8. 𝒦𝒶𝓅𝒾𝓉𝑒𝓁
„Autsch! Fuck, Katie!", schimpfte Lorenzo, während sie dabei war, ihm das Kortison in die Hände zu spritzen. Sie schnaubte und schüttelte den Kopf, sah den Jungen kurz daraufhin an und verkniff sich den Kommentar, dass er aufhören sollte, sich so anzustellen, da er teilweise andere und schlimmere Schmerzen und Verletzungen besser wegsteckte als das hier. Das war falsch. Denn Lorenzo hatte mit seiner Krankheit genug Schmerzen und sie konnte sich bei weitem nicht vorstellen, wie schwer das alles für ihn war. Deshalb biss sie sich auf die Unterlippe und kämpfte dagegen an, ihn zu tadeln. Vielleicht hätte sie das als Freundin getan, aber nicht als seine Ärztin, die sie in dem Fall war.
„Tut mir leid, Kleiner", meinte sie sanfter, als gedacht und seufzte. Sie injizierte ihm die letzte Menge und zog die Kanüle anschließend heraus. „Gib dem Ganzen etwas Zeit, aber es wird besser werden. Zumindest für eine Weile", erklärte sie ihm, räumte die Spritze ordentlich weg und strich sich dann durch das Haar.
Lorenzo kam mittlerweile in regelmäßigen Abständen zu ihr ins Krankenhaus, um sich besser behandeln zu lassen. Wenn das bei seiner rheumatoiden Arthritis überhaupt noch möglich war, nachdem die Jahre davor so viel falsch gemacht worden ist. Das hatte Lorenzo nicht verdient. Er hatte so vieles nicht verdient und doch kämpfte er sich durch. Er war so ein starker, junger Mann, den sie bewunderte. Auf eine eigene Art und Weise.
„Aber vielleicht solltest du doch noch einmal zu Doktor Hendriks gehen. Er ist der wahre Experte dafür", schlug sie ihm das zehnte Mal vor, seitdem sie sich kannten. Dabei wusste sie, dass der Dunkelhaarige, der gerne auf badboy machte, das garantiert nicht tat.
„Schon gut, Katie. Solange ich keine Schmerzen habe, ist alles gut. Oder zumindest weniger Schmerzen", erklärte er, während er seine Finger betrachtete. „Mir ist klar, dass das nicht behandelbar ist und man nur Schadensbegrenzung betreibt. Ich muss damit klar kommen", sprach Enzo weiter und schüttelte den Kopf. „Es ist okay. Ich finde es großartig, was du für mich tust. Das ist nicht selbstverständlich."
In diesem Punkt musste sie ihm recht geben, denn eigentlich hätte sie ihn schon lange verpfeifen und auffliegen lassen können. Man hatte ja nicht jeden Tag mit einem Kopf der italienischen Mafia zu tun, schon gar nicht mit so einem jungen Menschen, der faktisch für diese Rolle gezeugt worden war. Er konnte einem leid tun, denn Katie wusste genau, dass das nicht das Leben war, das er gewählt hatte. Aber da rauszukommen, war nicht einfach. Sie hatte ihn ins Herz geschlossen, wie konnte sie diesen Jungen, der so entzückend sein konnte, verraten? Er hatte nie ein Geheimnis aus seiner Identität gemacht, sie schätzte ihn für seine Ehrlichkeit. Lorenzo gehörte zu ihrer verschrobenen, kleinen Familie, die sie sich selbst ausgesucht hatte. Seit dem ersten Tag an war er ein Teil davon. Egal, wie oft sie ihm zu starken Schmerzmitteln verhalf oder ihm anderweitig den Hintern rettete. Nicht nur einmal hatte sie Kugeln aus ihm fischen müssen, weil er in irgendwelche gefährlichen Schießereien verwickelt gewesen war.
Deshalb winkte sie bei seinen Worten nur ab und machte sich daran, ihm ein neues Rezept auszustellen, mit dem er sich seine Medikamente holen konnte. Alles in Absprache mit Doktor Hendriks. Sie wollte nicht handeln, ohne die Seite des Experten zu hören. Katie arbeitete nicht fahrlässig und riskierte dadurch ihre hart erarbeitete Zulassung als Ärztin. Nein, sie hatte viele, harte Jahre hinter sich, das machte sie sich nicht kaputt.
