1. 𝒦𝒶𝓅𝒾𝓉𝑒𝓁

Er kippte einen Schuss Milch in seine Kaffeetasse und räumte die Packung anschließend zurück in den Kühlschrank. Danach griff er nach dem Heißgetränk und führte sich dieses an die Lippen, um den ersten Schluck zu machen. Dabei lehnte sich Tristan an die Küchenzeile und warf einen kurzen Blick auf die Uhr, die ihm gegenüber hing. Sie zeigte eine ihm doch bekannte Zeit an. Ein Uhr und zwanzig Minuten.

Er war es gewohnt, Nächte wach zu sein. Er war Arzt und schob nicht wenige Nachtschichten im Krankenhaus, in dem er arbeitete. Doch heute war er nicht im Krankenhaus. Es handelte sich um eine Nachtschicht der anderen Art.

Kaffee war hierbei die beste Medizin, um wach und vor allem aufmerksam zu bleiben. Es gab eine Menge zu tun, denn er musste bis vor dem Morgengrauen fertig werden mit seiner Arbeit. Er musste sich ranhalten und hoffte, dass die Person im Raum nebenan bald aufwachte. Er hatte die richtige Dosis gesetzt und war sich sicher, dass es bald so weit sein würde.

Doch für eine Tasse Kaffee hatte er noch Zeit. Diese paar Minuten standen ihm zu. Schließlich leistete er Großartiges.

Nur wussten das die Wenigsten zu schätzen.

Ein weiterer Schluck von der braunen Flüssigkeit, die ihm die erforderliche Energie spendete, um diese Nacht durchstehen zu können. Nachdem er seine Tasse geleert hatte, nahm er sich vor, in das angrenzende Zimmer zugehen und nach den Rechten zu sehen. Das klang nach einem Plan. Einer, der keine Fehler aufwies. Hatten sie nie. Zumindest nicht, wenn er als Kopf dahinter steckte.

Es war still in der Wohnung. Stille war ein langer Begleiter in seinem Leben. Tristan hatte viel Zeit in dieser verbracht. Viel in ihr gearbeitet. Sie gehörte zu ihm.

Er trank seinen Kaffee aus und nahm sich den Moment, um die Tasse abzuwaschen, und wieder an ihren Platz zurück zu räumen. Dort, wo sie hingehörte. In Tristans Leben hatte alles seinen Platz, er hatte seine eigene Ordnung. Die war notwendig, wenn er so weitermachen wollte, wie bisher.

Ein Uhr und dreißig Minuten.

Es war an der Zeit.

Tristan ging auf leisen Sohlen durch die kleine Wohnung, die am Rande der Stadt angesiedelt war und kaum einer wohnte, um in das Zimmer zu gelangen, in dem jemand Besonderes lag. Das hatten schon viele vor diesem Menschen getan und der Arzt war sich sicher, dass nach diesem noch viele folgten.

Das war gut so. Nur so konnte Gerechtigkeit geschaffen werden. Richtige Gerechtigkeit. Nicht das, was die Justiz einem vorheuchelte.

Er öffnete die Tür und nur ein fahles Licht erhellte den Raum. Dieser war komplett in Folie ausgeschmückt, die man sonst für Malerarbeiten auslegte, um sauber arbeiten zu können. Es war die einfachste Methode, um später keine großartige Putzaktion veranstalten zu müssen, wenn sich doch einige Spritzer an die Wand oder die wenigen Möbelstücke verirren sollten. Er arbeitete penibel und achtete darauf, keine Spuren zu hinterlassen.

Deswegen zog Tristan als Erstes Handschuhe an, denn Fingerabdrücke konnte er hier nicht gebrauchen. In der ganzen Wohnung lief er in diesen herum. Wenn er diese Nachtschichten schob, waren diese Utensilien ebenfalls treue Gefährten.

Im Grunde waren sie gar nicht mehr wegzudenken.

Nachdem er einen kurzen Blick zu dem schlafenden Mann geworfen hatte, ging er zu dem Tisch hinüber und schlug die Akte auf, die er für ihn angelegt hatte. Sorgfältig, seitdem ihm dieser Fall bekannt war, nämlich seit vier Jahren, und er wusste, dass er handeln wollte, hatte er alle Informationen zusammengelegt, die er über diesen Menschen hatte auftreiben können. Wer er war, wo er lebte, wie er lebte, welchen Beruf er nachgegangen war und inwiefern er von der gesellschaftlichen Norm abwich.

