The interview

Wie hatte ich denken können, das Kapitol würde damit aufhören, uns bloßzustellen, wenn unser Tod unvermeidlich bevorstand?
Wie hatte ich glauben können, sie würden auch nur eine einzige Möglichkeit ungenutzt lassen, um uns zu zeigen, dass sie die Machthabenden waren, in dieser unfairen, parasitären Verbindung?
Wie hatte ich glauben können, Kapitolbewohner wären vielleicht, ganz tief in ihrem Inneren, doch nur Menschen und genauso verletzlich, genauso willensstark, und genauso an die gebunden, die sie liebten, wie wir?

Seit ich hier angekommen war, seit der Zug mit einem lauten Quietschen in den Bahnhof eingefahren war, seit sich die Türen geöffnet hatten, um uns den Weg in unser Verderben noch leichter zugänglich zu machen, war mir alles fremd.
Ich hatte blinzeln müssen von dem von grellen Neonröhren ausgestrahlten künstlichen Licht, das ein befremdliches Gefühl in mir geweckt hatte, ein Prickeln auf meiner Haut, so intensiv, dass sich meine Nackenhärchen entlang meiner Wirbelsäule kerzengerade aufgestellt hatten.
Ab dem Moment, als ich meinen Fuß das erste Mal auf den kalten, widerstandslosen Beton gesetzt hatte, langsam, wie ein Rehkitz, dass das erste Mal auf seinen wackligen Beinen stand, überwältigt von der ganzen Andersartigkeit, den neuen Landschaften, den neuen Menschen, die so ganz anders waren als all jene, die ich kannte, war mir bewusst gewesen, wie unfassbar falsch das alles war.
Wie falsch von den Kapitol-Bewohnern zu glauben, sie wären auf irgendeine verquere Art und Weise besser als wir, als wären sie mehr wert.
Als könnte man uns einfach reihenweise abschlachten, und ernsthaft glauben, niemand würde irgendwann zurückschlagen.

Ich war fest davon überzeugt, dass sie irgendwann für all das bezahlen würden, was sie uns angetan hatten, für all die Grausamkeiten, all den Schmerz, den sie verursacht hatten.
Für all die Leben, die sie auf dem Gewissen hatten.
Irgendwann würde es geschehen, ob früher oder später, das wusste niemand.
Aber es würde geschehen.
Denn letztendlich waren wir doch alle nur Tiere.
Und manche Tiere mussten zeigen, welche Macht sie besaßen, mussten die Schwächeren wieder und wieder spüren lassen, dass sie ihnen immer höhergestellt sein würden, um so ihre Existenz zu sichern, während die anderen Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute ums nackte Überleben kämpften.

Diese Gedanken schwirrten mir im Kopf herum, als ich nur mit einem hauchdünnen, seidenweichen Morgenmantel bekleidet kerzengerade neben dem mit hochwertigem Leder bezogenen Ohrensessel stand, die Hände vor dem Bauch gefaltet, was nach außen hin vermutlich selbstbewusst wirkte, eigentlich aber nur dem Grund verschuldet war, dass ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen.

Setz dich hin, verhalte dich ruhig und warte, bis dein Stylist eintritt.

Diese zwei Sätze hatte mir der unfreundliche Friedenswächter, der mich von meinem Zimmer angeholt und in die Vorbereitungsräume geführt hatte, bestimmt dutzende Male eingetrichtert, was vermutlich der Grund war, wieso ich es gerade nicht getan hatte. Ich wollte nicht, dass sie dachten, sie hätten die volle Macht über mich.
Wenn ich mich schon nicht gegen die Spiele wehren konnte, so konnte ich doch wenigstens auf diese At und Weise meinem Distrikt Ehre machen.
Indem ich stark blieb und mich nicht brechen ließ.

Wieder ertappte ich mich dabei, wie ich an dem Ring an meinem Finger herumspielte.

Du hättest jetzt bei mir sein müssen, Cayden.
Wie soll ich stark sein, wenn es nichts gibt, was mich hält?

"Erschreck dich nicht. Mein Name ist Landon, und ich bin dein Stylist. Ich stehe jetzt direkt vor dieser Tür, aber ich komme nicht rein, ehe du fertig bist."