„Aber ist mit dir alles in Ordnung?", wollte der junge Italiener von ihr wissen, als sie sich ihm wieder zuwandte und ihm den Zettel reichte. Lorenzo hatte immer einen guten Riecher, wenn es darum ging, dass sie versuchte, etwas zu verbergen und in sich hineinzufressen. Ihm hatte sie schon eine Menge anvertraut, aber über dieses Thema hatte sie nie gesprochen. Mit niemanden.
Doch bevor sie ihm antwortete, entschloss Kathleen sich dazu, sich neben ihm auf die Liege zu setzen und faltete die Hände in ihrem Schoß. Die richtigen Worte waren schwer zu finden bei der Thematik, denn sie wollte ihrem Freund kein Unrecht antun.
Anlügen wollte sie Lorenzo aber nicht. Es war schlauer, wenn sie ihm erzählte, was in ihr vorging. Vielleicht hatte er eine Idee, wie sie die Problematik angehen sollte.
„Ach, es ist nur, es geht um Tristan", fing sie an zu erklären und strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Es ist irgendwie viel passiert in den letzten Tagen. Ich habe dir ja von diesem Fall erzählt und seit gestern ist Tristan wieder in Kanada. Er will morgen wiederkommen, aber ich habe das Gefühl, dass das alles irgendwie etwas in ihm aufgewühlt hat. Ich möchte nicht, dass er damit alleine klar kommen muss." Katie hatte das Gefühl, vollkommen verzweifelt zu klingen, und sie wusste nicht, ob es in Ordnung war, das alles überhaupt anzusprechen. Es war selten, dass sie mit ihren Problemen zu jemanden ging. Es waren mehr ihre Mitmenschen, die zu ihr kamen, um deren Herz bei ihr auszuschütten. Deswegen fühlte sich diese Situation momentan falsch an. „Wir hatten so eine Art Streit und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll", gab sie am Ende zu. „Es ist so, ich habe das Gefühl, dass er nicht darüber spricht, weil er mir etwas verheimlicht." Ehrlichkeit währte am längsten. Sie wollte ehrlich zu ihrem Freund sein, denn vielleicht konnte er ihr weiterhelfen oder verstehen, was in dem Mann vorging. Außerdem hatte das mal rausmüssen.
Für einen Moment dachte die Ärztin, Lorenzo damit abgeschreckt zu haben, denn zwischen ihnen war es zuerst still. Doch dann spürte sie, wie der Dunkelhaarige seinen Arm um ihren Körper legte und sie versuchte, sanft an sich zu ziehen. Instinktiv lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. „Das klingt doch alles bescheuert, oder?", wollte sie wissen, war aber froh, jemanden zu haben, an den sie sich wenden konnte.
„Nein, nichts davon ist bescheuert", meinte Lorenzo trocken. Hoffentlich bereitete sie ihm in dieser Position nicht noch mehr Schmerzen, als er sie schon hatte. „Hast du denn jemals mit ihm darüber gesprochen?" Eine Frage, die wichtig war, die sie aber direkt mit einem Kopfnicken beantworten konnte.
„Ja, habe ich. Also, ich habe es versucht. Das Ding ist, dass ich nicht zu ihm durchdringe, wenn es darum geht. Er fährt in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen nach Québec und schließt mich jedes Mal aus. Tristan sagt immer, dass er das alleine schon hinbekommt und wenn er mich brauchen sollte, dann meldet er sich." Sie musste unglaublich verzweifelt klingen. Da war sie sich sicher. „Und ich komme mir vor, wie die schlimmste Freundin, die es überhaupt gibt", meinte sie und richtete sich auf, um ihn besser ansehen zu können. Der Behandlungsraum war eindeutig kein Ort, das alles zu besprechen, aber sie beide hatten einen ruhigen Moment.
