Kapitel 49
"You said 'us' and in that moment,
I knew words were magic."
-K. Towne Jr.
•••
Camila
„Ich muss nach Japan", bekannte ich und hoffte wie nie zuvor, mir selbst zu glauben. Miami hieß an diesem Vormittag im März offiziell den Frühling willkommen. Ich hatte seit Monaten nicht von ihm gehört. Dass meine Ohren heiß wurden und mir bei dem Aussprechen einer jeden Silbe unsäglich übel wurde, verdrängte ich resolut. Für den Bruchteil einer Sekunde rauschte es in meinen Ohren und dieses Geräusch verhöhnte mich so, wie es nie zuvor etwas geschafft hatte. Die lautesten Zweifel und die Schnitte, die mein toter Erzeuger auf meiner Seele hinterlassen hatte, waren dagegen nichts als ein Windhauch. Erst jetzt nahm ich wahr, dass sich Rosarios Blick in mich bohrte. Und damit meine ich auch bohrte, Leute. Obwohl es jeder Winkel meines Körpers es verbot, rollte ich mit den Augen.
„Na los", seufzte ich. „Sag' schon, Ros. Sage mir, wie groß der Fehler ist, der ich gerade begehe und dass der noch größere das Weglaufen ist."
Rosarios Augen wurden weich, nur ganz kurz, bevor die ebenso liebevolle Härte wieder in sie trat. Ich fühlte mich nackt und in mir regierte das Bedürfnis die Hände vor dem Brustkorb zu verschränken. Oder zumindest etwas dergleichen. Hauptsache, ich verschwand schnellstmöglich von meiner eigenen Bildfläche. Wäre diese Situation nicht so unglaublich traurig, hätte ich gelacht. Und wie auf das paradoxeste Stichwort, begann Salzwasser meine Sicht zu trüben. Und dann war die Welt einen Augenblick lang still. So unerträglich still.
„Liebst du ihn noch, Mila?"
Ich sah der Ehefrau meines Chefs in die Augen, als wüsste ich ganz genau, was ich zu sagen hatte, als würde ich nur einen kurzen Moment Luft holen müssen und mich sammeln, um ehrlich zu werden. Doch ich war niemand, der es wert war, dass seine Schnipsel wieder zusammengesetzt wurden. Ich sollte nicht wieder Luft holen, denn alles, was ich innerhalb eines Atemzuges von mir hätte geben können, wäre einer Lüge entsprungen. Dass die Welt ein kaputter Ort war, an dem Verlogenheit am längsten wehrte, merkte ich zum spätesten Zeitpunkt. Jetzt, während sich Ros' von Sorgen erfüllte Miene meiner annahm. Ich schluckte, bevor sie es erneut versuchte.
Zwecklos, Rosario.
„Lass mich die Frage anders formulieren", sprach sie. „Wie oft denkst du noch an Shawn Mendes?"
Ich zuckte die Achseln. Im Ernst, ich zuckte die Achseln. Was sollte das bedeuten? Nie? Manchmal? Immer?
Nie. Es bedeutete Nie. Denn ich dachte nicht an Shawn Mendes. Nicht, wenn jeder zweite Kunde einen Matcha Latte bestellte. Nicht, wenn die Welt in Florida einmal Kopf stand und der Regen im Rhythmus gegen die Scheiben tanzte und mich aufforderte, zu glauben. Nicht, wenn mir der Gedanke kam, dass Miamis Sonne mich einst so glücklich hatte sein lassen. Ihr seht schon. Nie und zu keiner Sekunde jedes verstreichenden Tages.
Und manchmal bedeutet Nie dasselbe wie Immer.
„Oft also", sinnierte sie und ignorierte meine Augen, die... so aussahen, wie ich es nie würde definieren können. Und das wollte ich auch gar nicht. „Lass mich noch eine Sache sagen, bevor wir das Thema wechseln. Ich habe dich gefragt, ob du ihn noch liebst. Wenn auch nur eine einzige Faser deines Herzens danach lechzt, diese Frage mit Ja zu beantworten, dann bleibe. Por favor."
Pause.
„Bleibe, denn deine Seele wird deinen Weg immer ebnen. Ganz gleich, wohin deine Beine dich tragen wollen.
