10. 𝒦𝒶𝓅𝒾𝓉𝑒𝓁
Sie fing sich lachend an der Bande ab, um sich abzubremsen, da sie das Gefühl hatte, das Gleichgewicht zu verlieren. Sie konnte zwar Eislaufen, nur das Bremsen war eine vollkommen andere Geschichte. Katie versuchte es, jedoch klappte es nicht immer. Sie war bemüht, aber oft kamen die Dinge nicht so, wie man es sich vorstellte. Kurz hinter ihr kam ihr Freund zum Stillstand, so elegant, wie er sonst immer in allem war. Es war nicht zu leugnen, dass er das ebenfalls konnte.
„Ich habe dir schon so oft gezeigt, wie das geht", hörte sie ihn sagen, während er dicht an sie herankam und sie seine Lippen an ihrem Ohr vernahm. Gleichzeitig spürte sie seine Arme um ihren Körper und sie schmiegte sich direkt in diese Zuneigung. Tatsächlich war das heute einer der wenigen Sätze, die recht locker aus seinem Mund kamen. Sie wollten sich zwar einen schönen Tag machen, doch Katie wurde das Gefühl nicht los, dass da etwas nicht in Ordnung war mit Tristan. Er wirkte abwesend und durcheinander, aber sie hatte noch nicht den Mut gehabt, nachzufragen. Dafür war die Freude zu groß gewesen, als er sie gefragt hatte, ob sie nicht gemeinsam auf den Weihnachtsmarkt und anschließend Eislaufen gehen wollten. Sie hatte sich vorgenommen, den heutigen Tag zu nutzen, um mit ihm über wichtige Dinge zu sprechen, aber sie hatte diesen Mann die letzten zwei Tage so unglaublich vermisst, dass sie nicht nein zu diesem Ausflug sagen konnte. Ein ziemlicher Zwiespalt, der sich aufgetan hatte, aber der momentane Stand der Dinge war, dass sie es heute Abend zumindest versuchen wollte, egal, wie dieser Tag ausging.
Sie hatten am Vormittag Clara im Krankenhaus besucht, damit Tristan sichergehen konnte, dass es ihr gut ging. Danach waren sie in die Stadt spaziert, um einen kleinen Weihnachtsbummel zu unternehmen. Die Weihnachtsstimmung war auf ihrer Seite nämlich da.
Sie waren am Ende im Central Park gelandet, wo sie über den Weihnachtsmarkt geschlendert waren, Katie hatte dabei einige Dinge gefunden, die sie unbedingt mitnehmen wollte, wofür ihr Lebensgefährte, ohne zu hinterfragen, das Portemonnaie gezogen hatte, um zu bezahlen. Sie tranken Glühwein. Sie stopfte sich einiges an Süßigkeiten und einigen anderen, weihnachtlichen Köstlichkeiten hinein. Am Ende hatten sie ihre Schlittschuhe herausgeholt, die sie vor ein paar Jahren gekauft hatten. Jetzt standen sie auf der Eisfläche und versuchten, als süßes Paar darüber zu gleiten. Das gestaltete sich oft schwerer, als man glaubte. Kathleen war gefühlt jedes Jahr aufs Neue aus der Übung und musste erneut lernen, wie das funktionierte. Das war wie mit dem Fahrradfahren mit ihr. Man dachte, dass man sich diese Fähigkeit einmal aneignete und dann für immer konnte, für Katie war das jedes Jahr oder jedes Mal eine neue Herausforderung.
Und wäre da nicht ihr miesepetriger Freund, der den heutigen recht ruhig an ihrer Seite gewesen war. In Gedanken, für die Ärztin wirkte er teils sogar in einer anderen Welt. Und sie wusste nicht warum. Oder woran das lag. Hing das noch immer mit dem Vorfall zusammen, der sich vor einigen Tagen ereignet hatte? Es war womöglich besser, ihn darauf anzusprechen. Doch nicht hier. Nicht jetzt. Nicht in aller Öffentlichkeit, wenn ihr Iceboi dabei war, aufzutauen. Und das mitten auf dem Eis. Wie ironisch.
