Kapitel 37

"Sticks and stones will build your thrones, but love lives ever after."
-Atticus
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Camila

Mir war nicht so kalt, wie ich es verdient hätte. Der Mond beleuchtete Miami und die kleine Bucht kraftvoll und klar und ich unterdrückte mein bitteres Lachen mit aller Kraft, als mir klar wurde, dass nicht ich hier hätte sitzen sollen und wie entsetzlich verkehrt es war, dass mich ein siebzehnjähriger Junge, der buchstäblich sein gesamtes Leben vor sich gehabt hatte von oben aus beobachtete und nicht ich ihn. Gerade, als ich mich dazu entschloss zu denken, dass mein Tod statt seinem für Gerechtigkeit gesorgt hätte, durchfuhr mich ein kleines, aber doch deutliches Gefühl der Schuld. Ich dachte an Mum, an Sofia, Phoebe, an „Corazón". Und ich dachte an Shawn. Ich dachte an alle, die ich zurücklassen würde und fühlte mich schuldig. Nicht, weil ich glaubte, dass sie mich vermissen würden. Das wäre vielleicht nur im Herzschlag des Anfangs der Fall, bis sie irgendwann darauf verzichteten, an mich zu denken, weil ihnen klar wurde, dass so viel Gewinn in dem scheinbaren Verlust steckte, den ich darstellte.

Ich spürte den schuldigen Stich, weil mir wieder einmal danach war, wegzulaufen. Cameron Carter hatte aus Liebe sein Leben gegeben und es war meine Schuld. Ich war dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass alles was ich jemals zu kennen und zu lieben gelernt hatte, in ein schwarzes Loch gerissen wurde, dass schier unüberwindbar schien und musste bleiben. Meinetwegen stand Miami still und ich würde nicht länger ein Feigling sein, sondern jede Sekunde meiner Buße verstreichen lassen und absitzen, so qualvoll sie auch war. Denn sie existierte im Gegensatz zu dem Schmerz, der gerade zu viele andere Menschen in die Knie zwang, vermutlich überhaupt nicht. Und doch war es längst überfällig, mich diesem Schmerz zu stellen.

Ich wusste es nicht.

Von all den Fragen und Tatsachen, die meinen Kopf einnahmen, war das die einzige, der ich vertraute. Niemals hätte ich Cameron gehen lassen, wenn mir klar gewesen wäre, was sein Herz tatsächlich an Ballast trug. Doch er war nicht mehr hier. Ich hatte es getan, meinen größten und schwersten Fehler begangen. Ich hatte ihn fallen und glauben lassen, dass es keinen anderen Weg gab, als den, den er für sich gepflastert hatte. Innerhalb eines Wimpernschlages hatte ich mehr Zerstörung angerichtet, noch mehr als ich geglaubt hatte, in mir zu hüten. Die zweite Wahrheit, die ziemlich knapp nach der ersten eintrudelte, war: Ich hatte Cameron alleine gelassen. Nicht er war es gewesen, der nach einem Schnipsen verschwunden war, sondern ich. Er hatte lediglich getan, was ihm die Stimme seiner Hoffnung mit letzter Kraft zugeraunt hatte. Und obwohl mich gleichzeitig mit dem Gedanken eine Welle der Scham überflutete, obwohl ich mir endlich erlaubte, zusammenzubrechen, hoffte ich unverkennbar, dass er nicht länger wütend auf mich war.

„Pass auf Amber auf, Cam", flüsterte ich in die Nacht, die nur ihm gehörte. „So wie du auf mich aufgepasst hast."

„Auf uns alle."

Die Stimme hinter mir erschien wortwörtlich aus dem Nichts und trotzdem fuhr ich aus irgendeinem Grund nicht zusammen. Als ich jedoch in kristallblaue Augen sah, die dem seines Sohnes so erschreckend ähnlich waren, dass der Schmerz erneut zuschlug, fror ich für den Bruchteil einer Sekunde an Ort und Stelle fest und wagte es kaum, mich zu fragen, was als nächstes passieren würde. In der Dunkelheit waren die Umrisse von Lloyd Carters Gesichtszügen nur schwer auszumachen und doch lähmten sie mich Stück für Stück, sobald ich es wagte, ihn tatsächlich länger als eine Sekunde anzusehen. Der Tod hatte nicht nur seinen Sohn fortgenommen, sondern auch den wohl größten Teil seiner Selbst.

Es ist deine Schuld.

