12. 𝒦𝒶𝓅𝒾𝓉𝑒𝓁

Den letzten Abend hatte Katie damit verbracht, alles zu organisieren, damit Tristan sich nicht darum kümmern musste. Es war gut, dass die Wahrheit herausgekommen war und sie wusste, dass er einen Zwillingsbruder hatte, der am Leben war. Ihr Freund war gestern kaum ansprechbar gewesen. Tristan war in seiner Welt versunken und sie hatte ihn gelassen, denn Katie konnte sich vorstellen, dass das nicht einfach war. Nachdem sie den Anruf von Eddie erhalten hatten, der ihnen erzählte, dass es Benedict den Umständen entsprechend gut ging und dass noch weitere Untersuchungen anstanden. Das war klar und Kathleen war es wichtig, dass die beiden Brüder schnell miteinander vereint waren. Sie hatte keine Ahnung, ob Ben an einer Amnesie litt, an wie viel oder woran er sich erinnerte, aber deshalb war es notwendig, dass sie dorthin kamen.

Dennoch gab es eine Menge, um die sie sich kümmern musste. Sie hatte im Krankenhaus angerufen, um dort alles zu klären. Sie musste damit leben, dass man nicht begeistert darüber war, dass sie beide eine Zeit lang nicht da waren, aber das war Katie egal. Sie waren beide gute Ärzte, sie konnten überall arbeiten, wenn sie das wollten. Im schlimmsten Fall brauchte sie sich nur an ihren Vater wenden und der sorgte dafür, dass sie eine gute Stelle bekamen. Sie mochte zwar in vielerlei Hinsicht kein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben, aber in diesem Punkt konnte sie sich zumindest auf ihren Vater verlassen, der selbst Chefarzt in einem Krankenhaus in Baltimore war. Er war kein unbekanntes Gesicht. In ihrer Welt war er so etwas wie ein Star. Deshalb machte sie sich deshalb keine Sorgen. Und Tristan brauchte dies nicht zu tun.

Nachdem sie das mit der Arbeit erledigt hatte, schrieb sie etliche Nachrichten an Konstantin und Lorenzo, um sie ebenfalls darüber in Kenntnis zu setzen, was passiert war und bat sie dabei um ihre Hilfe. Lorenzo hatte nur wenige Minuten später angerufen und gefragt, ob sie seinen Privatflieger brauchten, um nach Québec zu kommen. Natürlich, wenn man Capo in der italienischen Mafia war, besaß man solche Privilegien und Mister Mafia Lorenzo war sogar bereit, diese mit Katie zu teilen. Etwas, was sie zu schätzen wusste, doch sie hatte abgelehnt. Sie wollte die Fahrt am nächsten Tag nutzen, um mit Tristan noch einmal sprechen zu können. Nicht darüber, was Streitthema zwischen ihnen gewesen war, sondern über seinen Bruder. Sie hatte so viele Fragen, wollte erfahren, wer Benedict überhaupt war. Denn Tristan hatte immer von seinen jüngeren Geschwistern erzählt, aber nie von ihm. Es war beinahe so, als hätte er ihn absichtlich weggelassen. Ob es daran lag, dass es ihm zu sehr schmerzte, ihn zu einem Thema zu machen, konnte sie nicht sagen. Aber das spielte jetzt keine Rolle.

Katie organisierte eine Menge in den letzten Abendstunden, denn es stand in wenigen Tagen Weihnachten an und nachdem das Meiste geplant war, musste sie alles ein wenig umdisponieren. Das kostete sie einiges an Nerven, aber sie hatte eine Idee. Einen Plan, von dem sie Tristan nichts erzählte, denn es sollte eine Überraschung werden. Weihnachten sollte trotzdem ein schöner Feiertag werden für sie. Dieses Jahr genauso. Wenn auch unter Umständen. Anschließend hatte sie ihrem Lebensgefährten geholfen, ihre Koffer zu packen und am Ende waren sie beide todmüde ins Bett gefallen und eingeschlafen. Sie wollten früh aufstehen und losfahren. Katie grübelte seitdem sehr viel, denn sie fragte sich, ob das alles war, was Tristan beschäftigte. Ob es nur Ben war, der ihm die ganze Zeit durch den Kopf schwirrte, oder ob da mehr war. Sie wusste es nicht und sie fürchtete, dass sie es vorerst nicht herausfinden würde.

Aber das war in Ordnung. All das war ein Anfang. Sie durfte ihn begleiten und für ihn da sein, ihn unterstützen. Das war ihr wichtig und das hatte sie ihm deutlich gemacht.