Die Stimme hallte wie durch das Mikrofon bei der Ernte laut dröhnend durch meinen Kopf, ihr dunkles Vibrieren jagte einen Schauer nach dem anderen meinen Rücken hinab. Der Klang wie zwei aneinanderreibende Steine, wie das stetige Rauschen eines Wasserfalls, kam mir seltsam bekannt vor.
Vermutlich hatte ich so eine Stimmfarbe irgendwo auf dem Weg ins Vorbereitungszentrum aufgeschnappt.
Wenn ich etwas genauer darüber nachdachte, war ich mir sogar sicher, dass man sich im Kapitol selbst seine Stimme künstlich verändern konnte, so dass sich vielleicht jeder Dritte so anhörte.

Ich schwieg.
Vermutlich erwartete dieser Mann von mir, dass ich etwas antwortete, doch ich weigerte mich. Niemand würde jemals mitbekommen, was ich in diesem Raum sprach, und daher kam es mir überflüssig vor, das brave, gehorsame Tribut zu spielen.
Keine Kameras, keine Zuschauer, keine Sponsoren.

"Ich weiß, das ist eigentlich unüblich. Ich meine, dass ich hier stehen bleibe. Also, das weißt du vermutlich gar nicht, sind ja deine ersten Hungerspiele... ähh, ich rede zu viel. Ist auf jeden Fall nicht üblich. Aber ich- ich will dir die Möglichkeit geben, dich alleine anzukleiden, weil ich dich nicht beschämen will. "

Er hielt inne und mir stockte der Atem.
"Also, geh einfach hinter das Sofa, im Wandbereich neben der Lampe müsste ein kleiner Schalter sein. Drück ihn, dann öffnet sich eine kleine Kammer. Darin verbirgt sich mein Modeatelier, auf dem Tisch in der Mitte liegt dein Kleid für heute Abend. Wenn du fertig bist, komme ich hinein und schließe die Knöpfe an deinem Rücken, in Ordnung?"

Mein Kopf schwirrte von all diesen Informationen, quoll beinahe über vor Fragen, wieso er, ein Kapitolbewohner sich als Einziger dafür zu interessieren schien, was ich dachte.
Wie sich diese ganze Prozedur, die ganze Situation auf mich auswirkte, wie es sich für mich anfühlen musste, immer und immer wieder mit Füßen getreten und gedemütigt zu werden.

Wie fern gesteuert bewegte ich mich langsam durch den Raum, der so furchtbar weiß, so steril und ungemütlich wirkte, fasste eine grell leuchtende Lampe ins Auge und tastete die Wand daneben ab. Wie das Knacken des Schlosses, wenn ich in Distrikt Neun die Truhe mit unserem wertvollsten Besitz aufgeschlossen hatte, ertönte auch hier ein leises Geräusch, als sich die Tür spaltete und ein kleinen, mit Kleiderstangen und herumfliegenden Skizzenentwürfen gespickten Raum freigab.
Meine nackten Füße bewegten sich wie von selbst auf den kalten Metalltisch zu, auf dem ein Berg aus Tüll, Chiffon und Seide lag.
Ich nahm das trägerlose Kleid hoch, löste den Gürtel meines beinahe durchsichtigen Mantels und ließ ihn achtlos zu Boden gleiten, während ich, einen Fuß nach dem anderen, in das Kleid stieg, dass sich sofort eng an meine Haut schmiegte, der Stoff nicht kratzig, wie ich es erwartet hatte, sondern seidenweich und kühl.

Als wüsste der Stylist, dass ich das Kleid bereits trug, erklang seine Stimme erneut.

"Dreh dich, der Spiegel ist etwas weiter links."
Und tatsächlich. Ein Schritt und ich erblickte eine Gestalt in einem meterhohen Spiegel, kein Vergleich zu dem kleinen Handspiegel, den wir zu Hause besaßen und der einmal ein Geschenk meines Vaters an meine Mutter gewesen war, ein unvergleichlich teures Geschenk, dass er sich nur zu ihrem Hochzeitstag hatte leisten können.
Die Frau in dem Spiegel war mir so fremd, als hätte ich sie noch nie in meinem Leben gesehen.
Das weizenblonde, an manchen Stellen von der Sonne ausgebleichte Haar halb hochgesteckt, halb in lockeren Wellen um die Schultern fallend, etwas, dass das Vorbereitungsteam schon vor etwa einer Stunde erledigt hatte, das blasse Gesicht übersät von Sommersprossen, die nachtblauen Augen, dunkler als jede Ecke der Tiefsee, dunkler als Oktopustinte, starrten mich an, aus einem Gesicht, dass so viel voller war als noch vor Kurzem.