Jonathan Wyler, 38 Jahre alt und Instrumentenverkäufer. Er hatte sich seine Kundinnen als Opfer gewählt. Er verfolgte sie, fing sie ab und vergewaltigte sie. Danach ließ er die Frauen achtlos liegen. Fünf Frauen hatte er das Leben zerstört. Zwei von ihnen erlagen in der eisigen Kälte an ihren Verletzungen, weil man sie nicht fand. Aufgrund der anderen Aussagen konnte man herausfinden, wer der Täter war, aber am Ende hatte man ihn zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, da er sich reuevoll gezeigt hatte. Jonathan verbrachte die Zeit im Gefängnis und kam danach wieder auf freien Fuß. Seitdem bewegte er sich vorsichtiger, doch Tristan fand heraus, dass er nicht untätig geblieben war.

Warum ihm das alles so nahe ging? Tristan hatte zwei der Opfer damals in der Notaufnahme betreut und versucht ihnen zu helfen.

Er war der erste behandelnde Arzt gewesen, der sich ein erstes Bild von der Situation machen durfte, nachdem man die Frauen eingeliefert hatte.

Seitdem war er dran, diesen Mann zu finden und ihn zur Rechenschaft zu ziehen.

Tristan blätterte einmal alles durch und merkte, wie sich neben ihm, auf der Liege, endlich etwas regte. Wurde Zeit.

Weglaufen konnte Jonathan nicht, denn Tristan hatte ihn mit Seilen gefesselt und dafür gesorgt, dass er ihm keine Probleme machte, wenn er sich um ihn kümmerte. Hören konnte ihn niemand, der Raum war gut schallisoliert ausgebaut. Er konnte gerne um Hilfe schreien, aber man würde ihn nicht wahrnehmen. Ihn ereilte das gleiche Schicksal, wie das der Frauen, denen er das angetan hatte. Tristan kannte keine Gnade, wollte ihm damit zeigen, wie sich seine hilflosen Opfer gefühlt haben mussten.

Dennoch lag Tristans Aufmerksamkeit zunächst auf der Akte, er betrachtete noch einmal die Fotos von den Verletzungen der Opfer, die beiden Leichen und die restlichen Tatorte. Sollte Wyler doch selbst draufkommen, warum er hier war und was ihm blühte.

Den Mund hatte er ihm nicht geknebelt, schließlich wollte der Arzt sich mit ihm unterhalten und möglicherweise ein paar Informationen herausfinden. Er versuchte, immer noch einiges aus den Leuten herauszubekommen, bevor er sich um sie kümmerte und sie am Ende tötete. Der Ausgang war immer für die Menschen, die er hierher brachte, immer der Gleiche. Sie kamen hier nicht mehr lebend heraus. Das war seine Aufgabe, seine Bestimmung.

Dafür machte er all das hier schon zu lange.

„Wo zur Hölle bin ich hier?", vernahm er die Worte seines Gastes. Unsicher und beinahe ein Flüstern. Mehr brachte Wyler nicht heraus? Bei seinen Taten war er garantiert nicht so vorsichtig und durch den Wind gewesen. Fast schon enttäuschend. Tristan hatte sich mehr Einsatz gewünscht. So war das doch langweilig. Das war zwar nicht immer der Fall, denn meistens wussten die Personen, wenn sie bei ihm auf der Liege lagen, was ihnen blühte. Stellten sich die Leute ahnungslos oder ahnten manche wirklich nicht, was mit ihnen passierte? Hing das mit ihrer Auffassungsgabe zusammen? Das waren Fragen, die in Tristan immer wieder aufkamen.

Er wollte verstehen, warum diese Menschen so tickten.

Fragen, auf die er womöglich nur schwer Antworten fand. Vielleicht eines Tages. Möglicherweise auch nicht.

Deshalb entkam dem Arzt nur ein Seufzen, ehe er sich dem Mann endlich zuwandte und ihm seine Aufmerksamkeit schenkte.

„Sie befinden sich an einem Ort, an dem man Sie nicht vermuten und auch nicht finden wird. Zumindest solange ich das nicht möchte. Sie befinden sich unter meiner Kontrolle. So, wie Sie die Frauen damals unter Ihrer hatten", erklärte er ihm die Situation und musterte ihn. Er hatte ihn ausgezogen, denn für später war es leichter, alles zu entsorgen.

„Und wer zur Hölle sind Sie?", Wyler versuchte, während er ihm die Frage stellte, sich von den Fesseln zu befreien. Nein, dieser Mann fand sich nicht mit seinem Schicksal ab. Das konnte Tristan ihm deutlich ansehen und es nahm ihm die Lust, sich weiterhin mit ihm zu unterhalten.

Das gehörte nicht zu seinem Plan. Das gefiel ihm nicht.