Sie würden alles schon hinbekommen. Da war sie sich sicher. Sie fanden einen Weg. Auch wegen Ben. Sie stand mit allem hinter Tristan. Für alles gab es einen Weg oder eine Lösung.

Kathleen hatte entschieden, die erste Hälfte der Strecke zu fahren, denn Tristan kannte sich in Québec etwas besser aus und wusste am Ende, wohin sie mussten. Sie hatten sich ausgemacht, dass sie direkt Ben besuchen fahren würden, immerhin konnte sie sich vorstellen, dass Tristan es kaum erwarten konnte, ihn endlich wiederzusehen. Sie hatte zwar nie Geschwister gehabt, deshalb konnte sie nicht nachvollziehen, wie sich dieser Schmerz anfühlen musste, so nahe Verwandte zu verlieren oder seinen eigenen Zwillingsbruder über vierzehn Jahre nicht sehen oder sprechen zu können. Es war eine schreckliche Situation, so viel konnte sie sagen.

Trotzdem hatte sie irgendwann eine Pause vom Fahren gebraucht, denn irgendwann war der Hunger zu groß geworden, um sich normal weiter konzentrieren zu können. Deshalb hatten sie entschieden, für eine Weile stehen zu bleiben und in einem Fast-Food Restaurant zu frühstücken. Katie wusste, dass das überhaupt nicht Tristans Art war und er die Art von Essen verabscheute, aber dafür liebte sie es umso mehr. Sie hatte ihm vorgeschlagen, nach einer anderen Möglichkeit Ausschau zu halten, doch er hatte darauf bestanden, dass sie da stehen blieben und etwas aßen. Womöglich war es das schlechte Gewissen, das aus ihm sprach, denn ihm war bewusst, dass Katie Berge versetzt hatte, damit er und sie auf die Schnelle freibekamen. Deshalb nahm er es in Kauf, sich mit dem ungesunden Fraß auseinanderzusetzen. Wobei das so nicht stimmte. Tristan hatte sich nur einen Kaffee und einen Orangensaft bestellt, sowie eine kleine Portion Pommes, die er nicht anrührte.

Allein dieser Anblick erinnerte sie an ihr erstes Treffen auf dem Unicampus. Sie hatten zusammen studiert, waren in vielen, gemeinsamen Kursen und irgendwann hatten sie miteinander arbeiten müssen, um ein Projekt auf die Beine zu stellen. Sie erinnerte sich daran, dass es spät geworden war und sie mitten in der Nacht schlimmen Hunger bekommen hatte. Alles, was in der nächsten Umgebung offen gehabt hatte, war eine kleine Imbissbude, zu der sie spaziert waren, damit sie sich Pommes holen konnte. Er hatte sich ebenfalls eine Portion bestellt, womöglich aus Höflichkeit, aber nichts davon angerührt. Am Ende hatte sie alles gegessen und Tristan hatte seitdem immer dafür gesorgt, dass etwas zu essen in der Nähe war, wenn sie zusammen waren. Das hielt sie ihm heute noch zu gute und sie wusste, dass er diesen Stopp nur deshalb machte, weil er ihr etwas zurückgeben wollte. Auf eine verschobene Art.

Aber sie sah ihm an, dass er sich zu viele Gedanken machte und sich den Kopf zermahlte. Deswegen ließ sie von ihrem Frühstück erst einmal ab und legte ihre Hand sanft auf seine.

„Hey", sagte sie ruhig und musterte ihn. Dabei versuchte sie über ihre blonden Locken Herr zu werden, die heute sowieso das taten, was sie wollten. „Du solltest etwas essen", sprach sie ihre Besorgnis aus, doch Tristan schüttelte nur den Kopf und trank einen Schluck von seinem Kaffee.

„Ich bekomme jetzt sowieso nichts runter", machte er ihr klar und sie schnaubte nur. Nicht, weil sie sauer auf ihn war, sondern, weil sie diese Situation frustrierte.

„Ich weiß. Aber zumindest ein paar Bissen. Ansonsten halte ich noch an einer Tankstelle und wir besorgen dir ein Sandwich oder so. Irgendwas", schlug sie vor, denn sie wollte ihn genauso versorgt wissen, wie sie ihn. Das wäre nur fair.

Eine Weile war es still zwischen ihnen, denn sie sah ihm an, dass er versuchen wollte, etwas zu sagen. Katie gab ihm die Möglichkeit, seine Gedanken zu sortieren, und sie entschied sich dazu, zumindest ein paar Bissen zu essen.