„Liebst du dich selbst? Kannst du alleine sein?"
Der Wunsch, den Kopf zu schütteln und mir zum ersten Mal seit geraumer Zeit, selbst einen Gefallen zu tun, übertönte eine Millisekunde lang die Alarmanlagen in meinem Kopf und ich kam ihm nach. Ganz langsam senkte ich meinen Blick, doch kaum einen Herzschlag später bezahlte ich dafür. Rosario schnippte mit ihren Fingern an meiner Stirn und der Schmerz zuckte von meinen Schläfen bis in die Schuhspitzen.
„Verdammt! Wofür war das denn?"
Jetzt zuckte Rosario mit den Schultern.
„Wer nicht alleine sein kann, kann auch nicht zusammen sein", sagte sie, als würde sie darüber sprechen, wer den nächsten Tisch bedienen sollte.
Ich starrte sie an, als wäre sie etwas zwischen Chuck Norris und Mutter Theresa höchstpersönlich und schloss meinen Mund erst als er trocken wurde. Noch trockener.
„Warum erzählst du mir das alles?", fragte ich und krallte mich am Oberteil meiner Arbeitskleidung fest, bis meine Fingernägel brannten und meine Knöchel so weiß hervortraten, dass ich für einen Moment lang glaubte, mein Körper würde nicht länger mit Blut versorgt.
Rosarios Blick wurde milder. „Das wirst du früh genug wissen, chiquita. Glaub mir."
Anstatt etwas zu erwidern, machte ich auf dem Absatz kehrt. Und ich lief. Ich lief weiter und weiter und weiter.
In Rekordgeschwindigkeit fand ich mich am stillsten Ort der Welt wieder. Die Bucht war grauer und melancholischer als sonst und ich fragte mich, ob es an mir lag.
Das Meer bewegte sich langsam, ganz so als hätte es Angst, einen Fehler zu machen. Nicht einmal eine Naturgewalt war vor Fehlern sicher. Wie sollte es ich jemals sein? Genauso vorsichtig legte ich meinen schweren Kopf auf meine Oberschenkel und weinte, wie ein Mädchen, das sich nicht liebte.
„Sag mir, was ich tun soll, Cameron", flehte ich, ehe es jeder rationale Teil meines Gehirns hätte verhindern können. „Bitte sag mir, wohin ich gehen soll."
Pause.
„Ich liebe ihn, Cam. Ich liebe ihn."
Kaum hatte ich die Wahrheit ausgesprochen, schlug ich mir die Hand vor den Mund. Denn sie durfte so nicht lauten. Ich konnte sie nicht hören, weil er mich nicht mehr liebte. Das würde er niemals wieder tun.
Ich weinte weiter, bis ich aufsah und... es nicht mehr tat.
Pause. Pause, Pause, Pause.
Erst sah ich die Farben des kleinen Schmetterlings als verschwommene Kleckse und ließ mich von dem Glauben einlullen, Teil einer Illusion zu sein. Erst, als die letzte Träne versiegte, verstand ich, dass ich, so sehr ich auch darauf hoffte, nicht aus einem Traum aufwachen würde, weil er die Wirklichkeit darstellte. Der winzige Schmetterling, der mir stets gezeigt hatte, wie viele Schritte ich laufen musste, saß zum wiederholten Male auf meinem Knie. Und er schien sich plötzlich gegen mich zu wenden. Auch wenn in mir Fluten herrschten, Vulkane ausbrachen und Welten untergingen, lächelte ich. Und es war echt. Fast ein bisschen. Ich wartete, bis das Tier seine Arbeit als getan ansah und fortflog. Doch das tat es nicht. Nicht nach zehn Sekunden. Nicht nach zwanzig. Nicht nach fünfundzwanzig. Mein Puls hallte lauter denn je in meinen Ohren und ich schnappte gierig nach Luft, bevor ich einen Laut ausstieß, dessen Einzigartigkeit sich irgendwo zwischen Knurren und Keuchen fand. Zum ersten Mal verschloss ich meine Seele vor den Sternen. Zum ersten Mal ignorierte ich ihre Klänge und Schriften. Und bestimmt nicht zum letzten Mal erhob ich mich zu schnell und scheuchte den Schmetterling damit wieder in die Lüfte. Von Neuem lief ich. Und jeder Zentimeter bohrte sich in mein Sein. Er brandmarkte mich.
