Kapitel 38

"He was the thing that healed her,
that made her scars feel beautiful."
-Atticus

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Camila

Schwarz war eine viel zu dunkle Farbe. Vielleicht war sie deshalb die Farbe der Trauer und erfüllte die Brave Church in Miami bis in den letzten Winkel. Als sich die Bänke vor mir füllten, überkam mich beinahe ein schlechtes Gewissen, weil ich, seit ich lebte nur Positives mit dieser Kirche verbunden hatte. Die Gottesdienste mit Pastor Wright hatten mich als Siebenjährige an Sonntagen mit nichts als Freude erfüllt. Die Kirche war ein Ort, an dem jede verlorene Seele Halt fand und alle, die zerbrachen, wieder die einmalige Chance bekamen, ein Ganzes zu werden. Es wurde alles gut und das würde es immer werden. Nur heute nicht. Und vielleicht nie wieder.

Cameron ist tot...

Ein Blick nach dem anderen traf mich und entweder trog mich die quälende Schuld, die ich vielleicht nie würde ablegen können, oder sie waren tatsächlich abschätzig. Mich überkam die absolut irrationale Angst, dass jeder Trauernde wusste, was die Stimmen der Zweifel in meinem Kopf mir zuflüsterten.

Wir sind nur deinetwegen hier.

Gerade, als mich niemand mehr ansah und sich erdrückende Stille über uns alle legte, spürte ich sanften Druck auf meiner Hand. Shawn sah mich aus mitfühlenden Augen an. Seine berühmte Locke fiel ihm aus der Stirn und um nicht in seinem Blick zu ertrinken, strich ich sie zur Seite.

„Du bist es nicht, Baby. Sie trauern. Diese Menschen sind unglaublich traurig."

Ohne nachzudenken ließ ich meinen Kopf schwer auf seine Schulter fallen und konzentrierte mich auf die kleinen Küsse auf meinem Scheitel.

Ich bin es nicht.
Ich bin es nicht.
Ich bin es nicht.

Der Sarg, in dem Cam lag, war das Einzige, das ich die gesamte Zeremonie über wahrnahm. Die Worte des Pastors und aller Anwesenden rauschten, als wäre ich im Delirium, an mir vorbei.

Ich nahm die herzzerreißenden Laute von Carol und ihrer Familie nur gedämpft war. Wahrscheinlich hatte eine Art Schutzmechanismus in mir eingesetzt, der mich davor hätte schützen sollen, in weitere tausend Scherben zu zerfallen. Es war viel zu merkwürdig, dass wir funktionierten, obwohl unser Körper längst kapituliert hatte. Vielleicht sehnte sich unser Herz trotz allem danach, weiterzuschlagen. Wie hätte ich jemals auch nur einen Blick auf die letzte Ruhestätte meines Schülers werfen sollen? Einzig durch Shawns führende Hand gelang es mir, wie jeder andere Trauernde eine weiße Rose auf dem Sarg abzulegen, bevor ich von Neuem schluchzte und in den Armen meines Freundes zerbrach, obwohl ich es nicht durfte.

Ich erstarrte, als ich am Ende der Beerdigung eine Hand auf meiner Schulter spürte und geradewegs in Carols von Schmerz gebeutelte Augen starrte. Sie drang sich mit aller Kraft zu einer Miene durch, die allem Anschein nach einem Grinsen ähneln sollte und mein Herz zog sich zusammen, als ob es niemals damit aufgehört hätte.

„Camila... Camila, Liebes." Die Art, wie sie meinen Namen – vermutlich nicht nur meinen – aussprach, zeigte ihre unersättlichen Qualen. Sie war gezwungen, den Namen ihres Kindes, ihres Fleisch und Blut viel zu früh auf einem Grabstein zu lesen. Warum konnte nicht ich ihren Schmerz fühlen?

„Eigentlich würde ich dich bitten, dir selbst zu vergeben, aber das werde ich nicht tun." Für einen Herzschlag, der genügte, um ein messerscharfes Stechen durch meinen Körper wandern zu lassen, sagte niemand etwas.

„Weil es nichts gibt, das du dir vergeben müsstest."

Ich stieß Luft aus, von der ich gar nicht gewusst hatte, dass meine Lunge sie noch besaß.

