16. 𝒦𝒶𝓅𝒾𝓉𝑒𝓁
Pizza, Pasta und Tiramisù – das hatte es gebraucht, um Katie glücklich zu machen. Sie saßen in seinem Zimmer auf dem Boden und aßen dort, anstatt in der Küche. Das war etwas, worauf Kathleen bestanden hatte, und Tristan hatte es schweigend hingenommen. Es war eine außergewöhnliche Situation, also warum konnten sie nicht auf die gleiche Art und Weise essen? Im Augenblick erschien sowieso nichts normal, so, als würde ihm alles durch die Finger gleiten und als würde er die Kontrolle verlieren. Etwas, das ihm nicht geheuer war. Aber scheinbar etwas, worauf er sich einlassen sollte. Von nun an würde nichts mehr so laufen, wie er es sich das vorstellte. Doch das, was er kontrollieren konnte, würde er beibehalten.
„Du hast mir meine Frage von vorhin nicht beantwortet", kam es auffordernd von Katie und er hob nur fragend die Augenbraue. Tristan sah sie an und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Natürlich war ihm klar, worauf sie hinaus wollte, aber er verstand nicht, warum sie das unbedingt wissen wollte. „Hast du dir je gewünscht, ein Mädchen hierher zu bringen?", wiederholte sie ihre Frage von vorhin, während sie sich daran machte, ihren Laptop hochzufahren, damit sie sich einen Film ansehen konnten. Internet hatte er hier zwar nicht, aber in der heutigen Welt war zum Glück mit Downloads und Hotspots alles möglich.
„Ich glaube, die Frage solltest du lieber Ben stellen. Der war viel mehr mit solchen Dingen beschäftigt. Mehr als ich", meinte er aufrichtig und zuckte leicht mit den Schultern. „Wir waren sehr unterschiedlich und mein Alltag bestand meist daraus, zu lernen und dafür zu sorgen, dass unser Vater mit meinen Leistungen zufrieden war." Es gab keinen Grund für ihn, nicht ehrlich zu ihr zu sein, das war in seiner Vergangenheit so gewesen. „Ich habe mir damals über solche Dinge keine Gedanken gemacht. Das war einfach nicht wichtig." Er sah zu ihr auf und musterte sie einen Augenblick. Dabei konnte er Katie ansehen, dass das etwas mit ihr anstellte. Was es war, konnte er nicht so deutlich erkennen oder sagen, denn sie schien es zu verstecken. War sie jetzt enttäuscht, dass er mit vierzehn nicht so hormongesteuert war, wie andere damals in ihrem Alter? Hatte er etwas Falsches gesagt?
Manchmal war das Leben kompliziert und es war oft nicht einfach, die richtigen Worte zu finden. Doch anstatt Enttäuschung zu erfahren, spürte er, wie Katie ihre Hand auf seinen Arm legte und ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte.
„Schon gut. Ich habe keine Wunden aufreißen wollen. Es ist nur, ich habe das Gefühl, eine vollkommen neue Seite von dir kennenlernen zu dürfen", sagte sie offen und ehrlich. Dabei fuhr sie sich durch die blonden Locken und blickte einen Moment an die Decke. „Du hast nie so viel aus deiner Vergangenheit erzählt und jetzt bin ich hier mit dir in dem Haus, in dem du aufgewachsen bist. Das wirft einfach Fragen auf, weißt du? Ich möchte nur herausfinden, wie du damals warst. Wie du getickt hast. Und es tut mir leid, sollte ich dir damit zu nahe getreten sein. Ich war nur neugierig. Mehr nicht."
Er ließ ihre Worte zu sich durchsickern und nickte, um ihr klar zu machen, dass er verstanden hatte. Das konnte er ihr nicht einmal übel nehmen. In gewisser Weise konnte er sogar nachvollziehen, warum sie das wissen wollte, warum sie so dachte. Vielleicht musste er diesbezüglich nur lockerer werden, sich mehr darauf einlassen. Schließlich sollten sie nicht das Gefühl haben, dem jeweils anderen auf die Zehen zu steigen, weil es Themen gab, die nicht gewöhnlich für sie waren. Sie waren schon so lange ein Paar und sollten keine Geheimnisse voreinander haben. Eigentlich.