„Aber jetzt sei mal ehrlich", sagte sie zu ihm, während sie sich zu Tristan umdrehte und in seine Augen sah. „Du hast mir nie verraten, wo du so gut eislaufen gelernt hast." Sie waren so lange ein Paar und waren jedes Jahr zu Weihnachten und danach auf dem Eis zu finden, aber er hatte ihr nie verraten, wo er das so gut gelernt hatte. „Ist das so ein kanadisches Ding?" Sie war neugierig, versuchte so, selbst nach so langer Zeit, etwas aus ihm heraus zu kitzeln. Ihr war klar, dass es manchmal schwer war, etwas über seine Vergangenheit herauszufinden. Oft machte er da dicht. Deswegen sollte es doch eine gute Idee sein, sich mit ihm hinzusetzen und ihn darauf anzusprechen, schließlich ging es ihr besser, wenn sie Klarheit hatte.
Tristan schmunzelte leicht, zuckte dann aber leicht mit den Schultern. Er schien sich seine Worte genau zu überlegen, wie er über alles nachdachte, bevor er etwas sagte. Als müsste er Angst haben, etwas Falsches zu sagen.
„Ich war mit meiner Familie viel eislaufen", erklärte er ihr und sah dabei in die Menge, die sich um sie gebildet hatte. Seitdem die Dunkelheit über New York eingebrochen war, waren es mindestens dreimal so viele Leute geworden. Ein romantisches Ambiente und sie waren gewiss nicht die einzigen, die diesen Gedanken hatten. „Meine Mutter hat mir sehr viel beigebracht. Darunter auch das. Ich glaube, sie hat sehr viel Wert darauf gelegt, dass wir Kinder sehr viel können, was eventuell irgendwann wichtig sein könnte." Katie hörte ihm zu und obwohl das eine eher allgemeingültige Antwort war, gab sie sich damit zufrieden. Es war schon mehr, als er sonst erzählte. „Stell dir vor, ich könnte das nicht. Dann wären wir beide ziemliche Nieten auf dem Eis und würden ständig auf unsere Hintern fallen." Auf Tristans Lippen bildete sich ein Grinsen und sie spürte, wie er nach ihren Händen griff und diese festhielt. Zwar trugen sie beide Handschuhe, zur Sicherheit, denn sie waren beide Chirurgen und diese Körperteile heilig, aber sie konnte seine Berührung durch die Stoffe deutlich spüren. Allein das, sorgte dafür, dass ihr Herz schneller schlug. Sie mochte es, wenn er so sprach und ihre Nähe suchte. Das war nicht immer von ihm zu erwarten. Außerdem brachten seine Worte sie zum Lachen und zum Kopfschütteln.
„Hey! Ich bin keine Niete! Ich kann einfach nur nicht bremsen. Das übersteigt meine Kompetenzen", versuchte sie sich zu wehren, löste sich aber aus seinem Griff und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Dabei fiel ihr Blick auf den Schal den trug. Jenen Schal, den er von ihr zu seinem ersten Geburtstag bekommen hatte, den sie gemeinsam verbracht hatten. Er war grau und sie hatte in lila Farbe seine Initialen hinein sticken lassen. Katie hatte heute noch die Situation vor Augen, wie gerührt er über diese Geste gewesen war. Und sie war stolz darauf, dass er diesen Schal nach zehn Jahren weiterhin trug. Es bedeutete ihr faktisch die Welt. Ihr war klar, dass Tristan auf solche Dinge hohen Wert legte. Deshalb versuchte sie, sich jedes Jahr aufs Neue zu steigern und ihm Geschenke zu machen, mit denen er etwas anfangen konnte und die an Bedeutung für ihn hatten. Dieses Jahr hatte sie ihm ein Armband geschenkt, in dem sie die Initialen seiner Geschwister und seiner Mutter hatte eingravieren lassen. Etwas, das ihm so viel bedeutet hatte und deshalb nie ablegte, wenn es nicht notwendig war. Katie hatte diesbezüglich einen Zugang zu ihm gefunden, sie war zu ihm durchgedrungen. In manchen Dingen schaffte sie es dann doch.
„Natürlich nicht", witzelte ihr Freund weiter und sie pustete die Wangen gespielt empört auf, denn sie genoss es, bei diesem Spaß mitzumachen.