Rosarios Blick war stet geblieben und schmerzte kein bisschen weniger, als ich ihr im Cafe, das ihren Namen trug, wieder in die Augen sah.
Ich schluckte ein letztes Mal und ließ meinen Blick zu jeder Ecke meines zweiten Zuhauses schweifen, bevor ich fragte: „Fährst du mich zum Flughafen?"
Ros blickte trauriger, als ich es jemals erlebt hatte und ich fühlte mich, als hätte ich einen Dolch durch ihr Herz gestoßen. Eine Sekunde länger und an meinen Fingern hätte ich Blut gefunden.
„Natürlich fahre ich dich zum Flughafen."
Der Flughafen war so voll und lebendig und gleichzeitig erschien er mir so leer und ausgerottet, dass ich mich wieder zu fragen begann, ob ich einfach bloß zu verloren war. Ich erledigte alles wie in Trance. Ließ mich von Ros in die Arme nehmen und blendete ihre Worte, in denen so viel Hoffnung, dass ich blieb, mitschwang, aus. Ich kaufte ein Sandwich, das aller Voraussicht nach keinen Geschmack besitzen würde und nahm auf einer Bank in der Nähe des Gates Platz, bei dem ich später würde einfinden müssen. Und ein kleines Körnchen meines Herzens betete darum, später nie in die Augen sehen zu müssen.
Ein Lied, dessen Melodie an mir vorbeirauschte, als wäre sie für alle Ohren außer die meinen bestimmt, ging zu Ende. Doch, noch bevor die nächsten stummen Takte erklingen konnten, spürte ich eine Hand an meiner Schulter. Vor Schreck schrie ich auf. Aber nur beinahe.
Ich sah hoch und fragte mich, wie es sich wohl anfühlen würde zu sterben und ob später nicht doch schon viel früher war, als wir alle glauben wollten.
Brittainy C. Cherry lächelte mich an.
Brittainy C. Cherry. Lächelte. Mich. An.
So, als wüsste die beste Autorin aller Zeiten Dinge, die ich niemals auch nur würde erahnen können. Aus einem Grund, der mich ebenso wenig kannte, wie ich ihn, wurde mir sagenhaft und historisch übel. Und dann öffnete die Königin herzzerreißender Zeilen ihren Mund und richtete Worte an mich. Sie richtete ihre Worte an mich.
„Herzchen, du siehst aus, als könntest du ein wenig Gesellschaft gebrauchen."
Meine liebste Autorin lächelte warm und ich sah nichts. Nichts als Güte.
„Was... Wie... Warum?", stammelte ich. Hilflos.
Herzlichen verfickten Glückwunsch zu dieser herausragenden rhetorischen Leistung, Cabello.
Brittainy legte eine Hand an meine Schulter. „All das ist jetzt nicht von Bedeutung. Von Bedeutung ist es, auf jedes Gefühl zu hören. Auf jedes einzelne. Lies die Geschichte deiner Seele."
Pause.
„Eigentlich zitiere ich mich nie selbst. Niemals. Aber bevor ich dir das hier gebe," Sie hielt, wie aus dem Nichts, einen monströsen Stapel Papier in der Hand, „möchte ich noch eine Sache loswerden."
Pause.
„Sé valiente. Sé fuerte. Se amable. Y quédate.
Sei mutig. Sei stark. Sei gütig. Und bleibe."
Sie hatte aus Landon & Shay, ihrem neuesten Werk zitiert und ich verlor Stück für Stück den Boden unter meinen Füßen. Boden, den ich ohnehin während keines Wimpernschlages besessen hatte. Noch immer war kein Wort aus mir gedrungen, doch mein Herz spürte zu viel Verwirrung, als das für Scham noch Platz gewesen wäre. Wieder drückte Brittainy meine Schulter und legte mir dann die Seiten auf den Schoß.
„Du solltest das lesen. Ich weiß, dass der Autor einer deiner liebsten ist."
Ich schluckte trocken und blickte hinab. Die Buchstaben auf dem ersten Blatt bewegten sich, bevor ich sie zu lesen bekam.
„...UND ICH LIEBE DICH NOCH IMMER."