„Nun, jetzt bist du ja hier. Aber du bist kein Mädchen", erklärte er ihr und sah sie an, erntete aber direkt einen verwirrten Blick von seiner Freundin. Das allein sorgte bei ihm dafür, dass er lächeln musste.
„Ich habe kein Mädchen mit nach Hause gebracht, Katie. Sondern eine Frau. Und weißt du, ich denke, meine Familie hätte dich sehr gemocht. Ben ist begeistert von dir, das kann ich dir sagen, aber ich denke, dass meine Mutter dich sehr geliebt hätte." Während er diese Worte aussprach, zog er die Knie an und schlang die Arme um diese, betrachtete den hochgefahrenen Laptop. Katie hatte als Hintergrundbild eine Fotocollage erstellt. Bestehend aus Fotos, die sie gemeinsam gemacht hatten, auf denen sie zusammen zu sehen waren. Ja, seine Mutter hätte sie geliebt. Sie aufgenommen, wie ihre eigene Tochter. So hatte Melinda getickt. Bei ihnen war immer jeder willkommen gewesen. Eddie war damals faktisch Dauergast bei ihnen, wie das sechste Kind, das sie nie hatte, vor allem nachdem dessen eigene Mutter verstorben war. Deswegen war er sich sicher, dass sie Katie geliebt hätte. Nicht nur, weil sie seine Freundin und die Frau war, an die er sein Herz verloren hatte, sondern aufgrund ihrer offenen und liebevollen Art, das Lächeln, das kaum wegzudenken war. Ihre positive Ausstrahlung. In Momenten wie diesen wünschte er sich, Kathleen seiner Familie vorstellen zu können. Aber er wusste, dass dies niemals möglich sein würde. Ben war die einzige Familie, die er noch besaß.
Ihre Hand wanderte von seinem Arm in seinen Nacken und strich ihm durch das Haar. Eine Berührung, die er als äußerst angenehm empfand, vor allem als sehr beruhigend. Sie tat dies immer, wenn er traurig gestimmt war. Wenn sie spürte, dass es ihm nicht gut ging.
„Das sind die Momente, die ich besonders mit dir liebe", flüsterte sie ihm zu. Dabei merkte er, dass sie ebenfalls mit den Gefühlen zu kämpfen hatte. „Wenn wir bodenlos ehrlich zueinander sind und sagen, was wir empfinden." Tristan blickte sie an und schluckte leicht. „Und du weißt gar nicht, wie viel mir diese Worte bedeuten, mein Schatz. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das alles in mir auslöst", sprach sie weiter und er hörte ihr zu. Er war still, versuchte, sich diesem Moment hinzugeben. Es war einiges passiert in den letzten 24 Stunden. Er fühlte sich mit einem Mal vollkommen ausgelaugt. So offen und verletzlich hatte er sich ihr gegenüber noch nie gezeigt.
Ein Verhalten, das mehrfach schon fast zur Trennung geführt hatte.
Etwas, das er nie wieder zulassen würde. Zumindest wollte er sich ihr öffnen und ihr zeigen, dass er sie genauso verehrte, wie sie ihn. Es scheiterte bei ihm meistens an der Umsetzung. Er konnte ihr nicht immer begreiflich machen, was er für sie empfand. Schon als Kind hatte er sich schwer damit getan, seine Gefühle und Gedanken preiszugeben. Etwas, woran er verstärkt arbeitete und doch merkte er, dass er regelmäßig vor großen Herausforderungen stand.
„Es tut mir leid, dass ich dir das nicht schon früher habe sagen können", entschuldigte er sich leise bei ihr, setzte sich anders hin, damit er sie mit einer Leichtigkeit auf seinen Schoß ziehen konnte. Er wollte Katie nah bei sich haben, sie halten können. Er wollte sie spüren und hoffte, das Richtige zu tun. „Es tut mir leid, dass du teilweise vor einer eiskalten Wand stehst. Ich weiß, dass es so ist." Tristan betrachtete sie und schluckte leicht, legte eine Hand auf ihre Wange, suchte mit seinen blauen Augen die Ihren. „Aber ich verspreche dir, dass es von nun anders wird."
Kathleen, die zunächst verwirrt und verwundert zugleich gewesen war, hatte kurz darauf wieder ein Lächeln auf den Lippen. Er beobachtete sie dabei, wie sie sich zu ihm hinunterbeugte, um ihm einen Kuss zu geben.