„Was ist, wenn er mich nicht mehr erkennt?", lautete die Frage, die er am Ende in den Raum stellte und sie musste feststellen, dass es das war, was ihm im Moment Angst bereitete. Das war eine Möglichkeit von vielen, die eintreten konnte, denn bei Komapatienten stellte sich erst heraus, welche Schäden sie davon getragen haben, nachdem sie wieder aufgewacht waren. Und dass Ben an einer Form von Amnesie litt, war nicht einmal unwahrscheinlich. Sie kannte seine Akte zwar nicht und Tristan hatte sich recht kurz gehalten, als sie nach seinen Verletzungen gefragt hatte, aber es bestand die Chance, dass er alles sogar gut weggesteckt hatte. Wunder gab es immer und Katie wünschte den beiden Brüdern dieses Wunder. Vierzehn Jahre waren ein harter Brocken. Sowohl für Tristan, als auch für Ben, denn dieser musste vollkommen verwirrt sein, nachdem er aufgewacht war. Der arme Mann.

Doch Katie wollte ihrem Liebsten eine Antwort geben. Die schuldete sie ihm, nachdem er ihr eine Frage gestellt hatte.

„Wir sollten nicht den Teufel an die Wand malen, Tristan. Vielleicht ist alles halb so schlimm, als du denkst. Wir sollten dort erst einmal ankommen und dann sehen wir weiter." Es war dieser unberechenbare Optimismus, der aus ihr sprach. Sie hatte Jahre daran gearbeitet, sich diesen anzulegen, denn Katie war nicht immer so gewesen. Aber das war eine andere Geschichte. Etwas, worüber sie nur ungern nachdachte.

„Und selbst wenn er es nicht tut, werden wir alles geben, damit er es irgendwann wieder tut. Und außerdem, ich denke, dass er sich freuen wird, zumindest jemanden zu haben, der ein Familienmitglied ist. Der eigene Zwillingsbruder ist da wohl sogar der größte Jackpot." Katie schenkte ihm ein Lächeln und drückte seine Hand, die sie festhielt. Liebevoll streichelte sie ihm mit dem Daumen über die Haut seines Handrückens. Sie wollte versuchen, ihn aufzumuntern. Ob es funktionierte, wusste sie nicht so wirklich. Und dann wurde Katie etwas klar.

„Ist das oder, besser gesagt, er der Grund dafür, dass du dich für die Neurologie entschieden hast?" Katie sah ihn neugierig an und hob kurz die Augenbrauen fragend an. Denn soweit sie sich erinnern konnte, wusste Tristan schon seit Anfang an, in welche Richtung er gehen wollte, während sie sich das am Anfang ihres Studiums noch offen gehalten hatte. Am Ende war sie in der Kardiologie gelandet, wie ihr Vater. Das war klar gewesen. Es war ihre Bestimmung, in die Fußstapfen ihres Vaters zu steigen. Doch Tristan war der intelligenteste Mensch, dem sie jemals begegnet war, und zunächst hatte sie ihn einfach dafür bewundert, dass er wusste, wohin er wollte. Heute hatte sie einen anderen Blick darauf. Zumindest seit eben.

Tristan sah sie an und nickte stumm. „Irgendwie schon. Ich glaube, ich habe dann als Teenager angefangen, sämtliche Bücher darüber zu verschlingen, um zu verstehen, was das alles für Ben bedeutet und was das für mich bedeutet. Ich habe das Internet und sämtliche Magazine, nach Berichten durchforstet und mich viel mit seinen Ärzten unterhalten. Und als ich dann wusste, ich möchte Medizin studieren, war klar, dass es für mich keinen anderen Bereich als die Neurologie gibt." Das war eine legitime Erklärung. Eine, die sie gut verstehen konnte. Tristan legte eine ordentliche Karriere hin. Sie hatte alles hautnah erlebt, war nie von seiner Seite gewichen und hatte selbst nach ihrem Studium und ihrer Ausbildung eine Menge von ihm lernen können. Fachlich war er begabt, nur mit den Menschen und den Emotionen hatte er es nicht. Aber das war der Ausgleich, der zwischen ihnen entstanden war. Denn Tristan hatte von ihr genauso gelernt, wie sie von ihm.

„Dann kann sich Ben wirklich sehr glücklich schätzen, einen so tollen Bruder zu haben. Ehrlich, jeder sollte es zu schätzen wissen, dich kennen zu dürfen", meinte Katie und sie merkte, wie seine Mundwinkel zumindest ein Stück weit nach oben wanderten. Er hatte es verdient, zu wissen, was sie und viele andere von ihm hielten. Tristan war der intelligenteste, liebevollste und herzensgütigste Mensch, dem sie jemals begegnet war. Deshalb war sie froh, an seiner Seite sein zu dürfen und den Weg mit ihm gemeinsam zu gehen.