LASSE DICH AUF UNSERE LÜGE EIN; DENN SIE IST DIE WAHRHAFTIGSTE LÜGE, DIE ICH JE ERFAHREN HABE.
-
S. M.
Es konnte nicht wahr sein. Kein Wort konnte der Realität entsprechen und obwohl ich das wusste, blätterte ich weiter.
KAPITEL 1
CAMILA
Im Gegensatz zum Rest der Welt mochte ich Montage. Juan brachte morgens, bevor die ersten Kunden den Laden betraten, frische Donuts und Kaffee mit, Mrs. Dixon erzählte mir die neuesten Anekdoten aus der Arztpraxis ihres Sohnes und ich durfte die Stereoanlage bedienen. Wenn auch nur für 30 Minuten, aber mit Miley Cyrus, Leona Lewis und Whitney Houston ließ es sich jedenfalls besser arbeiten, als mit den musikalischen Vorlieben meines Bosses, der in Zeiten von Elvis Presley oder der Beatles stecken geblieben war. So sehr ich die Köstlichkeiten seiner Frau auch liebte – während meiner sechsstündigen Schicht brauchte ich ein winziges Stück Freiheit und diese wurde mir definitiv nicht durch Lieder verliehen, die entstanden waren, bevor ich das Licht dieser Welt erblickt hatte. Außerdem brauchte ich dringend neue Impulse für heute Nachmittag. Meine Schüler hatten bei der letzten Show in der Dance Factory grandios getanzt, aber nach der Party war bekanntlich vor der nächsten Herausforderung, auch wenn ich stets alles dafür tat, dass bei meinen 14 bis 17-jährigen Schützlingen der Spaß im Vordergrund stand. Wenn ich etwas bereits in jungen Jahren zu verabscheuen gelernt hatte, dann waren es Eltern, die ihre Kinder dazu drängten, unverwirklichte Träume, solche die sie nicht fühlten zu verwirklichen, nur weil ihre Eltern zu scheu gewesen waren, sich auf die Suche nach ihrer Berufung zu machen und sie willkommen zu heißen. Denn genau darum ging es doch an allen Tagen, oder etwa nicht? Seinen eigenen Weg zu den Sternen zu pflastern. Ich grinste.
Pause. Gottverdammt, ich brauchte eine Pause.
KAPITEL 3
SHAWN
Kennt ihr meine liebste Lebenstheorie? Es waren Momente, auf die es ankam. Kleine Wimpernschläge oder Atemzüge, die den Wind drehten. Vielleicht würde er in meinen Rücken wehen und mir helfen, oder aber für Kämpfe sorgen, die ich würde ausfechten müssen. Die Zeit eines Menschen auf dieser Erde bestand nicht aus Jahren oder Jahrzenten. Nicht einmal aus Tagen oder Stunden. Nein, es waren unendlich viele kleine Sekunden, die ein Bild formten. Und es wurde genauso bunt, wie wir uns trauten, es auszumalen.
Mir gefiel die Vorstellung, dass ich mich in 60 Jahren, wenn ich an diese gesamte Verrücktheit dachte, möglicherweise nicht zuerst an den Tag erinnern würde, an dem ich meinen ersten Plattenvertrag unterzeichnet hatte. Vielleicht würde ich nicht einmal an den Tag zurückdenken, an dem mich zu Hause in Toronto fast einhundert Menschen erkannt hatten und ich ihnen eine halbe Stunde lang, Cover aus meinem Repertoire vorgespielt hatte. Natürlich war es nicht abzustreiten, dass mich der Moment in dem ich erfahren hatte, dass mein Konzert in einem der größten Stadien der Welt – dem Madison Square Garden in New York – in etwas mehr als fünf Minuten restlos ausverkauft gewesen war, mit einer überwältigenden Menge an Freude, Stolz, liebender Fassungslosigkeit und Zufriedenheit erfüllt hatte. Aber er gehörte nicht zwingend zu den Momenten. Denen, die die Praxis zu meiner Theorie lieferten.