„Mein Sohn hat dir wahnsinnig viel bedeutet, das weiß ich. In dir hat er stets Halt und Trost gefunden und ich bin unendlich dankbar, dass du ihm geraten hast, seinem Herzen zu folgen. Denn sein Herz – sein starkes Herz – wird ihn Frieden finden und glücklich sein lassen. Ich bin froh, dass er deinem Rat gefolgt ist, selbst... Selbst vor seiner allerletzten Entscheidung unter uns. Denn ich weiß, sein Herz wird schlagen, solange unsere Welt sich dreht."

Ich schlang meine Arme um Carol Carters Körper. Es war vermutlich das Mickrigste, was mir jemals hätte in den Sinn kommen können, aber ich fand keine Worte, die auch nur annähernd angebracht gewesen wären. Mit riesiger Wahrscheinlichkeit existierten solche gar nicht. Aber ich hielt sie. Auch wenn sie nie wieder vollständig heilen würde. Auch wenn ein Teil von ihr für immer fehlte. Ich hielt sie und hoffte, dass sie Liebe spürte. Denn ich hatte Wie die Stille unter Wasser oft genug gelesen, um zu wissen, dass man nicht alle zerbrochenen Dinge reparieren musste. Man liebte sie einfach.

Shawns Kuss auf meiner Stirn beförderte mich von einem Ort, den ich nicht kannte, wieder in die Realität zurück.

„Baby..."

Seine Stimme jagte einen Schauer über meinen Rücken und für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte ich mir, seine Stimme zu genießen. Wir saßen in einem viel zu großen Wagen, der uns zurück zu meiner Wohnung in Coconut Grove bringen sollte, doch mit einem Mal wünschte ich mir, niemals anzukommen. Ich war viel zu gut darin, so zu tun, als würde mein Leben nicht meines sein.

„Mir ist klar, dass das eine ziemlich bescheuerte Frage ist, aber... Ist alles in Ordnung? Dich beschäftigt irgendetwas."

Ich schluckte und erschrak, weil er mein Herz besser als ich selbst kannte. Und obwohl viel zu viele Stürme in mir tobten, kam kein Wort über meine Lippen. Ich schüttelte den Kopf.

Wieder küsste er mich, dieses Mal auf die Schläfe.

„Okay."

Okay.

„Shawn, was... Was, wenn sie Cameron folgt? Caytlin meine ich. Sie... Sie waren Zwillinge und so eng miteinander und ich... Ich kann nicht..."

Ich kann nichts tun.

Selbst, wenn ich gewusst hätte, was der Rest meines Satz gewesen wäre, hätte ich ihn nicht aussprechen können. Ich saß auf meiner zu großen Couch und fühlte mich alleine. Bis ich es eben nicht mehr war. Mein Freund legte ohne jede Vorwarnung seine Lippen auf meine. Seine Stirn lehnte an meiner und wir wussten nicht, wer schwerer atmete. Einen Augenblick lang gelang es mir, mich in seinen Augen zu verlieren.

„Mila... Cameron hat seine Schwester über alles geliebt und ich glaube, dass ihm nichts wichtiger war, als ihr Glück. Cait findet ihr Glück in den Schritten, die sie mit euch tanzt, in ihren Freunden, in der Musik, der Sonne. Ihr Herz schlägt stark und ein Teil davon wird immer Cam gehören, weil sie ihn auf ihre Reise mitnehmen wird. Aber sie wird ihm nicht folgen."

„Shawn hat Recht, das werde ich nicht." Ich fuhr herum und sah Caytlin im Türrahmen der Terrasse stehen. Sie lächelte entschuldigend. Ihre Augen glänzten und ich schluckte den Schmerz hinunter.

„Es tut mir leid, dass ich einfach so hereinplatze, aber ich dachte... Ich war alleine und..."

Sie war alleine und doch hatte sie den Weg zu uns gefunden. Ich spürte ihre Tränen ohne sie zu hören und war ziemlich sicher, dass ich auch ihr T-Shirt durchnässt hatte. Shawn hatte die Arme um uns geschlungen und ich versuchte mit aller Macht, mich auf seinen Atem in meinem Nacken zu konzentrieren. Beinahe. Beinahe konnten wir für einen Wimpernschlag so tun, als wäre alles in Ordnung. Aber das war es nicht. Und während ich mir untersagte, mit jeder Sekunde schwächer zu werden, fragte ich mich ob wir jemals wieder so etwas wie Glück würden fühlen können.

„Ich möchte, dass du wieder mit deinem Freund auf Tour gehst."