„Hör auf dir den Kopf zu zerbrechen, Iceboi. Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist. Aber vielleicht wird es jetzt auch einfacher für dich. Und wenn du das Gefühl hast, dass du über etwas reden möchtest, ganz egal, was es auch immer sein mag, ich höre dir zu und versuche dir zu helfen, dass deine dunklen Gedanken den Weg ans Licht finden." Worte, die ihn trafen. Die tief in ihn eindrangen und etwas in ihm auslösten, das er nur schwer einordnen konnte. Wollte er das denn? Dass sie von seinen dunkelsten Gedanken mitbekam? War es in Ordnung, wenn diese an die Oberfläche kamen? Würde sie ihn danach weiterhin mit den gleichen Augen sehen?
Das machte ihm Angst.
„Und ganz egal, was kommen sollte. Ich liebe dich, Tristan. Wir haben schon so viel gemeinsam durchgemacht. Also schaffen wir auch das hier und das, was uns die Zukunft noch bringt." Ihre Worte waren warm, so voller Hoffnung und sie sorgten dafür, dass in der Gegend, in der sein Herz lag, ein wenig auftaute.
„Ich liebe dich auch", erwiderte er ihre Worte und hauchte ihr einen weiteren Kuss auf die Lippen. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Und du kannst dir auch nicht vorstellen, wie viel es mir bedeutet, dass du mit mir hergekommen bist. Das alles mit mir durchstehst." Denn egal, wie man es drehte, es war ein einschneidendes Ereignis für sie beide. Ein Ereignis, das Veränderung in ihr Leben brachte.
Katie drehte ihren Kopf zu dem Laptop, überlegte einen Moment, ehe sie diesen schüttelte und sich ihm wieder zuwandte. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und grinste in sich hinein. „Ich denke, wir sollten den Film Film sein lassen. Es gibt im Moment etwas viel Wichtigeres. Uns beide." Mit diesen Worten rutschte ihm das Herz doch ein wenig in die Hose. Es gab Momente, an denen es ihm schwerfiel, sich auf gewisse Dinge einzulassen. Sie waren müde, hatten eine lange Nacht und einen noch längeren Tag hinter sich. Sie saßen beide auf den zwei alten Matratzen, die sie von dem Stockbett auf den Boden geholt hatten, und ihm war klar, was kommen würde. Sicher freute er sich darauf, aber er fragte sich, ob es denn der richtige Zeitpunkt dafür war. Nein, das war wichtig, er sollte sich darauf fokussieren. Es sollte immer richtig sein. Sie stand im Mittelpunkt und das sollte er beachten.
Er durfte in diesem ganzen Chaos nicht vergessen, dass sie genauso hier war und ihn brauchte. Und diesen Wunsch wollte er ihr erfüllen.
Intimität war zwischen ihnen schon immer etwas Besonderes gewesen. Faktisch könnte man meinen, dass sie nur zu bestimmten Anlässen intim miteinander wurden. Er wusste nicht, ob das Katie nicht zu wenig war, aber er versuchte, jedes Mal eine schöne Erfahrung und Erinnerung daraus zu machen.
Und das hier war doch etwas Besonderes, oder? Er hatte einen Teil seiner Familie wieder und er hatte sie in sein Kinderzimmer eingeladen. Auf eine verschrobene Art und Weise war es das.
„Bist du dir sicher?", stellte ihr dennoch die Frage, denn ihm war es wichtig, dass sich keiner von ihnen dazu gezwungen fühlte. Schon gar nicht wollte er, dass Katie sich dazu genötigt fühlte.
„Und wie sicher ich mir bin, Tristan", entgegnete sie ihm sofort und legte ihm ihre Lippen auf seine, sodass ihm gar keine andere Wahl blieb, als den Kuss zu erwidern. Katie sehnte sich nach ihm und genauso empfand er ihr gegenüber. Vielleicht hatte sie recht und er hatte sich solch einen Moment doch immer gewünscht. Es gab so einiges, das er verpasst hatte. Es war so viel verloren gegangen in seiner Jugend. Wobei er sich nicht einmal sicher war, ob das alles passiert wäre,, hätte sein Leben einen normalen Verlauf genommen.
Seine Hände wanderten fast schon automatisch zu ihren Hüften. Tristan wollte das. Er begehrte sie.