Doch das Kleid, in dem diese Frau steckte, war atemberaubend schön, eine Symphony aus verschiedenen Chiffonstreifen, in Gelbnuancen, wohl um die unterschiedlichen Getreidesorten zu repräsentieren, die wir in Distrikt Neun anbauten, ein ausladender Rock aus tausendundeiner Tüllschicht, ein v-förmiger Ausschnitt, der mein eher dürftiges Dekolleté gut zur Geltung brachte.

"Was sagst du?"
Ohne, dass ich es bemerkt hatte, hatte sich jemand an mich herangeschlichen.
Schnell senkte ich den Blick, als er an mich herantrat und mit geübten Handgriffen vorsichtig die Knöpfe an meinem Rücken schloss, einen nach dem anderen.
Seine Finger waren kühl auf meiner Haut und meine Hände zitterten, doch ich versuchte es zu verbergen, barg sie zwischen den unzähligen Lagen Stoff.

"Es geht bei den Interviews nicht mehr darum, ausgefallen zu sein. Ihr sollt die Menschen beeindrucken, sie begeistern. Warum also nicht dadurch, dass ihr hübsch ausseht?"
Ich schwieg noch immer.
Ja, er hatte mir gezeigt, dass er mich respektierte, doch dass hieß noch lange nicht, dass ich mich ihm jetzt um den Hals werfen würde.
Er gehörte noch immer zu IHNEN, denen, die mir alles genommen hatten.

"Das Kleid... es besitzt übrigens einen ganz besonderen Mechanismus. Wenn du die Arme hebst, beginnen die Chiffonfetzen zu flattern, wie Getreidestängel im Wind."
Ich hätte es nie zugegeben, aber ich bewunderte seine Kreativität.
Er war kein typischer Kapitolbewohner, niemand, der auf die Kosten anderer lebte.
Er tat etwas, erschaffte etwas, mit seinen eigenen Händen.

"Wir haben gar nicht mehr viel Zeit, aber ich will unbedingt, dass du dich jetzt zu mir umdrehst und mich noch einmal so ansiehst, wie du das Kleid angesehen hast, als du dich das erste Mal darin gesehen hast, in Ordnung? In etwa drei Minuten wird sich eine Röhre über dich stülpen und dich in den Warteraum bringen. Dein Interview ist in fünf Minuten und du willst sie doch sicher alle umhauen?"

Wie automatisch nickte ich und es war, als lächelte er in seinen Worten, als er leise herunterzählte. Auf die Sekunde, in der er bei null angelangt war, drehte ich mich langsam, als wären meine Bewegungen auf Video aufgezeichnet und in Zeitlupe wieder abgespielt worden, vom Spiegel weg und hob meinen Blick.
Doch ich kam nicht dazu, ihn mit dem Blick zu betrachten, mit dem ich das Kleid betrachtete hatte. Nicht dass ich das vorgehabt hätte, immerhin war dieser Blick eher befremdlich gewesen, doch als ich den jungen Mann sah, wusste ich sofort, wer er war, und wieso ich seine Stimme kannte.
Er sah noch aus wie früher, auch wenn das erdbeerblonde Haar einem tiefen mahagonirot gewichen war, seine Wangen markanter geworden waren, nicht mehr spitz und knochig, und seine Augen in einem atemberaubenden Schwarz leuchteten, statt dem sanftem Moosgrün von vor drei Jahren.

Die Stille umgab uns wie ein dicke, zähflüssige Masse, machte alles träger, unsere Reaktionen unendlich langsam und dafür deutlich bemerkbar.
Ich rührte mich nicht, stand da, als wäre ich stocksteif gefroren, als bestände ich nicht mehr aus Gelenken, sondern bloß aus harten, unnachgiebigen Knochen, emotionslos, während seine Gesichtszüge entgleisten, als er mich erkannte.
Als die Erinnerungen sein Gedächtnis durchfluteten wie eine Sturmwelle den Strand, wie Weizenkörner aus einem gebrochenen Silo.
Jetzt realisierte ich erst wirklich, wer vor mir stand, und stolperte zurück, presste mich mit dem Rücken an den Tisch.