„Das spielt keine Rolle", beantwortete Tristan ihm die Frage zunächst knapp. Dabei richtete er sich das Werkzeug her, das er brauchte, um mit der Arbeit anfangen zu können. Er hatte noch ein paar Stunden vor sich und wenn er ehrlich zu sich selbst war, war es ihm sogar recht, wenn er alles schnell hinter sich brachte und Jonathan Wyler ein Ende bereitete. „Nun, ich bin derjenige, der endlich für Gerechtigkeit sorgt", sprach er schulterzuckend weiter und holte das Skalpell hervor, das er genauer im Licht betrachtete. Dass Jonathan ihn sehen konnte, kümmerte ihn wenig. Er war sowieso der letzte Mensch, den er zu Gesicht bekam, bevor sein Leben zu Ende ging.

„Zu scheu, mir deinen Namen zu verraten?", Wyler grinste ihn dreckig an und Tristan spürte dessen Blick an sich.

„Nein, nur wie gesagt. Er spielt keine Rolle. Hat er nie. Bei keinem. Sie sind der Erste, der überhaupt danach fragt", gab er ihm zur Erklärung. Danach griff er nach dem Arm des Mannes und zog die Klinge des Skalpells an seiner Haut entlang.

Ein kleiner Test, wie der Mann auf den kleinsten Schmerz reagierte. Ob nicht vielleicht doch ein Knebel notwendig war, während er ihm das Leben nahm. Tristan betrachtete dabei das Blut, das aus der Wunde trat und dem Körperteil entlang floss und am Ende auf den Boden tropfte.

Wyler sog nur die Luft lautstark ein und verzog etwas das Gesicht, aber weitere Reaktionen waren nicht zu sehen oder gar zu erwarten.

Möglicherweise kein Knebel. Vielleicht konnte das alles ruhig und gesittet über die Bühne gehen und Tristan hatte seine Ruhe bei der Arbeit.

Jonathans Hirn könnte bei der Untersuchung sogar spannend werden. Informativ. Er war neugierig, wollte es, so bald es nur ging, herausfinden. In Kürze hatte er die Möglichkeit und Zeit dafür.

„Also gut, du geheimnisvoller Rächer", Wyler machte sich über ihn lustig. Tristan mochte es nicht, wenn man das tat. Verhöhnung stand bei ihm auf der Liste ganz unten. Er tat dies nicht einmal bei dem Abschaum, den er aufsammelte und zur Rechenschaft zog. „Du legst mich jetzt um. Damit hast du einen von vielen erwischt. Solche Taten werden weiterhin begangen werden. Du kannst uns nicht alle kriegen." Tristan stand da und hörte ihm zu, stellte sich aber gleichzeitig die Frage, ob er ihn nicht doch knebeln sollte. Er hatte diese Art überhaupt nicht gern. Besser war es, ihn zum Schweigen zu bringen.

„Was mein Ziel ist, kann Ihnen höchstpersönlich egal sein, Mister Wyler. Ich habe mein Ziel. Sie hatten nur den Drang zu zerstören und das möchte ich aufhalten." Tristan wollte sich nichts einreden lassen, sich schon gar nicht den Plan verändern lassen. Nicht von einem Mann wie diesem.

„So oder so. Du kannst uns nicht alle töten. Das ist unmöglich." Überheblich. Das war Wyler. Überheblichkeit und Verhöhnung. Zwei Dinge, die er schon nicht mochte, die der Mann vor sich auf der Liege aber an den Tag legte.

Nein, er musste ruhig bleiben. Wenn er jetzt, aufgrund seiner Wut, von seinem Plan abwich, hatte er ein gewaltiges Problem. Er durfte sich nicht provozieren lassen. Tristan atmete nur einmal tief ein und aus und deutete an die Wand vor ihnen, an die er die Bilder der Opfer gehängt hatte. Wyler sollte sich diese ein letztes Mal genauer ansehen.

„Sie haben Leben zerstört, Mister Wyler. Zwei Leben haben Sie genommen. Viele andere Frauen werden ihr restliches Leben leiden." Er schüttelte seinen Kopf, um seine Aussage zu unterstreichen, musste aber sein längeres Haar dann wieder zurechtstreichen, das ihm dadurch etwas lose im Gesicht hing.

„Mein Lieber, ich glaube, du hast wohl noch nie erlebt, die vollkommene Kontrolle und Macht über einen Menschen zu haben. Sie waren so süß, während sie versucht haben, sich zu wehren. Ehrlich. Ich habe es genossen." Wyler grinste noch immer. In Tristan kochte die Wut hoch. Ihm taten diese Frauen leid. Gleichzeitig musste er an Katie denken. Wäre ihr so etwas zugestoßen oder sollte ihr ein solches Schicksal ereilen, wie das der Frauen, dann war er sich sicher, dass er seine Fassung nicht mehr halten konnte.