Deshalb ließ er sich in den nächsten Minuten von seinen Gefühlen leiten. Er ließ sich auf sie ein und versuchte, ihr all das zu geben, was sie ihm gab. Er liebte sie und sie sollte die ganze Welt zu Füßen gelegt bekommen. Womit er all diese Liebe verdient hatte, konnte er nicht sagen, aber ihm war klar, dass er diesen Zeitpunkt nutzen musste. Sie waren selten und genau wie Katie sie genoss, war es auch er, der den Versuch wagte, jeden Augenblick auszukosten.
Dieser Moment gehörte ihnen. Und vielleicht, ganz vielleicht, war er für diese Minuten einfach ein Teenager. Obwohl es damals für ihn nicht wichtig erschien. Heute war es das und darüber war sich Tristan vollkommen im Klaren. Er hatte einiges im Leben verpasst und jetzt war es an der Zeit, das alles nachzuholen.
Er liebte Katie so sehr. Und das wollte ihr beweisen. Es fiel ihm schwer, all das, was er fühlte, in Worte fassen zu können. Er versuchte, ihr nahe sein und ihr mit jeder Faser seines Körpers zeigen, was er für sie empfand, wie er sie vergötterte. Denn das tat er. Er war vernarrt in sie, akzeptierte selbst ihre Makel. Denn all das machte sie perfekt. In seinen Augen war Kathleen Dunham einfach nur perfekt.
Deswegen waren in diesen Minuten sowohl ihre Berührungen, als auch jene, die er ihr schenkte, vollkommen elektrisierend. Tristan konnte sich nur schwer daran erinnern, je so intensiv in diese Richtung gefühlt zu haben. Es war für ihn so unglaublich leicht, sich fallen zu lassen, sich ihr hinzugeben und mit ihr eins zu werden. Es war perfekt.
Als Tristan die Augen öffnete, war es mitten in der Nacht. Das erkannte er daran, dass das fahle Mondlicht durch das Fenster in sein Zimmer schien. Er hatte als Teenager die Nächte oft am Fensterbrett gesessen und hinaus in den Himmel gesehen, während er darüber nachgedacht hatte, wohin sein Weg führen würde. Weit bevor sich sein Leben für immer verändert hatte. Zuerst hatte er sich als großen Violinisten gesehen, der Karriere mit der Musik machte. Mit seinen eigenen Kompositionen. Manchmal hatte er sich das mit Ben vorgestellt. Sie beide als Duo unterwegs in der Welt. Klassische Musik war etwas, das ihn geprägt hatte.
Im Grunde hatte er sich nie ein Leben ohne Ben vorstellen können. Am Ende hatte er einige Jahre ohne diesen verbringen müssen und die Tatsache, dass er wieder da war, fühlte sich surreal für ihn an. Er konnte nicht glauben, dass Benedict, sich für das Leben entschieden hatte und zurückgekommen war. Von nun konnten sie erneut gemeinsam durch das Leben schreiten. Für ihn, neben der Beziehung mit Katie, das größte Glück auf Erden.
Es waren dieses Mal nicht die Träume oder die Schlaflosigkeit, die ihm den Schlaf verweigerten. Es war viel mehr ein ungutes Gefühl, das ihn mit einem Mal übermannt hatte und dafür sorgte, dass er in die Stille hineinlauschte, um herauszufinden, ob sich im Haus etwas regte. Katie lag zusammengerollt neben ihm und schlummerte friedlich. Es war ihr Atem, den Tristan wahrnahm, tief und regelmäßig. Sie hatte einen ruhigen Tiefschlaf und würde gar nicht mitbekommen, dass er wach geworden war. Aber da war mehr. Schritte.
Im Erdgeschoss.