"Maeve... du... ich-"
Er stotterte, seine vorher so selbstbewusste Stimme brach, als er mich ansah, in das Gesicht, das er so gut kannte wie das seiner Geschwister.
"Lass es mich dir erklären, bitte."
Er sah mich flehend an, so sehr, dass es mich zurückwarf in eine Zeit, in der es nur mich und ihn gegeben hatte, indem wir über Wiesen gehüpft waren und Verstecken gespielt hatten.
Zurück zu Abenden, als er mir die Hand verbunden hatte, weil ich mir bei der Arbeit auf dem Feld die Sichel ins Fleisch gerammt hatte.
Zurück in eine Zeit, in der ich mit ihm auf der Veranda vor der verborgenen Hütte im Wald gesessen hatte und ihm berichtet hatte, wie mein Treffen mit Cayden gelaufen hatte, ihm die Ohren vollgeschwärmt hatte, während er mir über den Kopf strich.

Doch dann sah ich seine Haare, sein Augen, seine Stimme, all das, was sich verändert hatte.
Er sollte tot sein. Er hätte an Caydens Seite untergehen sollen, oder mir zur Seite stehen sollen, als ich alles verlor, doch er lebte, und hatte sich auf die Seite des Feindes geschlagen.

"Nein, Fox. Nein."
Meine Stimme klang heiser und unkontrolliert, weil ich sie so lange nicht benutzt hatte.
"Anfangs dachte ich, du wärest tot, doch man fand deine Leiche nicht.
Dann dachte ich, du wärst irgendwo in den Wald geflüchtet, und würdest nur auf eine Möglichkeit warten, zurückzukehren. Doch du kamst nie. Du bist hier, und das bedeutet, du warst so feige, dich aus dem Staub zu machen, als es brenzlig wurde, und dass du die anderen im Stich gelassen hast.
Du hast deine eigenen Freunde verraten, und du hast mich verraten, indem du mich in diesem... Scherbenhaufen zurückgelassen hast, in diesem Haufen Asche, für die ich nicht einmal verantwortlich war, und du bist nicht zurückgekommen, obwohl ich in dieser Nacht alles verloren habe.
Cayden hat sein Leben geopfert für diese Sache, für all das, dafür, dass wir nicht mehr von den Kapitolsleuten behandelt werden wie Dreck. Er hat seine Wünsche, seine Träume, mich, aufgegeben, damit so viele Leute ein besseres Leben haben können, und nicht mehr von Leuten wie ihnen kontrolliert werden können."
Ich stockte, alles an mir schmerzte. „Leuten wie dir."
Dieser Satz tat ihm unendlich weh. Doch ich wollte, dass er spürte, was in mir gewütet hatte, als mir nichts mehr geblieben war.

„Er hat es riskiert. Aber du, Fox, warst schon immer feige. "
Ich lachte trocken, als ich den Schmerz in seinen Augen erblickte.
"Maeve, bitte, lass mich-"
Ein Surren erklang, wie als würde eine besonders resistente Fliege neben meinem Ohr hin- und her schwirren.
Dann, nur Sekundenbruchteile später, schob sich eine dünne Plexiglaswand zwischen meinen Körper und seinen.
"Du warst der beste Freund, den ich je hatte. Du warst mein Ein und Alles, und du warst nie eifersüchtig, weil ich Cayden hatte, warst immer zufrieden, das zu sein, was wir waren. Doch in dieser Nacht, bist du für mich gestorben. Du bist tot."
Das Surren stoppte.
Fox starrte mich aus zwei tiefschwarzen Augen an, Verzweiflung dehnte sich über sein Gesicht, doch es war vorbei.
Ich musste jetzt die Menge mitreißen.

***

"Uuuuund, als nächstes haben wir Maeve Conteville, unser wunderhübsches Tribut aus Distrikt Neun."