„Ich wusste es nicht", platzte ich unvermittelt heraus und sehnte die Ohnmacht herbei. Nicht, weil ich flüchten wollte, sondern weil ich auf Gerechtigkeit hoffte. Die Dunkelheit sollte mich so verschlucken, wie Cameron Carter. Nichts anderes würde wohl jemals auch nur annähernd ausreichen, um meine unfassbare Schuld auszugleichen. Zum ersten Mal traf mich die nackte Wahrheit mit voller Wucht:

Ich war eine Mörderin.

Hatte einen Menschen auf dem Gewissen.

Und vermutlich fühlte ich nicht einmal annähernd den Schmerz, der mir zugestanden wäre.

Doch alles sagte ich nicht vor dem Mann, der seinen Sohn würde zu Grabe tragen müssen. Stattdessen flüchtete ich mich bloß in weitere Nichtigkeiten und bedeutungslose Tatsachen, die kein verfluchtes bisschen an dieser grausamen Realität änderten.

„Lloyd, ich schwöre dir bei Gott, dass ich es nicht wusste. Ich... Ich dachte..."

Was? Was zur Hölle dachtest du?

„Camila."

Camerons Vater unterbrach meinen sinnlosen Schwall an Worten und klang dabei viel zu sanft.

Warum hasst du mich nicht, verdammt? Los, räche den Tod deines Kindes.

Doch er tat das genaue Gegenteil.

„Ich glaube dir. Wir alle glauben dir, Camila."

Ich öffnete meinen Mund und schloss ihn wieder, unfähig Sätze zu denken, geschweige denn sie auszusprechen.

„Aber..."

Lloyd hob eine Hand, als wüsste er genau, wovon er mich abhalten müsste. Und im nächsten Augenblick hockte er neben mir am Boden. Miamis Boden war niemals kalt, doch heute Nacht fror ich.

„Ich weiß, dass du nie etwas anderes als das Beste für meinen Sohn wolltest. Das weiß ich genauso, wie auch meine Frau und Tochter es wissen. Sie wissen um deine reine Seele und, dass du immer alles getan hast, um die Menschen, die dir am Herzen liegen, aufzufangen. Sie..." Er schluckte schwer und es schien mir sündhaft, auch nur zu versuchen, sein Leid nachzuempfinden.

„Sie zu retten."

Die Scherben in mir wurden zu noch kleineren, die mich kontinuierlich bluten ließen.

Schön ausbluten. Das hast du verdient.

„Cameron konnte ich nicht retten."

Die Wahrheit zu hören, war so viel scheußlicher, als ich jemals hätte denken können. Ich hasste, wie real sie wurde, wenn es dunkel war.

Lloyd räusperte sich und wischte Tränen von seinem Gesicht. Was hätte ich dafür gegeben, sie trocknen zu können.

„So grausam, es auch klingt und möge Gott mir meine Schuld vergeben, auch wenn Er ganz bestimmt weiß, wie ich es meine... Ich glaube nicht, dass irgendjemand meinen Jungen hätte retten können. Er wollte nicht gerettet werden."

Die Pause vor seinen nächsten Worten war nicht lang genug, um Cam zurückzuholen. Und sie würde es niemals sein.

„Cameron wusste immer ganz genau, was er wollte. Er hat jede Entscheidung getroffen, indem er auf sein Herz und seine Seele gehört hat. Auch..." Wieder kämpfte Lloyd Carter darum, ein zerbrochenes Ganzes zu bleiben. „Auch die allerletzte."

Mein Herz. Wohin ist dieses Herz verschwunden?

„Lloyd... Lloyd, es tut mir so leid..."

Es schien, als würde mein eigener Schluchzer, einer, den ich nicht verdiente, die Bucht an der wir saßen spalten und entzweireißen und zuerst dachte ich, dass die Arme, die mich mit einem Mal erfassten, zu Lloyd gehörten, doch dieser saß noch immer neben mir.

Ich spürte Shawns Atem in meinem Nacken und zeitgleich wich das letzte bisschen Kraft aus mir. Ich sollte nicht ruhen. Ich durfte nie wieder Ruhe finden und so musste mein Herz weiter dem Zerbrechen nachgehen. Ich fand Worte und sie waren schwächer als je zuvor.

„Shawn... Shawn... Ich... Ich liebe dich."

Er wog mich weiter in seinen Armen hin- und her und hielt seine Lippen dicht an meiner Haut. Er gab mir Sicherheit, die ich wieder verlieren musste.