Mitten im Tanzschritt hielt ich inne und starrte Caytlins und Camerons Mutter an. Ich hatte sie zum Tanzstudio mitgenommen, nicht um ihren Sohn zu betrauern, sondern, um sich daran zu erfreuen, dass er gelebt hatte. Tausend Fragen kämpften in mir gegeneinander, doch ich stellte keine einzige. Stattdessen brachte ich den Satz hervor, der wohl auf ewig meine Persönlichkeit widerspiegeln würde.

„Ich kann nicht."

Carol runzelte die Stirn. „Und warum nicht?"

Ich seufzte und blinzelte bei den nächsten Worten, um Tränen vorzubeugen, die noch gar nicht entstanden waren.

„Ich kann einfach nicht länger flüchten. Ihr habt gerade erst jemanden verloren und es wäre ungerecht – und das ist sogar noch untertrieben – euch alleine mit eurem Schmerz fertig werden zu lassen. Ich werde hier gebraucht. Und außerdem..." Ich wusste ganz genau, wie ekelig sich die nächsten Worte in und aus meinem Mund anfühlen würden.

„Außerdem habe ich Shawn genug zugemutet." Mit angehaltenem Atem hob ich den Blick und starrte in Carols abwartende Miene. Bevor ich mich selbst aufhalten konnte, sprach ich weiter.

„So kann Liebe nicht funktionieren. Shawn ist mein Anker und mein Rettungsring, aber irgendwann wird er selbst meinetwegen ertrinken. Weil ich nicht die Stärke aufbringen werde, ihn aus dem Wasser zu ziehen. Er verdient es, mehr als irgendjemand sonst auf dieser Welt, ein Lachen zu hören und es zu teilen, anstatt Tränen wegwischen zu müssen. Er verdient eine leichtere Seele als mich, aber vor allem verdient er sich selbst. Er verdient die Güte, die andere täglich seinetwegen spüren und er verdient ein Herz, das lebendig schlägt und beständig atmet. Er verdient..."

„Dich."

Carol fiel mir ins Wort und mit einem Mal lagen ihre Fingerspitzen auf meiner Brust.

„Ich glaube – nein, ich bin mir sicher, dass er die Dunkelheit wählen würde, wenn es bedeuten würde, dass es deine und seine Dunkelheit ist. Es wird niemals Tränen geben, die er lieber wegküssen wird, als deine, wenn es bedeuten würde, dein Lächeln zu finden. Sein Herz..."

Pause.

„Sein Herz. Es schlägt für dich. Und ich könnte noch einen Haufen anderer Dinge sagen, doch das werde ich nicht. Folge deinem Herzen, denn ich weiß, dass es sich nach seinem sehnt. Und weißt du, warum ich das weiß?"

Warum?

Ich hatte kein Wort gesagt und Carol lächelte warm.

„Weil er dich auch braucht."

Er steht hinter mir.

Buchstäblich.

Carol verließ den Raum und mir graute davor, mich umzudrehen. Ich wollte nicht geliebt werden. Ich durfte nicht von Shawn geliebt werden. Und doch starrte ich ihm kaum einen Herzschlag später in die Augen.

„Was machst du hier?", krächzte ich.

Er presste die Lippen zusammen und trat einen Schritt näher. Gleichzeitig fühlte ich mich, als hätte er sich tausende entfernt. Das war es. Er hatte genug. Ich würde ihn verlieren.

Ich liebe dich.

„Ich dachte, das hätten wir hinter uns." Er räusperte sich, doch ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Warum, Camila? Warum lässt du nicht zu, dass ich dich liebe?"

Pause.

„Warum weigerst du dich, alles für mich zu sein?"

Seine Hände lagen inzwischen an meinen Wangen, seine Finger knöpften sich meine Tränen vor.

„Ich liebe dich."

Meine Stimme fühlte sich nicht nach meiner an und doch hatte sie die Wahrheit gesagt. Die einzige, die mich immer den Horizont sehen lassen würde.

Er antwortete mit seinen Lippen auf meinen und es war still. Die Stille, die ich mit ihm teilte, war schöner als jedes Lied.

„Flieg mit mir nach Toronto, Baby."

Ich schluckte schwer und ließ das kleine bisschen Frieden, das er für mich gefunden hatte, in meine Seele eindringen.

„Okay."

Er keuchte. „Okay."

Okay.

Er liebte mich im Tanzstudio, während die Melodien unserer Herzen von den Wänden hallten und rettete mich. Er versicherte mir, dass wir okay waren. Immer und immer wieder.

-

Das nächste kommt sofort! :P

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