„Sie haben es darauf angelegt. Sie haben es alle gewollt. Dementsprechend kann mir auch keinen Strick daraus drehen", der Mann zerrte weiterhin an den Fesseln und machte Anstalten, von hier verschwinden zu wollen, während er die Maske versuchte zu halten, die er sich aufgesetzt hatte. Tristan sah ihn nur starr an. Eiskalt waren seine Augen.

Abschaum.

Nichts, als den Tod hatte er verdient. Und er würde dafür Sorge tragen. Bei ihm und bei vielen anderen, die folgten.

Er ertrug das alles nicht mehr. Das konnte er sich nicht mehr anhören.

Deshalb setzte er sich in Bewegung und stellte sich auf die Höhe des Kopfes des Mannes, der ihm nur einen spottenden Blick zuwarf. Tristan hob die Hand, setzte am Hals des Kerls an und schnitt, ohne zu zögern, ihm die Kehle durch. Aufgrund seiner Kenntnisse und Erfahrungen, wusste er mittlerweile, wie tief und fest er den Schnitt setzen musste, um diese Leute binnen einiger Minuten verbluten zu lassen.

Und es ließ ihn kalt. Er sah zu, wie das Licht in ihren Augen erlosch.

Dabei brach er den Eid, den er geschworen hatte.

Er hatte geschworen, Leben zu retten und nicht welches zu nehmen. Zumindest auf offizieller Seite. Für sich hatte er vor langer Zeit beschlossen, sich auch um jene zu kümmern, die es verdient hatten, kein Leben mehr führen zu dürfen. Vor allem, wenn es einem Menschen, wie Jonathan Wyler glich.

Es verschaffte ihm Befriedigung. Er bekam das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Für die Gesellschaft. Für die Opfer dieser Leute. Für sich selbst.

Eine Weile betrachtete er sein Werk, ging sicher, dass Jonathan tot war und machte sich dann an die Arbeit, ihn so herzurichten, wie er verdient hatte, von der Welt gesehen zu werden.

Dabei machte er nicht davor Halt, ihn in kleine Teile zu zerstückeln und ihn später an verschiedenen Orten der Stadt zu verteilen.

Doch eines behielt er sich. Für sich selbst. In der Forensik und in den Medien sprach man von einer Trophäe, für Tristan war es mehr eine Quelle, um an Informationen zu kommen.

Er bewahrte sich das Gehirn dieser Leute auf und untersuchte sie. Er wollte wissen, wie sie funktionierten, was an ihnen anders war, ob es denn überhaupt einen Unterschied zu gesunden und vernünftigen Menschen gab.

All das wollte er wissen.

Deswegen war das Gehirn immer das Erste, was er ihnen entfernte. Es war das wertvollste für ihn.

Dennoch war ihm klar, dass die Zeit ihm davon lief. Er musste sich beeilen, wenn er sein Gesicht, seine Maske wahren wollte. Wenn er nicht entdeckt werden wollte.

Wenn er nicht wollte, dass der liebste Mensch in seinem Mensch, Wind davon bekam, wozu er in der Lage war.

Katie. Sie hatte all das nicht verdient und deshalb durfte sie niemals etwas erfahren.

Sie lag zuhause in ihrem gemeinsamen Bett und schlief. Sie glaubte, Tristan hätte spontan eine Nachtschicht im Krankenhaus übernommen. Wie so oft schon.

Doch nichts davon entsprach der Wahrheit.

Tristan konnte nicht anders. Es war sein Job, sich um diese Leute zu kümmern Es war seine Berufung. Nicht einmal seine Freundin konnte ihn davon abhalten, damit aufzuhören. Das alles würde er bis zum Schluss machen. Bis er selbst nicht mehr konnte. Aus welchen Gründen auch immer.

Wenn er wollte, dass alles so blieb, musste er nur vor Morgengrauen zuhause sein. Eine Herausforderung, der er sich gerne stellte. Vor allem, wenn er mittlerweile Routine in seinen Handlungen hatte.

Außerdem konnte er es kaum erwarten, sie wieder in seinen Armen zu halten. Denn mit Katie schien die Welt in Ordnung zu sein. Zumindest während sie da war.

Mit Katie war alles anders.

Sie durfte nie erfahren, wer er wirklich war. Und dafür würde Tristan Sorge tragen. Solange er die Macht dazu hatte.

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