„Ich liebe dich auch. Und ich glaube, du weißt gar nicht, wie sehr ich dich liebe, meine Süße. Wie sehr wir alle dich lieben."

Seine Zärtlichkeit traf mich bis ins Mark und als ich das Meer undefinierbarer Emotionen in seinen Augen erblickte, ergab ich mich.

„Lass uns einen Matcha Latte trinken gehen, ja?"

Ich antwortete nicht, als er mir auf die Beine half und mich durch meine Heimatstadt führte.

Alles, was in den nächsten Herzschlägen geschah, zog wie im Rausch an mir vorbei. Dass Shawn einen Grüntee zubereitete und ihn in einer Thermoskanne vor mich hinstellte, als wäre er derjenige, der seit Jahren im „Rosario" arbeitete, das in dieser Nacht völlig leblos war. Dass er mich auf seinen Schoß zog und ich keinen einzigen Schluck nahm. Dass mir das Existieren schwerfiel.

Irgendwann drückte mein Freund einen Kuss auf meine Schläfe und flüsterte:

„Wo ist Juan?"

Ich erwog für einen kurzen Moment einfach stumm zu bleiben, ehe ich mich doch räusperte.

„Er ist mit Rosario in Mexiko. In Cancún, bei seiner..."

Familie.

Da begriff ich: Ich hatte eine Familie zerstört.

Caytlin.

Carol.

Lloyd.

Cameron...

Und dann begann ich zu hyperventilieren. Mir wurde schwarz vor Augen und meine Lunge versagte in ihrem Dienst.

Ich sterbe. Ich werde sterben.

Gerechtigkeit...

„Ich k... Ich... Ich..."

Shawn schaltete schnell, auch wenn ich kaum etwas davon mitbekam. Ich lag im nächsten Augenblick auf seinem Schoß, seine rechte Hand auf meiner brennenden Brust.

„Atme hier hinein, Liebes. Ganz langsam. Ganz tief. Ich bin hier, mein Schatz. Ich bin hier. Dir wird nichts passieren."

„Es ist meine Schuld, Shawn. Alles ist meine Schuld."

Er schüttelte kaum merklich den Kopf und es war, als würde mich seine Stimme in eine andere Welt befördern. In eine, in der ich keinen Menschen um sein Leben gebracht hatte.

„Mila, ich werde dir jetzt etwas sagen. Und ich möchte, dass du mir ganz genau zuhörst, okay?"

„Nichts ist deine Schuld. Nichts ist deine Schuld. Du hast über ihn gewacht und jetzt wacht Cameron über dich. Hörst du mich, Kleines?"

Ich lag wie ausgetrocknet auf Shawns Beinen, unfähig auch nur zu schlucken. Er legte wieder seine Fingerspitzen auf meinen Brustkorb, der ein kleines bisschen weniger brannte, als ein paar Wimpernschläge zuvor.

„Sprich mit mir", bat er sanft. „Wie geht es deinem Herzen?"

Ein Überbleibsel meiner Seele nahm wahr, dass er mit dem letzten Satz aus dem neuesten Roman von Brittainy C. Cherry zitierte, doch weder mein Verstand, noch irgendein Gefühl reagierten darauf. Ich konnte nicht.

„Es schlägt noch immer", krächzte ich und fragte mich, ob die Stimme, die ich vernahm, wirklich zu mir gehörte.

„Es schlägt weiter, obwohl es das nicht sollte."

Shawn klang ungeheuer traurig und erschöpft, als er zu einer Antwort ansetzte.

„Sag das nicht. Bitte sag das nicht. Du bist doch mein Leben. Weißt du denn nicht, dass du mir die Welt bedeutest, Liebling?"

In dieser Nacht fiel ich unzählige Male auseinander. Und mein Freund? Shawn Mendes hielt mich mit allem was uns geblieben war, zusammen.

-

MEINE LIEBEN!!!!!!!!

Da heute ja ein Abend der Bescherung ist, dachte ich mir, ich beschenke euch nach ungefähr 50000 Jahren mit einem neuen Kapitel. Es tut mir von Herzen leid, dass es so lange gedauert hat.

Und auch, dass ihr an Heiligabend nichts Schöneres zu lesen bekommt. Es hat mein Herz zerrissen, diese Worte zu schreiben.

Nevertheless: Liebt einander, solange ihr könnt und besonders heute und in den nächsten Tagen. <3

Fröhliche Weihnachten allerseits! <3

eure Maggie <3

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