Kapitel 9

"Who are you in the dark?
Show me the scary parts."
-Camila Cabello
•••

Camila


Wie war es möglich, dass solch ein großes Herz in tausend Teile zersprang und niemand etwas davon mitbekam? Was tat man dagegen? So viele Fragen drängten sich in mein Bewusstsein, obwohl es sie – zumindest in diesem Moment – eigentlich nicht geben sollte. Es war klar, was ich zu tun hatte, aber nur weil man seine Aufgabe kannte, bedeutete das nicht, dass man auch genügend Kraft oder Arsch in der Hose hatte, sie auszuführen.

Shawn Mendes kauerte am Boden. Er hatte die Beine angewinkelt und den Kopf auf seine Knie gelegt. Sein Körper wurde alle paar Kontraktionen meines Herzens geschüttelt.

Schluchzer?

Ein Mann, der mehr liebte, als sein Herz wohl tragen konnte, war der kleine Junge, der sich danach sehnte, geliebt zu werden. Er hatte alles gegeben und schien, als hätte er im selben Atemzug alles verloren. Seine Tränen standen ihm treu zur Seite und auch wenn sie immer dann kamen, wenn man sich vom Rest der Welt verlassen fühlte, verabscheute ich sie. So sehr, mehr als jede einzelne, die ich in meinem Leben selbst geweint hatte. Und es waren einige gewesen.

Es juckte mich in den Fingern, Shawns Locken aus seinem Gesicht zu streichen, in seine Augen zu blicken, seine Trauer zur Freude zu machen. Auch wenn ich nicht das geringste Recht dazu hatte.

Was hat man dir nur angetan?

Auch wenn die Splitter meines Herzens sich in meinem gesamten Körper ausbreiteten und es ein Wunder war, dass ich mich noch nicht vor Schmerzen krümmte, trat ich einen Schritt nach vorne. Ohne zu wissen, wohin ich eigentlich gehen wollte. Shawns Stimme war leise und vorsichtig und doch schrillte sie in meinen Ohren, wie eine Alarmanlage.

„Jake, geh' bitte. Ich komm schon klar."

Sein tränenerstickter Klang machte die Luft noch ein Stück schwerer. Mittlerweile schwebte sie vermutlich wie ein Damoklesschwert über uns, doch es gab gerade eindeutig Wichtigeres.

„Ich bin's, Camila", krächzte ich. Sofort blickte er auf und es war, als würde er sich in Grund und Boden schämen, zu fühlen. Als müsste er sofort alles dafür tun, nicht mehr Shawn zu sein, sondern wieder zu Shawn Mendes zu werden. Aber der eine würde ohne den anderen niemals überleben, das wusste er ganz genau. Genauso wie wir beide wussten, wovon wir gerade sprachen, obwohl keine Worte zwischen uns flogen. Aber ein Gesicht ohne Make-Up würde immer das schönste sein.

Meine Beine trugen mich zu Shawn, während er an mir hinabsah. Ich wollte nicht wissen, was er dachte, während ich mich neben ihm niederließ. Ich schluckte und sah in an. Es war still, aber zum ersten Mal seit ich diesen Raum betreten hatte, machte mir das nichts aus. Vielmehr half mir der Gedanke, dass Shawn nicht länger alleine war, auch wenn es nur ich war, die ihm gerade Gesellschaft leistete.

Ein Atemzug nach dem anderen.

Du schaffst das. Du schaffst das. Du schaffst das.

Shawn öffnete den Mund. Nur um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Ganz, als wäre er auf der Suche nach sich selbst, nach Erklärungen, Entschuldigungen, Rechtfertigungen.

„Du musst nichts sagen."

„Es tut mir leid", antwortete er. Viel zu schnell.

„Was genau tut dir leid?", gab ich zurück. „Dass du vor 20.000 deine Seele ausgeschüttet hast? Dass du ein Mensch bist, der fühlt? Dass du genau das auch warst, bevor die Bühne dich gefunden hat? Oder dass du genau das sein wirst, wenn du in fünfzig Jahren an all das zurückdenkst? Was davon tut dir leid, Shawn?"