Ich blinzelte gegen die Helligkeit, die hier noch viel extremer schien, als irgendwo sonst im Kapitol, wo ich bereits gewesen war. Wie als hätte ich Wasser im Ohr vernahm ich die Schreie, die Rufe, das Jubeln der Menge nur verschwommen, meine Finger zitterten unkontrolliert und ich krallte sie tief in den sonnengelben Stoff, genauso wie ich es bei der Ernte getan hatte. Immer wieder schweiften meine Gedanken zu Fox, immer wieder fragte ich mich dasselbe, und immer wieder drängte ich die Gedanken an ihn zurück.
Ich musste professionell rüberkommen und begeistern, andernfalls wäre ich in der Arena verloren.
Und wenn ich weinte, würde mir nur mein Make-Up die Wangen mit gräulichen Schlieren verschmutzen.

Caesars Auftritt in ultramarinblau war beinahe noch lächerlicher als das letzte Jahr, wo er in einem blassen violett aufgekreuzt war, doch ich raffte den Rock meines Kleides, erwiderte sein Lächeln und ließ mich auf die kleine Chaiselongue sinken, auf die Caesar mich mit einladender Geste hinwies.
Das Publikum war für mich nur eine wogende Masse, eine Menge aus viel zu grellen Farben, beißenden Kontrasten und viel zu viel Parfum, die ich ausblendete.

"Herzlich willkommen, meine Liebe. Ach wie habe ich mich gefreut, Sie kennenzulernen, das glauben Sie gar nicht, Bei der Ernte haben Sie so eine Souveränität ausgestrahlt, das war wirklich beeindruckend. Vielleicht mögen Sie uns ja ihr kleines Geheimnis verraten, Miss Conteville?"
Ceasars falsches Zahnpastalächeln ignorierend richtete ich mich auf, fing spielerisch eine Haarsträhne auf, die sich aus meiner Frisur gelöst hatte, und steckte sie hinter mein Ohr.

"Ach wissen sie, eigentlich ist das gar nicht so schwer. Ich meine, wenn es sich ja sowieso nicht umgehen lässt, warum sollte man das Ganze dann nicht mit Stil angehen? Wäre ich in Tränen ausgebrochen, hätte ich doch ein vollkommen falsches Bild vermittelt, und wäre verweichlicht rübergekommen. Das ist nicht mein Charakter."
Oder man hatte einfach nichts mehr zu verlieren, genauso wie ich.

"Beeindruckend beeindruckend, so jung und doch schon so weise. Eine hervorragende Voraussetzung für ein interessantes Interview, meinen sie nicht auch?"
Den letzten Satz hatte er an die Menge gerichtet, die jetzt mit lautem Jubel, Grölen und Pfiffen antwortete.
"Bevor wir richtig beginnen, möchte ich einmal kurz loswerden, dass sie hervorragend aussehen. Wie ein richtiger Sonnenschein, und dann hat es sogar noch etwas zu tun mit ihrem Distrikt, das ist fabelhaft. Sie haben einen sehr begabten Stylisten, finden sie nicht auch?"
Alles, was ich an Gefühlen zurückhielt, schien in diesem Moment an die Oberfläche zu drängen, doch ich konnte mich mit letzter Kraft beherrschen.
"Ja, auf jeden Fall. Eine atemberaubende Wahl. Es hat nur einen kleinen Makel... "
Rasch lüftete ich den Rock meines Kleides und gab den Blick frei auf meine nackten Füße.
"Er hat die Schuhe vergessen. Wir hatten einfach zu viel zu besprechen."

Alle lachten.
Ich wusste genau, dass das ein guter Schachzug gewesen war. Missgeschicke machten sympathisch und man konnte sich besser mit sonst unnahbaren Leuten identifizieren.
"Das ist ja ein Ding! Aber gut, so viel laufen müssen Sie ja heute nicht. Die Leute wollen unbedingt etwas darüber erfahren, wer sie so sind. Fangen wir doch mal bei ihrem Namen an. "
Caesar lehnte sich ein wenig zu mir rüber und lächelte breit.
"Maeve ist doch ein sehr ausgefallener Name. Schön ist er auch. Aber... vermittelt er den Menschen nicht das falsche Bild? Immerhin war Maeve de'Ath während der Kriege Rebellionsanführerin von Distrikt Neun. Ist der Name denn dadurch nicht... sagen wir so, historisch belastet?"