„Na warte, Doktor Livingston. Wenn ich dich einmal in die Finger kriege", kam es von ihn und sie hob drohend den Zeigefinger. „Wag es ja nicht, dich in Sicherheit zu wiegen. Meine Rache wird süß sein." Es war diese Momente, die ihr Hoffnung gaben, dass alles doch gut werden würde. Irgendwann.
„Ich werde mich hüten, Doktor Dunham", flüsterte er ihr ins Ohr. All das bescherte ihr eine Gänsehaut. Katie musste sich wieder in Erinnerung rufen, was sie heute am Abend mit ihm vorhatte. Da konnte dieser Moment noch so schön sein.
Vielleicht musste ihre Rache warten und sie musste sich dem stellen, wovor sie sich am meisten fürchtete. Dieses Gespräch, das womöglich alles verändern konnte. Sie wusste es nicht. Es war alles nur eine Möglichkeit von so vielen, die aufkamen, wenn man sich deshalb Gedanken machte. Und sie machte sich in letzter Zeit sehr viele davon. Und der heutige Tag hatte ihr gezeigt, dass es notwendig war, ihn darauf anzusprechen. Die vergangenen Tage hatten ihr das Gefühl klar gemacht, dass es sein musste.
„Was hältst du davon, wenn wir uns noch Schokofrüchte holen und dann nach Hause gehen?", schlug er ihr vor, denn wenn sie ehrlich war, wurde ihr allmählich kalt. Sie waren lange draußen unterwegs gewesen. Da konnten sie noch so warm angezogen sein. Katie nickte und schenkte ihm ein Lächeln.
„Du weißt, dass ich zu Schokofrüchten nie nein sagen kann", ließ sie ihn wissen, hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, den er sofort erwiderte. Konnte das Leben nicht immer so sein?
Als sie ihre Wohnung erreicht hatten, hatte Katie das Gefühl, komplett durchgefroren zu sein. Womöglich total übertrieben, denn eigentlich war es in New York City sogar schwierig, als richtig gekleideter Mensch zu erfrieren. Zumindest war sie der festen Überzeugung, dass dem so war. Tristan hatte sich deshalb sofort daran gemacht, ihnen eine heiße Schokolade zu zaubern, während sie verzweifelt in ihrem Kleiderschrank nach ihren warmen Kuschelsocken suchte und dann von der warmen Heizung gar nicht mehr wegkam. Vielleicht war das heute ein wenig zu viel gewesen. Sie hatte sich, nachdem sie die Socken angezogen hatte, auf dem Boden im Wohnzimmer niedergelassen und sich an den warmen Heizkörper gelehnt, die Beine angezogen und Tristan eine Weile aus diesem Winkel beobachtet. Jeder Schritt, jede Bewegung, die er durchführte, wirkte so durchdacht. Es schien so, als würde er immer genau wissen, was zu tun war. Neben ihr lagen die Schokofrüchte, die sie mitgenommen hatten, aber irgendwie verspürte sie nicht den Drang, sie zu essen. Dabei war sie für diese Dinger immer zu begeistern, allein, weil sie mittlerweile ebenfalls einen Schokobrunnen besaß, um sich das ganze Jahr über daran bedienen zu können.
Aber das, was ihr bevorstand, lag ihr ziemlich im Magen.
„Ist dir so kalt? Soll ich dir Heizung höher drehen?" Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er dann schneller bei ihr gewesen war, als erwartet und sie blickte zu ihrem Freund hoch, der ihr die Tasse hinhielt, nach der sie griff. Sie wärmte sich zunächst die Finger daran, schüttelte aber bei seiner Frage den Kopf.
„Geht langsam wieder. Alles gut. Setzt du dich zu mir?", entgegnete sie ihm, klopfte auf die freie Fläche neben sich und schenkte ihm sogar ein Lächeln. Ihr war mulmig zumute. Tristan ließ sich das nicht zweimal sagen und machte es sich neben ihr bequem. Solche Szenen waren nicht selten zur Winterzeit bei ihnen. Wenn sie lange draußen unterwegs gewesen waren oder beide morgens von einer Nachtschicht kamen, saßen sie oft eine gute Stunde da und genossen die Wärme, die von der Heizung ausging.
