Kapitel 36

„Her heart and mind made peace in his arms."
-Atticus
••


Camila

Die Zeit war das gefährlichste und abstrakteste Konzept, das ich kannte. Sie lief nach Belieben für oder gegen uns und besaß Fähigkeiten, die jedes Leben zu einem Individuum formten und es zu der einen Sache machten, die es immer gewesen war und die es bleiben würde, egal wie sehr wir danach strebten, das zu ändern: Unser Leben war ein Wettlauf gegen die Zeit. Und das Schönste und Schlimmste war, dass wir ihr manchmal um Haaresbreite voraus waren und einen kleinen Sieg feiern konnten, während sie schon in den Startlöchern stand, uns einzuholen und uns bittere Niederlagen schmecken zu lassen. Niederlagen, die bis wir den Kampf gegen sie endgültig verloren, einen Abdruck auf unseren Körpern und Seelen hinterlassen würden. Ich hätte sie ihr Ding machen lassen. Seit ich atmete, vertraute ich auf die richtigen Schachzüge der Zeit, weil in mir die Hoffnung schlummerte, dass ich, wenn es darauf ankam mit ihr würde Schritt halten können.

Was für eine gottverdammte Lüge.

Wir durften nicht verlieren. Nicht heute und nicht hier, wo wir zuhause waren. Wir durften ihn nicht verlieren. Niemals. Cameron Carter musste leben.

Er darf nicht gehen.

Jede Sekunde verstrich mit einer anderen an ihrer Seite und schleuderte nichts als Übelkeit durch meinen Körper, als ich in Miamis Mercy Hospital beinahe über die Bedeutung seines Namens gelacht hätte.

Als kleines Mädchen war mir ein Krankenhaus immer wie ein unglaublich positiver Ort vorgekommen, auch wenn es niemand, den ich kannte, so gesehen hatte. Ein Ort der Hoffnung und Heilung, an dem ein Lächeln und ein Wort aus tiefster Seele unbeschreiblich viel Gutes bedeuten konnte. Im Krankenhaus wurde alles wieder gut. Das naive Wesen in mir hatte nicht die leiseste Ahnung, wann und wie, aber hier wurde alles gut. Was auch immer das bedeutete. Und doch verpasste mir die Skrupellosigkeit der Realität einen Faustschlag nach dem anderen und jeder einzelne war so schmerzhaft, dass ich beinahe den Grund dafür vergaß, dass ich noch immer meine Füße einzusetzen wusste, dass ich noch nicht in mich zusammengefallen war. Ich bekam es nicht alleine hin und vermutlich war das auch niemals der Fall gewesen. Shawn war hier. Mein Freund hatte während unseres Fluges von Oregon nach Florida nichts getan, außer meine zerbrochenen und bröckelnden Teile zu lieben und so stark zu sein, wie ich es niemals sein würde. Ganz selbstverständlich drückte er meine Hand fester und küsste meine Schläfe. Und ich wünschte mir bei allem, was dieser gottgegebene Mann für mich tat, dass er mich anlog und mir sagte, dass es okay wäre. Dass wir schneller als ich denken könnte, wieder hier draußen wären. Mit Cameron.

Warum sagt niemand ein Wort?

Vielleicht war es Hoffnung, vielleicht aber auch Angst, die mich davon abhielt, auf einen Arzt loszugehen und ihn brüllend zu fragen, wieso zum Teufel er einfach so seinem Job nachgehen konnte. Warum drehte sich die Welt ohne auch nur einmal innezuhalten weiter?

Die nächste Lüge.

Denn kurz, bevor ich tatsächlich anfing zu glauben, dass all das nur ein schlechter Scherz war, sah ich sie. Ich erblickte Caytlin und ihre Mutter mit einem Halbgott in Weiß und sah dabei zu, wie sie beide beinahe zeitgleich zu Boden glitten. Ganz so, als wäre eine Entscheidung gefallen. Zwei Frauen, die der Inbegriff von Stärke waren, gaben für den Moment auf. Dieser Moment trug das Gesicht eines ganzen Lebens.