Tristan setzte sich auf der Matratze auf, die sie auf den Boden gelegt hatten, um mehr Platz zu haben, und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dabei wurde ihm bewusst, dass er noch nackt war und sich schnell etwas anziehen sollte, wenn er nachsehen wollte. Wobei er sich schon vorstellen konnte, was unten geschah. Deshalb griff er nach seiner Boxershorts, seinem Hemd und seiner Hose, um in die Klamotten zu schlüpfen. Denn mit einem Schlag war an Schlaf gar nicht zu denken. Dabei spürte er die Müdigkeit deutlich in seinen Knochen und er wollte diesen warmen Platz neben Kathleen gar nicht verlassen. Dafür war der Abend mit ihr viel zu schön gewesen. Es hatte ihm gutgetan, sich ihr ein wenig öffnen zu können, aber auch das, was danach gekommen war. Er würde lügen, wenn er sagen würde, dass er heute Nacht den besten Sex mit ihr gehabt hatte. Was womöglich daran gelegen hatte, dass er für eine gewisse Zeit nur derjenige sein konnte, der er eigentlich war. Zumindest hatte es sich so angefühlt, als hätte er sich nichts und niemanden gegenüber verstellen müssen.
Und dafür war er dankbar. Katie holte durchaus den Menschen aus ihm heraus, der er sein wollte und nicht der, der er sein musste.
Es war wunderschön gewesen. Fakt war, dass er das niemals vergessen würde. Für ihn ein Befreiungsschlag. Er hatte all das Glück gefühlt, das sich tief in ihm all die Jahre versteckt hatte.
Katie machte ihn zu einem besseren Menschen. Zu jenem Menschen, der er eigentlich war.
Während er sich anzog, versuchte er so leise wie möglich zu sein, nicht nur wegen seiner schlafenden Freundin, die von all der Aufregung nichts mitbekommen sollte. Er wollte nicht direkt die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass er genau wusste, wen er im Haus herumlaufen hörte. Vorsichtig wagte er sich vor zu dem Fenster, um hinauszublicken. Vor ihm erstreckte sich der Garten des Grundstücks. Möglicherweise hätte er jemanden einstellen sollen, der sich um diesen kümmert, damit er nicht so schrecklich verwucherte. Doch sein Verdacht bestätigte sich, als er den alten Vorhang ein wenig zur Seite schob und erkannte, wer sich draußen hingestellt hatte und auf ihn wartete. Es war Grayson.
Er hatte, wie er, einen Zugang zu diesem Haus. Womöglich hatte er jemanden beauftragt, den Schlüssel zu seinem Heim nachmachen zu lassen, damit er sich jederzeit Zutritt verschaffen konnte. Tristan schluckte, spürte, wie für eine Weile sein Puls in die Höhe schnellte und er einen Moment brauchte, um sich aus der Starre zu lösen, in der er verharrt war.
Er musste da hinaus und mit ihm sprechen. Und ihm war bewusst, was er von ihm wollte. Aus welchem Grund er hier war. Deswegen atmete er durch, sah ein weiteres Mal zu Katie, nur um dann auf leisen Sohlen aus seinem alten Kinderzimmer zu gehen und die Tür hinter sich zu schließen. Sie würde womöglich gar nicht merken, dass er weg war in der Nacht, dennoch wollte er all das schnell hinter sich bringen und den Eindringling loswerden.
Tristan machte sich auf den Weg nach unten, kämpfte dabei gegen sämtliche Gedanken an, bis er sich vor dem Garten wiederfand. Die Tür zur Terrasse stand offen. Dabei dachte er gar nicht daran, sich etwas Warmes anzuziehen, denn er wollte sich Grayson stellen. Er trat in die Kälte, nachdem er sich zumindest seine Schuhe angezogen hatte, und blickte dem Mann direkt in die Augen, ein Zeichen, um ihm zu zeigen, dass er keine Angst vor ihm hatte. Die hatte er auch nicht. Keine persönliche. Tristan fürchtete mehr um seine Familie, seine liebsten Menschen. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt und in ihm stieg erneut diese Wut auf, die er nur schwer kontrollieren konnte. Lapointe gegenüber. Vor diesem Mann musste er sich immer zusammenreißen, denn er rief sich die ganze Zeit in Erinnerung, dass das nicht der richtige Moment war, Rache an ihm zu nehmen. Dabei zögerte er diese Sache schon zu lange heraus. Er hatte sich vorgenommen, ihn an einem Punkt zu erwischen, wenn er es nicht erwarten würde. Dabei war er sich sicher, dass Grayson jederzeit damit rechnete und niemals überrascht sein würde. Er hatte bis jetzt jeden seiner Schritte mitbekommen.
Für eine Weile herrschte Stille zwischen den beiden Männern und Tristan kämpfte mit sich selbst und seiner Gefühlswelt.