Eines der mikroskopisch kleinen Wunder, die das Leben für mich erst lebenswert gestalteten, konnte aber auf alle Fälle in der Musik liegen. Der Wimpernschlag, in dem ich zum ersten Mal einen Ton des Jazz oder Pop oder Rock ‚n Roll gehört hatte, den meine Eltern liebten. Oder der Moment, in dem ich zum ersten Mal Sonnenstrahlen auf meiner Haut gespürt hatte. Ich erinnerte mich nicht mehr daran, aber ich wusste, dass es zählte. Und wie es das tat. Genauso wie die Erkenntnis, dass Sonne merkwürdigerweise fast immer dem Regen den Vortritt ließ und sich in seltenen Augenblicken mit ihm zusammenschloss, um zu zeigen, wie schön ein Regenbogen aussehen konnte. Ein weiterer Bruchteil eines Augenblicks der blieb, würde wohl der sein, in dem sich meine kleine Schwester im Alter von eineinhalb Jahren, dazu entschlossen hatte, mir ihr erstes Küsschen zu schenken. Weil sie meinetwegen das herzlichste und seelenvollste Lachen ausgestoßen hatte, das ein kleiner Mensch wohl innehaben konnte.
Ach ja, Aaliyah. Und während ich meiner Schwester, die inzwischen kurz davor stand, sechzehn Jahre alt zu werden, jetzt flüchtig in die Augen starrte, nachdem ich von Neuem eine Nacht lang hatte tun dürfen, was ich am meisten liebte, wurde mir klar, dass ein neuer Augenblick entstanden war, der sechzig Jahre entfernt eine riesige Bedeutung haben würde. Es waren jedoch nicht Liyahs Augen, die mir Gewissheit lieferten. Sondern die neben ihr. Ein
Paar braun-grüner glänzender Seelenfenster, die so geerdet, fliegend, traurig und glücklich schauten, dass ich nicht anders konnte, als mich zu fragen, wieso unser Gefühl in diesem Augenblick so verdammt gleich war.
Sie ist wunderschön.
Ich ahnte, dass mir dieser Gedanke sofort entgleiten würde, sobald der Augenblick endete. Trotzdem wusste ich, dass es unmöglich war, ihn zu verdrängen. Vielleicht wurde er sogar zu einem meiner absoluten Favoriten. Verrückt, in welche Richtung Sandkörner im Wind manchmal flogen. Die junge Frau, die mir einen Momentanzauber beschert hatte, trug ihre langen schwarzen Haare offen und sah in einem schwarzen FRIENDS-T-Shirt seltsam gelassen aus. Ihre vollen Lippen locker aufeinanderliegend, schien sie nicht im Geringsten körperlich oder emotional darauf zu reagieren, dass ich vor ihr stand. Nicht, dass ich es mir unbedingt gewünscht hätte, aber mit einem Mal interessierte mich brennend, ob sie heute Abend bei der Show gewesen war und was sie gefühlt hatte. Ich wollte wissen, welche Botschaft hinter ihrem selbstsicheren Schweigen steckte und obwohl es absurd war, fragte ich mich ob es mir gelungen war, einem fremden Mädchen, den gleichen Wimpernschlag zu bescheren, den sie mir geschenkt hatte.
„Ähm, Leute?" Die Stimme meiner Schwester katapultierte mich wieder ins Jetzt und viel zu schnell war ich zurück in der AA-Arena in Miami, stand zwischen Aalyiah und einem Paar brauner Augen und erlangte langsam meine Fähigkeit zurück, mich zu artikulieren. Was zur Hölle war gerade vorgefallen? Ich gab alles, um die Frau, die ich kein bisschen kannte, die aber offenbar in den letzten Minuten meiner Schwester zur Seite gestanden hatte, nicht zu eindringlich zu mustern und kämpfte gegen den Impuls an, Liyah für ihr anzügliches Grinsen mit einem einzigen Ausdruck zu erdolchen. Sie war meine kleine Schwester, ich liebte sie abgöttisch aber die Momente, in denen ich diese vorlaute, unglaublich mutige Highschool-Schülerin fesseln und knebeln wollte, um peinliche Situationen zu vermeiden, kamen nicht selten vor. Und ein sehr peinlicher Augenblick bahnte sich jetzt an. Ausgerechnet, nachdem ich einen erlebt hatte, von dem ich anzweifelte, ob er wirklich mir widerfahren war – oder ob ich nicht doch bloß geträumt hatte. Ich war mir sicher: Sie hatte mich gesehen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer sie war und welchen Platz sie auf dieser großen Welt einnahm, wusste ich, dass ihr nicht entgangen war, dass ich nicht immer der war, den heute Abend 19.999 andere gesehen hatten. Vielleicht hatte sie gespürt, dass wir beide anders und erst dadurch gleich waren.