„Quatsch. Schlag dir das bitte sofort wieder aus dem Kopf. Ich glaube, es gibt keine beste Freundin als dich", machte Enzo ihr klar und wurde etwas verlegen. „Also für mich bist du die allerbeste Freundin, die ich mir je hätte wünschen können. Und wäre ich hetero, würde ich garantiert auf dich stehen, weil du einem alles gibst, was man braucht. Zumindest in meinen Augen." Das liebte sie an Lorenzo. Er war ehrlich und nahm kein Blatt vor den Mund. Deshalb war sie diejenige, die rot um die Wangen wurde und nickte. Damit hatte er recht. Sie tat alles, sie arbeitete an dieser Beziehung. Tristan war meistens derjenige, der ihr die kalte Schulter zeigte.
„Wir sind schon so lange zusammen und ich weiß, dass da etwas ist, das er mit sich herumschleppt. Irgendwann entwickelt man dafür ein Gefühl, weißt du?", redete sie weiter und fing nun an, ihre Finger zu kneten. Sie war nervös. Weil sie sich deshalb schon oft und lange genug den Kopf zerbrochen hatte.
„Zweifelst du damit seine Treue an?", Lorenzo hörte sich verwundert an und in seinem Gesicht sah sie die Überraschung, merkte aber schnell, dass sie womöglich die falschen Worte gewählt hatte.
„Nein! Das nicht. Tristan ist die treuste Seele, der ich jemals begegnet bin. Er würde mir nie fremdgehen. Wir lieben uns und daran zweifele ich auch rein gar nichts an", erklärte sie ihm die Situation und schüttelte den Kopf. Kurz darauf rutschte sie von der Liege und ging einige Schritte durch den Raum. „Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Aber er verheimlicht etwas. Vor uns allen. Ich weiß bis heute nicht, was er in Québec treibt. Familie hat er keine mehr, zumindest weiß ich von keiner. Er ist jetzt wohl wegen dem Notar dort. Es geht um das Haus, keine Ahnung. Vielleicht will er sich auch mit Grayson treffen." Ihr bereitete das alles Kopfschmerzen und eigentlich wollte sie das Thema wieder beenden.
„Möchtest du, dass ich jemanden darauf ansetze? Ich könnte ihn... nun ja, beschatten lassen", Lorenzos Vorschlag sorgte dafür, dass sie ihn überrascht ansah. Wirkte sie so? Nein, das war falsch, deshalb schüttelte sie den Kopf und sah zu, wie er zu ihr aufholte und dafür sorgte, dass sie aufhörte, durch den Raum zu tigern. Sie spürte seine Hände an ihren Armen und suchte seine braunen Augen.
„Vergiss es. Das kommt nicht in Frage. Ich will nicht, dass jemand sich da einmischt. Wenn, dann werde ich selbst seine Spur verfolgen müssen. Dabei weiß ich, dass ich ihm vertrauen sollte. Wenn er sagt, dass er klar kommt, dann sollte ich ihm das glauben." Lorenzo nickte bei ihren Worten und verstand, was sie ihm damit sagen wollte.
„Sollte ich etwas für dich tun können, dann lass es mich wissen, okay? Ich habe meine Möglichkeiten." Der Dunkelhaarige versuchte es mit einem Lächeln und zwinkerte ihm zu.
„Danke, Enzo. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Aber es hat schon gut getan, mit dir darüber zu sprechen", stellte Katie klar und umarmte ihn kurz darauf.
„Na klar doch", versicherte er und nahm sich selbst den Moment, sie festzuhalten. Doch das Vibrieren seines Handys holte sie zurück in die Realität. Lorenzo hatte eine Nachricht bekommen, die er sich durchlas. Bevor er etwas sagte, räumte er das Telefon wieder weg und sah sie entschuldigend an. „Ich muss jetzt gehen. Es gibt noch einiges zu erledigen. Aber wir sehen uns heute Abend, okay? Den Filmabend lasse ich mir nicht entgehen", meinte er und hielt kurz inne, da er über etwas nachdachte. „Kommt Konstantin denn auch?"
Die Neugier ließ sie stutzig werden, aber sie nickte.