Er beobachtete Grayson dabei, wie dieser sich genüsslich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte und diese anzündete.
„Glückwunsch. Du und Benedict seid wieder miteinander vereint. Habe ich gehört", waren die ersten Worte, die zu ihm durchdrangen. Er verhielt sich so, als hätte wären ihm diese Informationen zufällig zu Ohren gekommen. Grayson hatte seine Augen und Ohren überall. Der Spot darin war nicht zu überhören und das dreckige Grinsen in dessen Miene nicht zu übersehen. Tristan musste sich zusammenreißen, um ihn nicht direkt anzufallen und ihm das Gesicht in Stücke zu reißen. Dabei hatte er sich schon genaue Gedanken darüber gemacht, was er mit diesem Mann anstellte, sollte seine Zeit endlich gekommen sein. Er hatte alles geplant. Nur war der Moment dafür noch nicht eingetroffen.
Obwohl er kurz davor war, all seine Pläne beiseitezuschieben und es hier und jetzt zu beenden. Deswegen brachte Tristan kein einziges Wort hervor, sondern nur ein bedrohliches Knurren, während er versuchte, sich zurückzuhalten. Grayson sollte ruhig spüren, dass er hier nicht willkommen war. War er niemals.
„Und wie ich sehe, hast du es geschafft, ein Mädchen mit nach Hause zu bringen." Wäre er sein Vater, hätte er womöglich positiver darauf reagiert, aber er hatte für Grayson genauso wenig übrig, wie damals für seinen Erzeuger. „Katie ist wahrlich ein wunderschönes Ding." Der Wind, der aufkam, sorgte dafür, dass er ein wenig fröstelte, doch Tristan versuchte, die Kälte nicht an sich heranzulassen. Dafür war zu viel davon in ihm. Nein, er wollte nicht, dass Grayson gewann. Nicht ein weiteres Mal. Dieser Mann hatte zu lange, viel zu viel Macht genossen. Irgendwann wurde es Zeit, dass er das Gegenteil erfuhr. Vor allem musste ihm klar werden, dass er mit Tristan nicht mehr das machen konnte, was er wollte. Denn er ließ es nicht mehr mit sich machen. Zumindest redete er sich das stets ein.
„Ich weiß nicht, was du hier verloren hättest, Grayson", entgegnete er ihm und versuchte, damit seinen Standpunkt deutlich machen. Tristan wollte ihn nicht mehr sein Leben kontrollieren lassen. Es war vorbei. Er war nicht mehr der naive und manipulierbare Junge von damals. Der Junge, der mit dem Gedanken gespielt hatte, sich ihm anzuschließen und in seinem Auftrag zu agieren.
Er hatte sein eigenes Leben gefunden, seinen Weg. Er wollte sich nichts mehr sagen lassen.
„Ich wollte lediglich nur nett zu dir sein. Schließlich hast du doch wieder das bekommen, wonach du dich die letzten Jahre gesehnt hast, nicht?" Er hasste diesen Mann. Nein, Hass beschrieb nicht einmal ansatzweise die Gefühle, die er für ihn hegte. Dieses gehässige Grinsen auf seinen Lippen, während er an der Zigarette zog. Tristan hatte das Bedürfnis danach, zu schreien. Er wollte alles an Wut rauslassen, die in ihm brodelte, doch das war ihm jetzt nicht möglich. Katie würde damit die ganze Situation mitbekommen und er würde alles mit einem Schlag verlieren.
„Du solltest von hier verschwinden und es auch gar nicht wagen, dich wieder hier blicken zu lassen." Die Schlösser würde er eindeutig austauschen lassen. Dieser Punkt kam auf seine imaginäre To-Do-Liste. Tristan wollte keine nächtlichen Überraschungen mehr, vor allem dann nicht, wenn klar war, dass sie hier in diesem Haus von nun an mehr Zeit verbrachten. Es war eine andere Sache gewesen, als er alleine hierher gekommen war. Aber Kathleen war ebenfalls Teil dieses Ortes und Ben sollte hierher zurückkehren dürfen, wenn er bereit dazu war.