„Hi", hörte ich eine krächzende Stimme. Schon möglich, dass es meine eigene war. Der stille Austausch zwischen uns war so präsent und schien elektrisch aufgeladen, dass es beinahe unmöglich war, gegen die Gänsehaut anzukämpfen, die meine Arme hinaufkroch. Sie verstärkte sich nur, als ich sie schließlich zum ersten Mal sprechen hörte.
„Hey." Ihre Stimme trug einen samtigen Ton und wirkte fast so, als würde sie mit Stolz eingesetzt werden. „Tolles Konzert."
So oft hatte ich diesen Satz aus unzähligen verschiedener Münder gehört. Aus ihrem klang er... anders. Als wäre er das ehrlichste, was sie jemals von sich gegeben hatte. Als wäre sie ständig die ehrlichste Version ihrer selbst.
„Danke." Zu sprechen, fiel mir unsagbar schwer. „Es... schön, dass es dir gefallen hat."
Sie nickte. „Hat es."
In meiner Brust breitete sich in Sekundenschnelle Hitze aus. Nie zuvor hatte mir ein simples Geständnis so gut getan. Ich lächelte. Und endlich drohte mein Herz nicht mehr, innerhalb meiner Brust zu zerspringen.
Die Unbekannte wandte sich Aalyiah zu und bedachte sie mit einem einfühlsamen aber eindringlichen Blick.
„Da ich endlich deinen Namen kenne: Denk daran, was ich dir gesagt habe, Aaliyah. Du bist ein starkes Mädchen. Und..." Sie streifte mich mit einem Seitenblick, der meine Kehle austrocknen ließ. „...pass gut auf deinen Bruder auf."
Von da an stand es fest: Man konnte sich in Augenblicke mindestens genauso sehr verlieben, wie in jene Menschen, die sich dahinter versteckten.
Meine letzte Frage flüsterte ich, als sie sich längst von uns entfernt hatte.
„Wie heißt du eigentlich?"
Wie von allen guten Geistern verlassen, blätterte ich weiter. Shawn hatte alles aufgeschrieben. Unsere ganze, große Geschichte. Und dann flogen meine Augen an die letzte Seite.
„Unsere Geschichte muss nicht mit einem Hund, einer Katze und einem Haus enden. Aber sie soll mit uns enden. Mit deiner Hand in meiner und unserer Tochter, die den Namen Maggie May tragen wird. Sie kann aber auch Elizabeth, Alyssa oder Lucy heißen. Es ist bloß wichtig, dass sie weiß, dass sich die Welt dreht, weil ihr Herz schlägt. So wie sich meine dreht, weil deines schlägt. Du bist mein Schmetterling und ich würde gerne deiner sein.
Komm zurück, Mila."
Ich starrte auf jeden Buchstaben, bis er zu einem großen schwarzen Punkt wurde. Ich fand eine Träne auf der weißen Seite. Dann noch eine. Diese Welt drehte sich nicht, weil mein Herz schlug. Sie war vollkommen still geworden.
„Das... Das sind wir", krächzte ich.
Ich sah wieder in Brittainys Richtung und ihr Blick beantwortete stumm jede meiner Fragen.
„Und wie ihr das seid", sagte sie und verscheuchte eine weitere Träne, die sich aus meinen Augen befreit hatte. Dann grinste sie wissend. Himmel, wieso wusste diese Frau so viel?
„Wie du weißt, bin ich kein großer Fan von Klischees in Geschichten. Aber ein liebstes habe ich doch. Willst du wissen, welches?"
Ich nickte, zu auch nur einem einzigen Wort unfähig.
„Die Flughafenszene."
Brittainy C. Cherry verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war, was nicht bedeutete, dass sich meine Seele nicht in den nächsten Sturm wagen musste. Denn Shawn stand da. Auf einmal, wie vor all den Monaten.
Er sah mich.
Ich sah ihn.
Wir sahen uns.