„Wir kriegen das hin", machte sie ihm klar. „Mach dir keine Sorgen. Wenn Ben mindestens genauso einen Willen hat, wie du, ist er vielleicht sogar schneller auf den Beinen, als wir schauen können."

„Er war zumindest genauso stur wie ich es bin", kam es von ihrem Freund, der wieder ein leichtes Lächeln im Gesicht hatte.

„Siehst du? Dann wird das hundertprozentig etwas", versicherte Katie ihm und drückte seine Hand ein weiteres Mal. „Mach dir keinen Kopf. Das wird schon." Es tat ihr gut, ihren Freund wieder lächeln zu sehen und es tat ihr gut zu wissen, dass sie ihn ein wenig aufmuntern konnte. Das war ihr so verdammt wichtig. Sie wollte nur, dass es ihrem Freund gut ging. Er hatte alles auf dieser Welt verdient.

„Danke, Katie. Dafür, dass du hier bist und dass du das alles mit mir durchstehen willst", hörte sie ihn nach einer Weile sagen und sie nickte leicht. Für sie war es klar.

„Das ist selbstverständlich, Tristan", entgegnete sie ihm und suchte seine blauen Augen, in denen das Leben zurückgekehrt war. Zumindest ein wenig.

„Nein ist es nicht. Nicht, nachdem ich es dir verheimlicht habe." Doch Katie schüttelte nur ihren Kopf und wollte ihm somit zeigen, dass es ihr egal war. Für den Moment spielte es keine Rolle. Es war raus und sie konnte helfen. Um mehr war es ihr nicht gegangen. Sie würde alles für ihn tun. Deshalb seufzte sie anschließend und musterte ihn.

„Es ist Vergangenheit, Tristan. Lass uns nach vorne sehen, okay? Es geht jetzt um dich und deinen Bruder. Das ist jetzt das, worauf wir uns fokussieren müssen. Worauf du dich fokussieren musst. Alles andere lässt du meine Sorge sein, ja?" Damit wollte sie ihm klar machen, dass sie alles weitere im Griff hatte und er sich keine Gedanken machte.

„Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet." Das allein brachte sie zum Grinsen.

„Doch darüber bin ich mir sehr gut im Klaren, Iceboi", erwiderte sie und griff nach ihrem Kaffee, um einen Schluck trinken. Tristan sah sie nur verwundert und hochgezogenen Augenbrauen an.

„Nachdem, du es Fast-Food hast, muss dir all das sehr viel wert sein, wenn du jetzt hier mit mir sitzt", erklärte sie die Situation, wobei sie ihn damit nur necken wollte. Das konnte sie gut.

Aber sie hatte ihn damit erwischt, sie konnte ihm im wahrsten Sinne dabei zusehen, wie die Verlegenheit ihm ins Gesicht kroch. Das brachte sie zum Lachen, denn sie mochte es, wenn er sich so verhielt. Tristan war sehr bescheiden und aufopfernd.

„Schon gut, Iceboi. Ich weiß, dass das ein großes Ding für dich ist und ich stärke dir immer den Rücken." Katie hob seine Hand zu ihren Lippen um diese zu küssen. „Ich liebe dich. Deswegen bin ich hier. Da ist es mir egal, worum es geht. Ich bin da, wenn ich da sein soll." Ehrliche Worte, die Tristan offensichtlich trafen.

„Du bist einfach unglaublich, Katie. Ehrlich. Ich weiß, dass das nicht jeder machen würde." Sie nickte und war froh, dass gewisse Dinge angesprochen worden waren.

Aber jetzt gab es etwas, worauf sie sich konzentrieren mussten. Das war ihr Frühstück und anschließend die restliche Fahrt nach Québec. Tristan musste zu seinem Bruder und sie würde alles in dieser Welt tun, um ihn dorthin zu bringen. Sie wollte, dass die beiden wieder vereint waren und zueinander fanden. Viel zu lange waren die beide voneinander getrennt gewesen. Sie brauchten sich. Das war wichtig. Deshalb war ihr klar, dass sie sich ab dem Zeitpunkt im Krankenhaus etwas zurückziehen würde und sich um andere Sachen kümmerte, während Tristan bei Benedict war.

Das war das, was zählte. Benedict zählte, Tristan genauso. Alles an dieser Situation war unglaublich wichtig.

Zumindest für Kathleen. 

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