Das Scheinwerferlicht blendete mich und lenkte mich für einen Moment ab, doch ich fokussierte mich wieder auf Caesar.
"Aber nein. Wissen sie, sie müssen das mal von einer ganz anderen Seite betrachten. Als erstes bin ich ja nicht Maeve de'Ath. Das heißt, ich kann diesen Namen vollkommen neu interpretieren, oder etwa nicht? Zum Zweiten war sie ja eine sehr starke Frau, die für sich selbst kämpfen und einstehen konnte. Das wird mir in der Arena sicher eine Menge helfen. Und zuletzt bedeutet 'Maeve' ja nur so viel wie die Berauschende oder die Mitreißende. Und das ist doch genau das, was sowohl sie als auch ich jetzt, in diesem Moment, versuchen zu erreichen"

Caesar sah mich beeindruckt an, wandte sich dann zu der Menge und forderte einen Applaus.
"Sie sind sehr beeindruckend, Miss Maeve, wissen Sie das? Und definitiv auch mitreißend. Es kommt mir so vor, als hätten Ihre Eltern Ihnen genau den Namen gegeben, der zu ihnen gehört. Und jetzt verraten Sie mir doch bitte, was gefällt Ihnen im Kapitol am besten? Disktrikt Neun ist ja sehr klein, da muss es ihnen hier doch vorkommen wie im Paradis, habe ich recht?"

Für einen Moment verdunkelte sich mein Gesicht, doch ich hatte mich so schnell wieder unter Kontrolle, dass niemand etwas mitbekam.
"Die Regenduschen sind toll. Ich wünschte, bei uns wäre das ebenso einfach wie hier. Ich fürchte, ich war noch nie so sauber wie heute, nachdem mein Vorbereitungsteam mich ja sozusagen in die Mangel genommen hat."
Wieder hatte ich die Lacher auf meiner Seite.
"Außerdem liebe ich das Essen und mir gefällt, dass jeder das trägt, was ihm gefällt. In Distrikt Neun gibt es dazu leider nicht so häufig Gelegenheit."

Ich lächelte freundlich, doch in meinem Inneren dachte ich daran, wie eine alte Frau den ganzen Weg durch die flirrende Hitze einen Kübel Wasser auf dem Kopf schleppte, nur um sich abends notdürftig die Hände und das Gesicht waschen zu können, während die Kapitolbewohner damit umgingen, als wäre es Unkraut.
Wie eine ganze Familie sich nach einem harten Arbeitstag einen kleinen Topf Suppe teilte, während hier alle schlemmten und aßen, ohne etwas zu tun, und die Hälfte des Essens im Mülleimer landete. Wie zwei Kinder auf den staubigen Wegen mit einem zerfetzten Lederball spielten, in unförmigen Sackhemden, das Einzige, was man sich leisten konnte zu kaufen.

"Oh ja, ich muss sagen, dass gefällt mir auch sehr. Und ich nutze es auch aus."
Alle lachten bei einem Blick auf Caesars ausgefallenen Modegeschmack.
"Und in Distrikt Neun? Was fehlt ihnen am meisten, meine Liebe?"

Ich musste kurz überlegen. Es gab so viel Schmerz, soviel Leid, soviel Ungerechtigkeit in unserem Dorf, dass all die schlimmen Dinge das Fröhliche überschatteten. Die einzigen Dinge, die zu meinen guten Erinnerungen zählten, würde ich niemals vor tausenden Menschen preisgeben.
Ich könnte ihnen von den Hinrichtungen erzählen.
Von der Brutalität, mit denen die Friedenswächter kleinste Vergehen bestraften. Von den vielen Feldbränden, die entstanden, weil die brennende Sonne das trockene Weizen in Feuer und Flammen setzten ,und wie viele Menschen dabei starben oder für ihr Leben gezeichnet wurden.
Wunden hinterließen Narben.

Auch ich hatte eine Narbe, eine Narbe die mich für immer daran erinnern würde, was blieb, wenn alles in Flammen aufging. Eine Narbe, die mir zeigte, wer ich war, und wer ich sein musste, weil nichts im Leben einfach war, und der Weg, der für mich bestimmt zu sein schien, schon gar nicht.
Eine Narbe, die mich nie vergessen lassen würde, dass meine Eltern mich nicht freiwillig verlassen hatten, und dass ich stark war, stärker als alles andere. Eine Narbe in Form eines Calor-Adlers. Er war insgeheim das Distrikttier von Neun, ein unheimliches stolzes Tier, dass den höchsten Hitzen standhalten konnte, und dann flog, wenn andere am Boden lagen.
Doch diese Geschichten, die Wahrheit, würde mich hier nicht am Leben halten.
Die Arena war ein Spiel mit dem Feuer, mit Schlangen, mit intrigantischen psychologischen Tricks, und es war nun an mir, mitzuspielen.