Als wäre er fort...

Die Zeit besiegelte ihren Triumph, als Caits Schreie die Luft zerrissen. Und auf einmal war die Entfernung zwischen uns verschwunden und die beiden waren kaum einen Luftzug von uns entfernt. Ich hörte den Klang ihrer Namen und war beinahe sicher, dass ich sie selbst aussprach.

„Carol... Cait..."

Obwohl es nicht sein konnte, nahmen sie mich schneller wahr, als ich atmen konnte. Und auch wenn es niemals geschehen durfte, entglitten Caytlin und ihrer Mutter Lügen. Sie lügten, etwas anderes ergab keinen Sinn.

„Er ist tot. Cameron ist tot."

Cait...

Carol...

Cameron...

Caytlin hatte scheinbar überhaupt nicht begriffen, was die wahre Lüge bedeutete, bevor sie ihren Mund verließ. Denn wieder schrie sie gequält auf und verlor sich in den gleichen Klagelauten, die auch ihre Mutter erschütterten.

Cameron war tot. Cait hatte ihren Zwillingsbruder verloren. Carol und Lloyd Carter mussten um ihren Sohn trauern. Warum... Warum zum Teufel schlug ein Herz in dem einen Augenblick noch so tatkräftig und warf im nächsten einfach das Handtuch? Und wie wagte es Cameron meine Seele lebendig brennen zu lassen und meiner Kehle alle Luft abzuschnüren? Wieso besaß er einfach so die bodenlose Frechheit, seine Familie – die Liebe für ihn bedeutet hatte, nichts als Liebe – durch nichts als die Hölle wandern zu lassen?

Was, um alles in der Welt dachte er sich dabei?

Vielleicht waren Minuten vergangen, als ich aus einer grausamen Starre erwachte und mich im Krankenhaus wiederfand. Vielleicht waren es aber auch Stunden oder bloß Millisekunden gewesen. Die Zeit hatte uns ohnehin eines Besseren belehrt – welche Rolle spielte es da noch über sie nachzudenken?

„Wo ist er?", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und begann wie manisch auf und abzulaufen. Das hier musste ein abgefuckter Witz sein. Ein mieses Spiel, nichts weiter.

Carol und Caytlin lehnten an der Wand und waren längst zu Boden gerutscht. Ich war unfähig, sie anzusehen, geschweige denn mich zu ihnen zu gesellen.

„Wo ist Cameron?"

„Baby..."

Shawns Stimme, erklang an meinem Nacken und sein sanftmütiger Atem, seine Liebe, die trotz der Welt, die uns gerade zu verabscheuen schien, bestehen blieb, brachten jedes meiner Fässer zum Überlaufen, als er nach meinem Handgelenk griff.

Ruckartig drehte ich mich um, jedoch ohne ihn anzusehen und zuckte zusammen, als hätte ich mich verbrannt. Zum allerersten Mal. Und das obwohl das Feuer in mir schon seit geraumer Zeit wusste, was es da tat.

„Lass mich los, Shawn." Kaum hatte die verzweifelte Bitte, die nichts als einen Hilfeschrei hätte darstellen dürfen meine Lippen verlassen, schlug mein bester Feind, der Selbsthass zu.

Lang nicht mehr gefühlt, Kumpel. Beschissen, von dir zu hören.

Ich hasste mich, weil meine Stimme verboten schroff klang, so wie Shawn es nicht verdiente. Und ich glaubte, die Lüge, die mir jeder aufzutischen versuchte. Ich glaubte, dass Cameron tot war.

„Er ist immer noch hier", gab ich atemlos von mir, doch verstand ich, wie mit jedem Wimpernschlag, der verstrich, Kraft aus mir wich, die ich gar nicht besaß. „Er kann nicht verschwunden sein. Shawn..." Ich schluckte und begann die abscheuliche Wahrheit in der Lüge zu sehen. „Shawn, er lebt. Er lebt doch, oder?"