„Dann hättest du dich damals gegen mich entscheiden sollen. Aber du kamst immer wieder angekrochen, wie ein kleiner Wurm." Grayson versuchte, ihn aus der Reserve zu locken, versuchte, das Schlechte aus ihm herauszuholen, und dagegen kämpfte er vehement an. „Du glaubst immer, so intelligent und mir überlegen zu sein, aber wir beide wissen, Tristan, dass das alles gar nicht der Wahrheit entspricht. Niemand, wirklich niemand hat es bisher mit mir aufnehmen können. Ich hätte aus dir etwas ganz Großes machen können, aber du bist im letzten Moment abgesprungen." Er machte sich über ihn lustig, aber es war die Drohung in der Stimme des Älteren auch deutlich zu erkennen. Tristan wusste, dass Grayson sich hinter seiner Überheblichkeit versteckte und viele Menschen für sich arbeiten ließ. Gleichzeitig war Grayson Lapointe der skrupelloseste Mensch, dem er jemals über den Weg gelaufen war. Und er war schon einigen Leuten begegnet. Nicht einmal seinen Vater hätte er so schlimm eingeschätzt. Nein, Robert Livingston war ein Feigling gewesen. Vor allem, als es um das Leben seiner Familie und sein eigenes gegangen war, hatte er deutlich gezeigt, was in ihm gesteckt hatte. Nämlich nichts.
Aber Grayson war eine sehr große Nummer. Jemand, den man nicht unterschätzen sollte.
„Und wenn dir etwas an deiner Familie liegt, Tristan, solltest du mir jetzt mitteilen, wie du dich entschieden hast. Hast du über mein Angebot nachgedacht?" Die Stimmung zwischen ihnen war binnen weniger Sekunden gekippt. Tristan wusste, was an diesen Worten hing und dass er sie ernst nehmen musste. Ihm war schon einmal alles genommen worden. Ein weiteres Mal wollte er das nicht zulassen. Nicht, nachdem er erst so manches wieder zurückgewonnen hatte. Tristan wagte es, den starren Blick von dem Mann abzuwenden und hoch in den Himmel zu sehen. Dabei konnte er beobachten, wie Schneeflocken sich ihren Weg nach unten suchten. Die Kälte schien ihn nun doch erreicht zu haben, denn er versuchte, sich das Frösteln nicht anmerken zu lassen.
Das Angebot. Jenes, das Grayson ihm vor einigen Tagen gemacht hatte. Das letzte Mal, als er hier gewesen war und sie sich ebenfalls in diesem Haus getroffen hatten. Tristan schlang seine Arme um seinen Oberkörper und schloss die Augen. Hatte er darüber nachgedacht? Natürlich. Und er war sich sicher, dass er diesen Auftrag auch ausführen konnte. Doch hierbei ging es um so viel mehr. Es ging hier nur darum, weiterhin Graysons Marionette zu sein und zu tun, was er sagte. Doch da war so viel mehr. Seine Familie, seine Freunde. Familie, die er verlieren konnte, wenn er sich dagegen entschied. Freunde, die sich gegen ihn wenden würden, wenn er beschloss, diesen Auftrag auszuführen. Es stand eine Menge auf dem Spiel. Im Endeffekt wollte er nichts davon riskieren, denn so oder so drohte er, alles zu verlieren. Grayson wusste, was er tun musste, um einen Menschen in Bedrängnis zu bringen. So hatte er es geschafft, Tristan all die Jahre zu kontrollieren.
Für einen Augenblick fühlte sich die Welt für ihn so an, als würde sie sich langsamer drehen. Als würden die Schneeflocken schleichend auf ihn zukommen, als würde Grayson in Zeitlupe seine Zigarette einfach auf den Boden werfen und mit dem Schuh ausdrücken.
Alles fühlte sich mit einem Mal so träge und schwer an. Er hatte gehofft, etwas mehr Zeit zu haben, darüber nachzudenken, einen Ausweg zu finden, sich eine Hintertür offenzulassen, aber in den letzten Tagen war so viel passiert, weshalb er sich keine genauen Gedanken deshalb hätte machen können. Er stand wieder in eine Ecke gedrängt und fand nur schwer einen Weg, um da herauszukommen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem Mann zu fügen und das zu tun, was man von ihm verlangte.
Tristan musste sich etwas einfallen lassen, es ging hierbei nicht um ihn. Sondern um so vieles mehr.
„Also?", hörte er sein Gegenüber fragen, der ungeduldiger wurde.