„Ist alles in Ordnung?", wollte ihr Freund von ihr wissen, dessen Blick auf den unangerührten Früchten lag. „Die isst doch sonst immer sofort. Du warst auf dem Heimweg auch so ruhig", sprach er das Offensichtliche an und Katies Herz schlug bis zum Hals.
„Ja, nein, alles gut", meinte sie. „Irgendwie ist mir doch nicht so danach", versuchte sie, sich da rauszureden, sah ihn an und nahm dann einen Schluck von der Schokolade in ihren Händen. Doch sie wusste, dass Tristan sich damit nicht zufriedengeben würde. Genau, wie sie sich nicht damit zufriedengab, wenn sie sah, dass ihn etwas belastete.
Sie spürte, wie er ein Stück näher kam, den Arm um ihren Körper legte und sein Gesicht an ihrer Halsbeuge vergrub. Sein warmer Atem erreichte ihre Haut und ein leichter Schauer jagte über ihren Rücken. Nein, sie durfte sich jetzt nicht kleinkriegen lassen. Sie musste standhaft bleiben. Dennoch ließ sie zu, dass er ihr einen Kuss auf den Hals hauchte, anschließend auf den Kopf, so, wie er es immer tat, wenn es ihr nicht gut ging. Es war wie ein Ritual zwischen ihnen geworden. Meistens half es, doch wusste Katie selbst nicht, ob man ihr helfen konnte.
„Also nein, eigentlich nichts in Ordnung", sprach sie die Wahrheit aus und stellte die Tasse auf den Boden ab. Danach schlang sie die Arme um ihre Knie und atmete tief durch.
„Was ist denn los?", wollte Tristan recht bestürzt wissen. Sie hasste das. Sie hasste alles an solchen Gesprächen. Sie hatte Angst davor, dass das in einem riesigen Streit endete.
Nein, sie musste da durch. Sie musste den Elefanten im Raum ansprechen. Es führte kein anderer Weg daran vorbei.
„Tristan, seit Tagen, seitdem das mit Clara passiert bist, bist du abwesend, zeigst einem wieder die kalte Schulter und gibst niemanden die Möglichkeit, zu dir durchzudringen und zu verstehen, was mit dir los ist. Was in dir vorgeht." So, jetzt war es raus und sie hatte bemerkte, wie ihre Stimme gegen Ende immer zittriger wurde. Es war so, dass sie es schon mehrfach versucht hatte, ihn darauf anzusprechen. Meistens erfolglos.
Und diese Stille, die zwischen ihnen entstanden war, konnte nicht kälter sein. Sie sah Tristan an, wie es anfing, in ihm zu denken und dass er wieder genau darüber nachdachte, was er ihr erzählte, um sie zu beruhigen. All das trieb ihr die Tränen in die Augen.
„Kannst du nicht einfach mal ehrlich sein und direkt heraus sagen, was du denkst und fühlst?", sagte sie, bevor er es tun konnte. „Bitte, Tristan. Ich sehe es dir doch schon wieder an, dass du genau überlegst, was du mir jetzt wieder auftischen willst. Das tust du immer." Kathleen wollte es nicht wie ein Vorwurf klingen lassen, aber am Ende war es genau das. Nicht mehr, nicht weniger.
Es tat ihr im Herzen weh, das jetzt anzusprechen und ihm diese Dinge an den Kopf zu werfen.
„Du schließt mich aus, obwohl ich versuche, für dich da zu sein. Deswegen habe ich dich vor ein paar Tagen angerufen, um dich zu warnen, was dich erwartet, wenn du in Notaufnahme kommst. Ich wollte, dass du es von mir hörst und von keinem anderen. Weil ich sehr genau weiß, was das in dir auslöst. Und ich dachte, damit verhindern zu können, was wir sonst immer hatten oder jetzt auch haben, wenn du durch irgendetwas getriggert wirst." Es sprudelte aus ihr heraus, wie ein Wasserfall. Sie hatte es zu lange geschluckt und für sich behalten. Und sie wollte ihm nicht die Möglichkeit geben, etwas dazu zu sagen.