„Liebling..."

Shawns Stimme brach, bebte und war meiner gefährlich ähnlich. Ich hätte längst die weiße Fahne hissen sollen, noch bevor ich seinen Tränen dabei zusah, wie sie auf seinen Wangen umherirrten.

Ich hatte so oft erlebt, was es bedeutete zu verlieren, und doch geschah es zum ersten Mal, als mein Freund mich in seinen starken Armen zerbrechen ließ und feuchte, winzige Küsse auf meinem Haar platzierte. Küsse, die sich mit seinem Salzwasser vermischten.

„Er lebt. Er lebt. Er lebt", schluchzte ich vehement.

„Es tut mir so leid, mein Schatz. Es tut mir so leid."

Es war, als wären meinem Körper weitere Schluchzer verwehrt geblieben. Jeder Laut blieb in meiner Kehle stecken, als ich aufblickte und in Shawns schmerzerfüllte Augen blickte. Er hatte Cameron niemals gekannt und betrauerte ihn, wie einen Teil von mir, ihm selbst, uns allen.

Er ist nicht mehr hier.

„Er ist tot", brachte ich erstickt hervor. Es war, als müsste ich wieder das hämische Lachen der Zeit über mich ergehen lassen. Einmal zu viel.

Cameron Carter war von uns gegangen. Und er würde verdammt nochmal nie mehr wieder hier aufkreuzen.

Es wurde später. Es wurde irgendwann, als ich zum wiederholten Male glaubte, ersticken zu müssen. Caytlins leere Augen versuchten mich zu fixieren, doch es war, als wäre jeder Versuch sinnlos. Dieses Mädchen hatte ihren Zwillingsbruder verloren und versuchte, nicht an ihren Tränen zu ertrinken.

„Er wollte zu Amber. Er ist bei Amber."

Es kam mir so paradox vor, Caits Stimme zu hören, nachdem sie schier Lichtjahre geschwiegen hatte, dass ich zuerst glaubte, sie mir nur einzubilden. Ich begann, meinen Verstand aus der Hand zu geben, durchzudrehen. Und es überraschte mich nicht. Kein bisschen. Der Beweis dafür, dass ich nicht an Halluzinationen litt, befand sich wenig später in meiner Hand. Ein abgegriffenes, weißes Blatt Papier, das penibel gefaltet worden war. Ein kurzer, verräterischer Hauch der Erleichterung durchfuhr mich – offenbar war Cam nicht gegangen, ohne etwas zu hinterlassen. Den letzten Strohhalm, an den wir uns klammerten, um einen Herzschlag nach dem anderen, jeden der ohne ihn verstrich, zu überstehen.

Und dann begriff ich, dass das Unglück, die Trauer zu viele Menschen einzig und allein meinetwegen zerfraß.

Er war seinem Herzen gefolgt, so wie ich es ihm geraten hatte. Er würde Amber nicht wieder ziehen lassen und bat mich, auf Caytlin aufzupassen.

Cameron hatte mir von seinen Gefühlen für ein Mädchen – Amber – erzählt. Ich hatte ihn ermutigt, um sie zu kämpfen und ihre Nähe zu suchen, wenn sie ihm wahrlich etwas bedeutete. Ich hatte ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, auf die andere Seite geschickt. Ich hatte es nicht gewusst.

Ich wusste es nicht.

Ich verließ meinen Körper, als meine Füße mich weitertrugen, fort. Vielleicht rief Shawn nach mir, vielleicht jemand anderer. Vielleicht – hoffentlich – war es niemand, der versuchte, mich aufzuhalten.

Wir waren schmerzhaft, gnaden- und erbarmungslos ausgeknockt worden. Und es war meine Schuld.

-

Ich möchte nichts sagen, außer, dass es mir leid tut.

Ich hab euch lieb.

eure Maggie <3

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top