Dunkle Schatten schlichen sich an und drohten ihn erneut zu verschlingen. Jetzt, wo eigentlich alles in Ordnung zu sein schien. Wo alles so gut lief. Es zerrte an ihm. Die Dunkelheit wollte ihn wieder einnehmen. Ihn verschlingen und nicht mehr loslassen.
Er spürte, wie Lapointe auf ihn zukam, ihm gefährlich näher kam. Alles an diesem Mann schrie nach Bedrohung, nach Gefahr, doch er fühlte sich wie ein verwundetes Tier, das seinem Jäger hoffnungslos ausgeliefert war. Ihm blieb keine andere Wahl.
Er konnte nicht zulassen, dass Katie etwas zustieß. Oder Ben, der erneut ins Leben zurückgefunden hatte.
Es schmerzte, sich wieder dem hingeben zu müssen, vor dem Tristan seit Ewigkeiten versuchte, zu flüchten. All das Glück, das er vor wenigen Minuten noch verspürt hatte, war verschwunden, denn ihm wurde bewusst, dass egal, was er tat, es ihm nie lange vergönnt war, es zu genießen. All das Glück wurde ihm einfach genossen. All das Glück platzte wie eine Seifenblase.
„Ich mache es", kam es zitternd über seine Lippen. Dabei drehte er sich zurück, um hinauf zum Fenster zu sehen, das zu seinem Kinderzimmer gehörte. In der Hoffnung, dass Katie noch nicht aufgestanden war und all das mitbekam.
„Aber ich brauche Zeit", forderte er nun, als er sich zu Grayson zurückdrehte und ihm erneut in die Augen blickte. Könnte er doch nur stärker sein.
„Ja, ja ich verstehe schon. Du hast gerade viel um die Ohren", Grayson legte ihm eine Hand auf die Schulter und er bekam seinen höhnenden Blick ab. „Einen Monat. Mehr nicht. Dir sollte klar sein, dass das nicht nur für dich eine persönliche Angelegenheit ist, sondern auch für mich." Tristan schluckte und nickte stumm.
Ja, das war eine persönliche Angelegenheit. Aber er musste einen Weg finden, um aus dieser Sache herauszukommen. Es musste doch möglich sein.
„Guter Junge", hörte er den anderen sagen, spürte gleichzeitig, wie dieser nach seinem Handgelenk griff und ihm etwas auf die Handfläche legte.
„Du weißt, wie du mich erreichst, sollte alles erledigt sein. Bis dahin werde ich auch kein ungebetener Gast mehr sein." Als Tristan auf seine offene Hand hinabblickte, erkannte er, dass es sich um den Schlüssel handelte, mit dem Grayson sich Zutritt in das Haus verschafft hatte. Der Ältere war nach drinnen verschwunden, als er erneut aufsah und er hörte in der Ferne, wie die Haustür ins Schloss fiel. Grayson war wie vom Erdboden verschluckt. Als wäre er niemals da gewesen. Alles, was zurückblieb, war diese schreckliche Leere, die sich in Tristan ausbreitete.
Und er hatte sich erneut auf den Pakt mit dem Teufel eingelassen.
Er fühlte sich schwach, wie ein Idiot.
Aber ihm war klar, dass ein Plan hermusste. Einer, der dafür sorgte, dass Grayson aufhörte, über ihn und sein Leben zu bestimmen. Damit sollte ein für alle Mal Schluss sein.
Deshalb verweilte Tristan einige Minuten im Garten, versuchte seine Gedanken zu ordnen, beobachtete den Schnee dabei, wie er sich auf dem Boden festsetzte und die Welt in ein weißes Wunderland verwandelte.
Erst, als ihm klar wurde, dass sich seine Gedanken im Kreis drehten, durchbrach er diesen Loop, begab sich nach drinnen, verschloss die Türen gründlich und kämpfte sich zurück an die Seite der Frau, die er über alles liebte. An ihre Seite, wo es warm war und es zumindest den Anschein machte, als könnte er neben ihr ein wenig auftauen. Sie brauchte von all diesen Dingen nie etwas erfahren. Das würde alles zerstören.
Er würde sie dadurch verlieren und das konnte und wollte er nicht riskieren. Für nichts und niemanden auf dieser Welt.
In diesem Augenblick gab es jemanden, den er mehr verachtete, als Lapointe. Nämlich sich selbst.
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