Ganz langsam machte ich einen Schritt. Nur einen, und er tat es mir gleich. Bis wir einander gegenüberstanden, dauerte es gleichermaßen fünf Jahre, wie fünf Sekunden. Und dann sprach ich. Einfach so.
„Also... Unser Sohn kann nicht Brooks Tyler heißen. Ausgeschlossen."
Ich glaubte, zu lächeln, denn er spiegelte es.
„Okay."
Ich wollte ihn, den Mann, den ich niemals zu lieben und zu begehren aufgehört hatte, berühren, so sehr wie ich noch nie etwas gewollt hatte.
Doch ich verbot es mir. Und dann knöpfte Shawn Mendes sein weinrotes Hemd auf und ließ es zu Boden segeln.
Shawn Mendes zog sich aus. Auf einem verdammten Flughafen. Und ich schmolz. Warum, zum Teufel, war es hier so heiß?
Das war die letzte Frage, die ich stellte, bevor ich erstarrte. Und dieses Mal ganz bestimmt für immer.
An Shawns linkem Oberarm prangte ein Schmetterling. Ein Schmetterling dessen rechter Flügel zur Gänze aus Blumen bestand. Er war vollständig unvollständig. So wie wir. Wie unsere Herzen.
Mein Blick wanderte einen Zentimeter nach unten und ich starb. Schon wieder. Diese Worte konnten da nicht stehen.
Vive sin miedo de mañana.
Rie con alma.
Ama infinitamente.
Von Neuem brach ich in Tränen aus, doch ich war nicht fähig, mich deswegen unbehaglich zu fühlen. Schon lange nicht mehr.
„Shawn", krächzte ich. „Shawn, du... Du hast alles aufgeschrieben."
Er schluckte und nahm meine Hand in seine. Zog mich an sich. Es hätte niemals anders sein sollen.
„Ja, das habe ich", gab er zurück. Er klang rau und so unfassbar anmutig.
„Aber vor allem..."
Pause.
„Vor allem lebe ich ohne Angst vor Morgen. Ich lache voller Seele. Und ich liebe unendlich. Ich liebe dich unendlich. Karla Camila Cabello Estrabao. Ich liebe dich, mit allem, was ich bin und mit allem, was ich jemals hoffe, sein zu können."
Ich ließ unsere Lippen einander streifen. Der Hauch einer Berührung. Großer Gott, er war alles. Alles, wonach ich mich jemals gesehnt hatte.
„Mein Herz hat niemals aufgehört, deines zu sein", flüsterte ich. „Niemals. Aber Shawn, ich... Ich war wirklich schrecklich, oder?"
Er grinste und in seinen Augen glänzten Tränen.
„Ach, halt die Klappe."
Ich küsste ihn, Stirn an Stirn. Er schmeckte nach Zuhause, weil er es war. Er war meine Zuflucht. Und unsere Lippen versanken verzweifelt in allem, was sie versäumt hatten. Es verging nicht genug Zeit, bis er sich wieder von mir löste.
„Sind wir wieder cool?", raunte er an meinem Mund und ich lachte auf.
„Du verdammter Vollidiot."
Wieder berührte er meine Lippen. „Liebst du mich wieder?"
Ich verzichtete auf Bekenntnisse und vereinte uns noch einmal miteinander. Ich versank und überließ tatsächlich meinem Herzen das Kommando. Und es fühlte sich gut an.
So unbeschreiblich gut.
Shawn atmete ebenso schwer, wie ich, als unser Kuss zu Ende ging. Er umklammerte mein Gesicht, so wie ich seines hielt, um ihn nie wieder gehen zu lassen. Er lächelte und ich sah nichts. Nichts als Liebe.
„Sag einfach Ja", flüsterte er.
„Ja", raunte ich. „Ja."
Wir verschmolzen miteinander, gaben uns jedes Versprechen unserer Seelen und unsere Herzen nahmen sie uns ab. Wir hielten sie und ertranken in uns. Jetzt. Jetzt oder nie. Jetzt und immer.
Ja. Ja, verdammt.
-
Late night update and...
WHOAH!!! THEY ARE BACK!!! <3
Freut sich hier noch jemand so sehr wie ich? <3 ;)
Ich bin so gespannt auf eure Kommentare! <3
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