ein sonores »Hm« aus und trommelt mit den Fingern auf den halb geöffneten Kisten zu ihrer Linken.

»Haben Sie die Briefe damals bekommen?«, fragt Julian und das Trommeln ihrer Finger verstummt.

Gerda sieht ihn von oben herab an und ich bilde mir ein, Furcht in ihren Augen zu erkennen. »Nein«, sagt sie entschlossen und schüttelt den Kopf. Ein wenig zu heftig, vielleicht versucht sie sich, das einzureden. »Ein Freund von mir hat sie bekommen. Hat im Haus am Waldrand gewohnt.«

Der Knoten aus Eis wird zu einer soliden Masse, die schwerer ist als Wasser und meinen Magen nach unten zieht.

»Ist vor zwei Jahren ausgezogen«, murmelt Gerda. Dann zupft wieder ein Lächeln an ihren Lippen. »War verdammt schön da draußen. Ruhig und idyllisch. Ich hab mir mehrmals überlegt, das Haus selbst zu kaufen.«

»Aber Sie haben es nicht gemacht«, fordert Julian sie auf, weiterzusprechen.

Gerda hebt nur die Schultern und blickt auf ihre Armbanduhr. Dann zieht sie sich das Blümchenkleid unter der Schürze zurecht und bringt damit ihren kräftigen Busen zum Wackeln. »Hört Mal, ich habe zu tun. Ich muss den Laden bald schließen und hab noch Ware zu verräumen. Kommt doch ein anderes Mal wieder«, würgt sie das Gespräch ab und scheucht uns nach draußen. Sie selbst verschwindet eilig zwischen den Regalreihen.

Julian und Nagi unterhalten sich gedämpft und ich will ihnen folgen, da fällt Gerdas Hand schwer auf meine Schulter und hält mich zurück. Die Lagertüre schwingt mit einem Lufthauch zu.

»Hast du die Türe geöffnet?«, will Gerda wissen und ich drehe mich erschrocken zu ihr um, blicke meinen Freunden hinterher, durch den Lagerraum und dann zurück in ihr Gesicht. »Nein«, entrüste ich mich und sie nickt.

»Dann wird das Klopfen auch wieder verschwinden.«

»Klopfen? Ich habe kein Klopfen erwähnt«, bringe ich mit belegter Stimme heraus.

Gerdas Blick bohrt sich in meinen und sie antwortet nicht darauf.

»Es kommt nur sonntags«, rücke ich unwillig eine Erklärung heraus und spüre, wie sich der kalte Knoten aus Eis wieder in meinem Magen formt. Es auszusprechen, macht es Wirklichkeit und bis zu diesem Augenblick habe ich nicht gewusst, dass mir diese Tatsache fast mehr Angst einjagt als das Klopfen selbst.

Wie oft klopft es, will sie wissen.

»Vier Mal«, antworte ich zögerlich und fühle mich unwohl, diese Details preiszugeben.

Gerda starrt mich eine Weile stumm an, als überlege sie. Schließlich nickt sie. »Denk einfach nicht darüber nach. Dann lässt es dich auch in Ruhe.«

Wenn mich das beruhigen soll, hat sie sich geschnitten. Nagis und Julians Scherzen kann ich den restlichen Abend nichts mehr abgewinnen. Ich fühle mich fremd und entwurzelt, wie die Male, in denen ich mich in Geschichten verloren und nicht wiedergefunden habe.

Ich schlafe die gesamte Woche unentspannt und überlege, ob ich das Haus verkaufen soll. Mit Gerda spreche ich nicht noch einmal. Sie ist unterwegs, um einige geschäftliche Dinge außerhalb der Stadt zu regeln, und ich bin mir nicht sicher, ob mich das erleichtert, oder beunruhigt.


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