„Seit Tagen stellst du auf Durchzug. Du verschwindest, ohne mir einen legitimen Grund zu nennen, warum du es tust. Es ist so wahnsinnig schwer, Verständnis für alles aufzubringen. Und du weißt doch, dass ich alles verstehe. Ich bin für alle immer da, ich will auch für alle da sein, aber du sperrst mich einfach aus. Du schließt die Tür und lässt mich im Regen und in der Kälte stehen, die ich, in meinen Augen, nach so langer Zeit nicht verdient habe." Mit jedem Wort kochten immer mehr die Gefühle hoch, Tränen liefen ihr über die Wangen, die sie nicht zurückhalten konnte. Es war ihr zu viel. Deswegen rutschte sie etwas von ihm weg, wollte nicht von ihm berührt werden. Sie wollte Antworten. Sie wollte wissen, was in ihm vorging.
„Warum tust du das?", wollte sie erfahren und sah ihn durch die tränenverschleierten Augen an. „Scheiße, Tristan. Warum tust du das? Ich will endlich Antworten darauf haben. Ich bin doch deine Freundin, die Frau, die dich liebt und die du liebst."
Und damit war von ihrer Seite erst einmal alles gesagt, was gesagt werden musste. Sie sah den Dunkelhaarigen an und versuchte, aus seinen Gesichtszügen lesen zu können, was ihn im vorgehen könnte. Klar war, dass sie ihn damit kalt erwischt hatte. Tristan hatte mit solchen Worten definitiv nicht gerechnet.
Dieses Schweigen. Es brachte sie um den Verstand.
„Katie", war alles, was er zunächst rausbrachte. Und das sorgte dafür, dass sie aufstand. Katie konnte nicht mehr sitzen.
„Nein, nicht Katie. Sag einfach doch, was du denkst. Was du fühlst. So ganz tief aus dem Herzen heraus", forderte sie ihn ein weiteres Mal auf und schluckte schwer. „Ich komme mir vor, wie die stille Freundin, die das alles neben dir alleine ausbaden muss", sprach sie weiter. Hier gab es keinen Halt mehr. „Tristan, ich weiß, dass du schreckliches durchgemacht hast, aber ich bin da. Wir können das vielleicht gemeinsam aufarbeiten", machte sie ihm klar und schüttelte den Kopf. „Ich komme mir nur langsam vor, wie eine Idiotin. Ich habe keine Ahnung mehr, was ich noch tun soll. Ich will dich glücklich sehen. Aber anstatt, dass du zu mir kommst und mit mir redest, verschwindest du wieder oder unterhältst dich mit einem jungen Mädchen. Sie hat vielleicht ähnliches durchgemacht, wie du, aber ich fühle mich mittlerweile ziemlich hilf- und nutzlos." All das entsprach der Wahrheit. „Es ist okay, wenn du glaubst, für sie eine gewisse Verantwortung tragen zu müssen, das ist vollkommen okay, aber ich möchte einfach nur einmal verstehen, wie es in dir aussieht. Was in dir vorgeht." War das egoistisch? Sie wusste es nicht. Sie konnte nicht klar denken. Nicht in diesem Moment. Alles, was ihr heraussprudelte, war all das, was sie die letzten Tage, Wochen und Jahre geschluckt hatte.
Nun stand ihr Freund auf, wagte es aber nicht, näher zu ihr zu kommen, sondern blieb an Ort und Stelle stehen. Genau das hatte sie verhindern wollen. Sie wollte nicht wieder angeschwiegen werden.
Aber dann nahm sie Regungen in seinem Gesicht wahr, die sie so nie gesehen hatte. Zumindest nicht bei ihm. Sie hatte ihn getroffen und endlich etwas in ihm gerührt. In seinen blauen Augen konnte man beobachten, wie sich die Tränen bildeten.
„Es tut mir leid", hörte sie ihn flüstern und ihr Herz brach in viele tausend Teile. Aber eine Entschuldigung genügte nicht. Es arbeitete in ihm.
„Ich habe dich da einfach nicht mit hineinziehen wollen", fing er an zu sprechen. „Ich wollte dir nicht so viel aufhalsen, weil es einiges gibt, das noch sehr präsent ist aus meiner Vergangenheit." Das war zumindest ein Anfang, wie sie fand. Aber nichts, was sie verwunderte.