Er zuckte mit den Schultern, bevor ihm ein verzweifelter Laut entwich.

Fast hättest du gelacht, Shawn.

„Ich bin ein Versager. Ich versuche zu lieben, die Liebe nie zu verlieren, aber zu mir kommt sie nicht zurück. Damit meine ich nicht meine Fans. Ich weiß, dass sie mich lieben. Und ich liebe sie. Ich liebe sie so sehr. Aber... wenn ich in den Spiegel sehe und mir klar wird, was ich alles nicht geschafft habe, jeder schiefe Ton, den ich gesungen habe, jedes falsche Wort... Die Liebe kommt einfach nicht wieder, verstehst du?"

Und da verstand ich: Shawn spürte die Liebe von Milliarden von Menschen Tag für Tag. Aber einer unter ihnen fehlte: Er selbst. Dieser starke Mann, der Nacht für Nacht, Licht in die Welt sandte, vermisste es in seiner Seele, wenn es still war. Und manchmal war selbst der schönste und aufregendste Weg von Steinen gepflastert. So paradox es auch war, schlich sich genau in diesem Augenblick eine seiner Zeilen wieder in meinen Kopf.

When you fall asleep tonight, just remember that we lay under the same stars.

Über demselben harten Boden, der es uns so oft unmöglich machte, ruhig zu träumen, hingen immer noch Sterne, die jedes kleine Glücksgefühl aufbewahrten, bereit es uns wiederzugeben, wenn wir es brauchten. Aber das sagte ich nicht. Ich sagte kein Wort. Stattdessen tat ich etwas, das mir der Mut in mir zuflüsterte, der Wunsch für ihn da zu sein. Auch wenn ich viel zu weit weg war, auch wenn es falsch sein oder werden konnte. Aber diesen Kampf würde mein Kopf verlieren und ich war ausgesprochen froh darüber.

Ich legte meine linke Hand auf seine Schulter und schwieg. Er stockte, offenbar hatte er diese Geste meinerseits genauso wenig erwartet, wie ich selbst. Doch dann tat er etwas, das eben nur Sterne gewusst haben konnten. Bevor es irgendjemand sonst kapiert hatte. Shawn neigte seinen Kopf zur Seite. Meine Hand wanderte dadurch über seinen Rücken bis zur anderen Schulter. Seine braunen Locken fanden ihren Platz an der Einkerbung meiner Schulter. In Lichtgeschwindigkeit jagte Hitze von meinem Hirn in meinen kleinen Zeh. Ich betete, dass er meinen Puls nicht spürte. Den Puls, der sich in nur einem Wimpernschlag zu dem Puls eines Marathonläufers gewandelt hatte. Ich schluckte schwer. Wir waren uns so nah, wie es unsere Positionen zuließen und doch war es nicht genug. Shawn zog mich an, wie ein Magnet und unwillkürlich fragte ich mich, ob er das nicht schon getan hatte, seit ich zum ersten Mal die Melodie seiner Seele gehört hatte.

Falscher Zeitpunkt, Herz. Halt bloß die Fresse.

Auf einmal bewegte sich mein gesamter Körper und ein tiefes Geräusch, das so gar nicht zur Situation passte, erfüllte die riesige Garderobe, die wie durch ein Wunder um ein paar Quadratzentimeter geschrumpft war. Shawn lachte. Zur Gänze echt. Und ich spürte zum ersten Mal, wie es sich anfühlte, dem Himmel nah zu sein.

„Was ist so lustig?" Wie immer, wenn ich mit Shawn sprach – was in nicht einmal drei Tagen öfter geschehen war, als es hätte sein sollen – klang ich nicht nach mir selbst. Ich war weiter weg, von dem Menschen, den ich kannte, als dass es mich hätte kalt lassen können. Doch aus irgendeinem Grund tat es das. Weil ich spürte, dass Shawn und ich ehrlich verkorkst und trotzdem okay waren. Wenn er lachte. Nicht irgendwann. Sondern jetzt.