"Distrikt Neun hat sehr schöne Ecken. Am liebsten mochte ich den Geruch von frisch geernteten Feldern, dann, wenn die Stumpfe der einzelnen Halme noch grünlich waren und nach Gras und Freiheit geduftet haben. "
Wenn sich dieser Geruch für mich nicht seit dieser Nacht mit dem Geruch nach Blut, nach Rauch und Feuer mischen würde.
"Das hört sich sehr schön an, Miss Maeve. Eine letzte Frage habe ich noch, bevor wir sie in die kühle Nacht entlassen. Wofür werden sie gewinnen?"

Ich wusste nicht mehr was ich tat. Ich wusste nicht, was der Grund dafür war, dass ich die Kontrolle verlor, dass die Worte meinem Mund schneller entschlüpften als ich darüber hatte nachdenken konnte.
"Ich werde gewinnen, damit sie alle dafür bezahlen, was sie mir genommen haben."
Ich lächelte. Und die Menge schwieg.

Doch urplötzlich ertönte ein reißender Knall, erschütterte den Boden, ließ ihn unter meinen Füßen aufreißen, bis ein klaffendes Loch wie das offenstehende Maul eines bissigen Hundes entstand, der Putz bröckelte von den Wänden, Menschen schrien, Gesteinsbrocken rissen Männer und Frauen mit abnormalen Haarfarben und viel zu viel Schminke in Sekundenschnelle zu Boden, mit blutenden Platzwunden und geschlossenen Augen. Das Chaos brach aus, und ich wusste nicht mehr, wohin mit mir, saß nur wie versteinert da.
Ich spürte, wie jemand von hinten meinen Arm fest ergriff und mich wegziehen wollte, doch ein weiterer, leiserer Knall ertönte, wie das Schaben einer Metallkugel in der Mündung einer Pistole, und die Hand erschlaffte.
Dann traf mich ein Stein an der Schläfe und alles wurde schwarz.

***

Es biepte. Wie als fiepten tausende Feldmäuse auf einmal drang das Piepen an mein Ohr, nur war es konstanter, regelmäßiger, und klang elektronisch. Langsam öffnete ich flatternd meine Augenlider, blinzelte, betrachtete meine Umgebung, ein steriler weißer Raum ohne jegliche Deko, eine einsame Topfpflanze, die in einer Ecke vor sich hinvegetierte, eine monströse Maschine, die blinkende Lichter aussendete und anscheinend auch die Ursache für das Piepen war, von der Schläuche zu mir führten, einer von ihnen in meine Vene. Darin schwappte eine träge, schmutzgelbe Flüssigkeit hin und her und unwillkürlich fragte ich mich, ob sie aus meinem Körper oder in meinen Körper hinein befördert wurde.
Ich lag in einem blütenweißen Bett, die Bettdecke war faltenfrei und glatt über meinem Körper ausgebreitet worden.

Vorsichtig stemmte ich mich hoch, als erwarte ich Schmerzen, was nach allem, an das ich mich erinnern konnte, nicht verwunderlich gewesen wäre, doch ich fühlte nichts als das stetig klopfend Pochen meines Herzens, dass sich bereits an das Ticken der Maschine, an das konstante Biep Biep, an das Tropfen der gelbrigen Flüssigkeit angepasst hatte.
Mein Körper war gehüllt in ein ebenso reines übergroßes weißes Nachthemd, dass künstlich nach einer Mischung aus Desinfektionsmittel und Lavendel roch.
Wer hatte mich umgezogen? Wo war mein Kleid?
Was war geschehen und wer war für dieses Chaos gestern verantwortlich gewesen?