„Er kommt auch, ja. Es wird ein schöner Abend zu dritt. Ich dachte, wir bestellen uns Pizza." Warum hatte er explizit wissen wollen, ob Konsti ebenfalls kam? Normalerweise erkundigte sich der Italiener nicht deshalb. Bis jetzt hatte es nie eine Rolle gespielt, ob er dabei war oder nicht.
„Vergiss das Bestellen. Ich nehme uns etwas von Antonio mit. Schreib mir dann einfach, was ihr beide haben wollt und ich bringe es mit." Antonios Pizzen waren die Besten. Eine Diskussion war dementsprechend vollkommen unnötig.
„Perfekt. Wir warten auf dich. Und pass auf dich auf, okay?", sagte sie sanft, legte dem Größeren eine Hand auf die Wange und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. „Und danke, dass ich dir mein Herz ausschütten durfte." Lorenzo entgegnete ihr ebenfalls ein Lächeln, beugte sich aber vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ciao, bella", damit verabschiedete er sich von ihr, schnappte sich sein Rezept und verschwand damit aus dem Untersuchungsraum, ließ sie für einen Moment zurück.
Sie sollte mit Tristan ein weiteres Mal darüber sprechen und ihm klar machen, dass es Zeit wurde, dass er auspackte. Es wurde Zeit, alle Geheimnisse beiseitezuschaffen. Fast zehn Jahre waren sie ein Paar und gingen gemeinsam durch das Leben. Was immer es war, sie glaubte, dass sie Tristan immer das Gefühl gegeben hatte, dass er ihr vertrauen konnte.
Sie würde daran bleiben, denn seitdem Clara bei ihnen im Krankenhaus war, war ihr Lebensgefährte wie ausgewechselt. Sie wusste nicht, was es war, aber die kalte Schulter, die er ihr zeigte, verletzte sie. Es war Zeit, etwas daran zu ändern.
Kathleen musste nur warten, dass er zurückkam. Bis dahin hieß es für sie, den Ball flach zu halten, sich alles genau zu überlegen und ihrem gewohnten Alltag nachzugehen.
Auf der Kardiologiestation wartete man bestimmt schon auf sie. Katie hatte Lorenzo mehr Zeit geschenkt, als sie geplant hatte, deshalb sollte sie dorthin zurückkehren und ihren eigentlichen Fällen nachgehen. Für heute stand sogar noch eine Operation für sie an. Deshalb sollte sie anfangen, das Thema vorerst aus ihrem Kopf zu verbannen und sich auf die momentan wichtigen Dinge zu konzentrieren.
Das Gespräch mit Lorenzo hatte ihr geholfen. Sie konnte sich zumindest einen kleinen Teil von der Seele reden und möglicherweise alles von unterschiedlichen Seiten betrachten.
Doch das war jetzt nicht wichtig. Ihre Patient*innen warteten und zählten auf sie. Man war auf sie angewiesen.
Deshalb machte sie den Raum sauber, bevor sie diesen verließ, gab Bescheid, dass sie hier weg war und begab sich dorthin zurück, wo sie sich auskannte.
Die Kardiologie. Ob das daran lag, dass ihr Vater ebenfalls einer war, wusste sie nicht, denn ihr ganzes Leben war sie nur mit diesem Thema konfrontiert gewesen. Sie spürte eine gewisse Verantwortung deshalb und hoffte, eines Tages mindestens genauso anerkannt zu werden, wie ihr Vater es wurde oder Tristan, in dem jeder einen Goldjungen sah. Sie gab ihr Bestes für den restlichen Nachmittag und freute sich auf den Abend mit ihren beiden Jungs. Sie hatte sich bereits einen Film ausgesucht und war sich sicher, dass sie nicht besonders davon begeistert sein würden. Doch das war ihr egal. Diesen Abend hatte sie sich verdient.
Vielleicht war diese Auszeit sogar gut für sie. Es konnte ihr helfen, nachzudenken und die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
Fakt war aber, dass ein Gespräch mit Tristan hermusste. Egal, was dabei herauskam oder wie weh es tat. Da mussten sie beide durch.
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