Shawns Stimme holte mich in die Realität zurück und sandte ein Kribbeln durch meinen Magen.

Höre nicht auf. Lache einfach weiter. Bitte verlerne nie, wie es sich anfühlt, wenn du lachst.

Shawn hob seinen Kopf und sah mich wieder an und sein Blick erzählte mir zum ersten Mal an diesem Abend, dass er Hoffnung hatte.

„Nichts, es ist nur... Keine routinemäßige Aufheiterung?"

Ich lachte und zuckte mit den Schultern. „Manche Tage sind einfach beschissener als andere. Da hilft nichts."

Er schluckte und nickte. Ein echtes Lächeln.

Endlich.

„Du hast Recht", flüsterte er.

„Ja, ich weiß."

„Miesester Versuch, cool zu wirken, den ich jemals beobachten durfte."

Ich rückte ein Stück von ihm ab und räusperte mich. „Ich würde ja gerne noch etwas sagen, aber ich fürchte, dann würde ich mich bloß wiederholen."

Ein weiteres Lachen. Ich komme, liebe Sterne.

Shawn erhob sich und streckte mir seine Hand entgegen. Zaghaft akzeptierte ich seinen Griff und ignorierte die Röte die mir ins Gesicht stieg und die Hitze in mir mit aller Kraft. Was nicht bedeutete, dass sie ihm nicht auffiel. Er grinste. Auf einmal waren wir nur noch Zentimeter voneinander entfernt, und als sein warmer Atem meine Wange streifte, hielt ich die Luft an.

„Danke, dass du so schräg bist", raunte er an meinem Ohr.

Der Raum drehte sich und ich musste meinen Kopf senken, um bei Bewusstsein zu bleiben. Meine Kehle war wie zugeschnürt, während ich nickte und alles tat, um meine Füße vom Zittern abzuhalten.

„Kein Problem", krächzte ich. „Können wir jetzt da rausgehen? Kriegst du das hin?"

Mein Magen machte einen Salto, als mir klar wurde, wie sehr ich mir wünschte, ihn berühren zu können. Und wenn es das letzte Mal war.

Shawn kam mir zuvor und berührte meine rechte Schulter.

„Keine Ahnung. Sag du es mir." Seine Stimme war so leise, ein zarter Hauch, der mich jeden Moment umzustürzen drohte. Er sah in mein Innerstes und ich war machtlos dagegen.

„Also ich weiß, dass du das draufhast", sagte ich. „Komm mit."

Wie durch ein Wunder gelang es mir, vor ihm zu gehen und den Blick von ihm, den ich in meinem Rücken spürte, zu erwidern, als ich mich wieder umdrehte. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen und er gab es zurück. Ich spürte den ersten Stromschlag. Oder den fünftausendsten. Je nachdem, wie man es sah.

Die Tür ging auf und ich sah nur noch wie Jake zu uns sprintete und Shawn in den Arm nahm. Die Geste war so intim und tröstlich, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildete und ich wegsehen musste, um Schlimmeres zu verhindern.

Phoebe kam auf mich zu und tat dasselbe. „Was ist da drin passiert, Camz?", flüsterte sie in mein Ohr. Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, spürte ich Shawns Blick wieder auf mir. Ich beantwortete sie nicht und stellte doch eine eindeutige Frage.

Keine Ahnung. Sag du es mir, Shawn. Was ist gerade passiert?

Er schwieg mich an und ich spürte den zweiten Stromschlag. Oder den fünftausendersten. Je nachdem, wie man es sah.

-

Das nächste Kapitel für euch, liebe Leute! <3 Ich bin enttäuscht von dem Zeug, das ich momentan schreibe. Vielleicht wird es euch beim Lesen ja anders gehen... Also hoffentlich :D

Liebe geht raus. Ganz viel davon.

eure Maggie <3

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