"Maeve, oh gut, sie sind wach. ich dachte schon, sie wachen nie auf. Nicht dass das nicht auch zu beheben gewesen wäre, aber so ist es einfacher, nicht wahr?"
Ich schreckte zurück.
An der Seite meines Bettes stand eine Frau in einem langen, weißen Kittel, vielleicht Mitte Dreißig, mit unnatürlich glatter Haut, die kastanienbraunen Haare in einem strengen Pferdeschwanz zusammengefasst, dunkelrot geschminkten Lippen von der Farbe einer reifen Kirsche, die sie zu einem zuckersüßen Lächeln verzogen hatte, und die den einzigen Farbtupfer in diesem Raum darstellten, abgesehen von dem kümmerlichen grünen Gewächs in der Ecke.
Etwas an dieser Frau machte mich unruhig, auch wenn sie so freundlich und lieb rüberkam. Etwas, das sagte, ich sollte wachsam sein.

"Wissen sie, leider ist ihr Interview gestern Abend ein bisschen aus dem Ruder gelaufen."
Sie seufzte theatralisch und verzog die kirschroten Lippen zu einem Schmollmund.
Dann streckte sie ihre perfekt manikürte Hand aus, und streichelte mir über den Kopf.
Unfähig mich zu wehren, als wäre ich wie gelähmt, riss ich die Augen weit auf. In mir drohte etwas herauszubrechen, die Erinnerungen an Fox, wie ich in seinem Schoß lag und er mir über das Haar streichelte, während ich ihm von meinem Treffen mit Cayden erzählte, wallten in mir auf, weckten wieder die tausend Fragen, die ich mir stellte, nachdem ich ihn gestern gesehen hatte.
"Irgendwas ging da anscheinend schief, nachdem sie diesen etwas ungehörigen Satz gesagt haben. Niemand hat ihnen etwas weggenommen, Maevie. Wir sind doch keine Monster."

Sie lächelte, und der Spitzname, mit dem sie mich angesprochen hatte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es war nicht der Spitzname an sich, meine Eltern hatten mich früher auch häufig so genannt. Aber sie sprach ihn aus, als hätte sie soeben einen vollen Löffel Honig gegessen und als würde ihr Mund von zwei unsichtbaren Haken nach oben gezogen werden.

"Nein nein nein. Aber die Rebellen, die das Studio gestürmt haben, bevor wird die Interviews zu Ende bringen konnten... einer von ihnen hat versucht, sie an ihrem Arm mitzuschleifen. Ich kann mir nicht ganz erklären wieso, aber sie waren das Ziel des Angriffs."
Ich starrte sie nur weiter an, als wäre ich eine Statue, zu nichts fähig, außer still zu liegen und zu starren, während ihre Finger wieder und wieder über mein Haar glitten, über die Stelle, an der sich laut meiner Erinnerung eigentlich eine Wunde befinden müsste.
Wo war diese Wunde?!

"Keine Sorge, Liebes. Keiner der Gäste wird sich an den Abend erinnern können. Sie haben gleich danach alle eine kleine ovale Tablette bekommen, und schlummern friedlich in ihren Bettchen. Wenn sie morgen aufwachen, werden sie denken alles sei so reibungslos abgelaufen, sie es sollte. Aber ich habe es nicht vergessen. Und ich hasse es, wenn etwas meinen Plan zerstört. Das verstehen sie doch sicher, nicht wahr?"
Und mit diesen Worten schnellte ihre Hand nach vorne und sie schob mir ohne, dass ich Zeit hatte, zu reagieren eine kirschrote Tabletten zwischen die Lippen, bevor mir erneut schwarz vor den Augen wurde.

———

Und es geht weiter mit Teil Zwei im Leben der Maeve Conteville. Ich muss sagen, so langsam bekomme ich richtig Lust, das ganze als FF auszubauen... gibt es jemanden, der sagt, es würde ihn interessieren? Ich habe nämlich diese mal eine sooo komplexe Hintergrundgeschichte, auf der ich so etwas sehr gut aufbauen könnte.
Aber das ist wieder ganz off topic...
Ich hoffe, ihr habt das hier gerne gelesen, auch wenn es seeeehr lang geworden ist.
Erst war ich so: Ich muss plotten. Mir fällt nichts ein. Uahhhhhh.
Und dann plötzlich: OMG, das ist so eine Gute Idee, das muss ich auch noch mit hineinbringen. Wer kennt's? 😂
Hoffe das ist so okay^^
Loretta_Sky
-befreiende

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top