„Das ist mir klar und du weißt doch, dass du alles mit mir teilen kannst." Sie wollte ihm begreiflich machen, dass er ihr doch vertrauen konnte und dass sie gerne gewillt war, seine Last mit ihm zu tragen. Und sie sah, wie Tristan versuchte, die richtigen Worte zu finden, aber bevor er etwas sagen konnte, war es ein vibrierendes Handy, das auf dem Tisch lag und zu vibrieren anfing. Gemeinsam sahen sie in die Richtung und Katie musste feststellen, dass er nur angerufen wurde, wenn es das Krankenhaus war, aber ein Blick auf dem Display verriet ihr, dass es nicht dieses war. Stattdessen stand da Édouard Lefebvre, ein Name, der ihr nichts sagte und von dem sie nie etwas gehört hatte. Vielleicht der Notar? Hatte er ihm etwas mitzuteilen?
Doch eigentlich konnte es in diesem Augenblick egal sein, denn sie waren hier inmitten eines Gesprächs. Scheiße, warum konnten sie nicht einmal normal miteinander reden?
„Katie, lass mich da dran gehen", meinte er fast schon flehend und griff nach dem Gerät. Doch Katie schüttelte den Kopf.
„Nein, vergiss es. Du kannst da nachher gerne zurückrufen, aber jetzt geht es um uns, verstehst du das?", entgegnete sie ihm und war schon im Begriff, ihm das Telefon aus der Hand zu nehmen. Das hier konnte sie nicht gebrauchen.
„Bitte, es könnte wirklich wichtig sein. Danach erkläre ich dir alles." Immer fand er irgendwelche Ausreden oder Möglichkeiten, sich aus der Situation zu winden. Sie war wütend, enttäuscht. Ein Schnauben kam ihr über die Lippen. Aber anhand seines Gesichtsausdrucks wurde ihr klar, dass es etwas Wichtiges sein musste.
„Wer ist er?", wollte sie wissen, doch bevor sie eine Antwort bekam, war Tristan schon dabei, abzuheben und sich das Telefon ans Ohr zu halten. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fühlte sich nun wieder ausgeschlossen. Das, was sie angesprochen hatte.
Sie schenkte dem Ganzen keine Beachtung, sie hörte bei diesem Telefonat nicht zu. Die Wut in ihr war so hoch, dass sie sich nicht darauf konzentrieren konnte. Sie wusste auch nicht, wie lang das alles ging, aber sie wurde auf ihren Lebensgefährten wieder aufmerksam, als dieser vor ihr auf die Knie sank und so drein sah, als hätte er eben einen Geist gesehen. Das Telefon hatte er neben sich auf den Boden gelegt und sie bemerkte, wie er sein ganzer Körper anfing zu zittern. Tristan vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Was war geschehen? Was hatte ihm dieser Édouard am Telefon gesagt? Verdammt, was war hier los in dieser surrealen Situation?
„Tristan?", fragte sie leise, unsicher und im nächsten Augenblick war es ein versuchtes, unterdrücktes Schluchzen, das zu ihr durchdrang. Weinte er etwa?
Wie ein Häufchen Elend kniete er vor ihr und kämpfte gegen jede Art von Emotion an.
„Tristan?", fragte sie erneut. „Was ist los? Was ist passiert? Wer ist dieser Édouard?" Mit Nachdruck versuchte sie es, fühlte sich gleichzeitig wie eine Idiotin, ihm verboten haben zu wollen, nicht ranzugehen. Das schlechte Gewissen brach über sie herein.
„Du wolltest die Wahrheit hören", kam es nach einer Weile von Tristan, nachdem er sich etwas gesammelt hatte. „Ich habe so eben den Anruf von einem alten Freund bekommen. Aus Québec. Er hat mir gerade mitgeteilt, dass mein Zwillingsbruder nach über vierzehn Jahren aus dem Koma erwacht ist."
Katie sah ihn stumm an, mit großen Augen, nicht fassend, was hier passierte.
Moment, was? Sein Zwillingsbruder? Das konnte doch nicht sein, oder? Und wieso wusste sie davon nichts?
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