1. Kapitel - Lou

Der Anblick ist jedes Mal ziemlich atemberaubend und wunderschön. Es ist zwar nur eine Ansammlung von Lichtern und Straßen, auf denen sich die Menschen wie Ameisen tummeln und doch finde ich es schön. Vor unserem Fenster fahren in einiger Entfernung die schnittigen silbrigen Züge auf ihren schillernden Gleisen durch den Himmel. Seit wir hergezogen sind, finde ich Zugfahren toll. Dabei lernt man immer die seltsamsten Menschen kennen und außerdem ist es bequem. Mika kann ich allerdings nicht so wirklich davon überzeugen, weil er es vorzieht, zu laufen. Am liebsten über waghalsige, unbenutzte Wege, die ich ihm schon x-mal untersagt habe.

Wie auf Kommando höre ich plötzlich ein Krachen aus Mikas Zimmer, einen überraschten Schrei seinerseits und als ich mich schließlich umdrehe, stehen mir er und ein Tiger, der aus einem Fantasyfilm zu stammen scheint, gegenüber. Beide schauen gleichermaßen überrascht.
Ich seufze. „Mika, das kann doch nicht dein Ernst sein." Sein erschrockener Blick verwandelt sie so souverän wie schmelzende Schokolade in süße Verlegenheit. Als wäre die Raubkatze aus Versehen aufgetaucht und er könnte überhaupt nichts dafür.
„Ein Tiger?" Ich versuche, tadelnd auszusehen und deute auf die neueste Kreation meines Adoptivbruders. So wie Mom, wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe. Gott, ich vermisse sie. Wir sollten sie bald wieder besuchen, vielleicht kann sie Mika ja zur Vernunft bringen.
„Willst du ihn flauschen?" Mika grinst, weil er die Antwort sowieso schon kennt. Ohne auf meine Reaktion zu warten, pfeift er kaum hörbar. Ein seltsamer Ton, den ich aus unerfindlichen Gründen nicht so zu Stande bringe. Ist aber vielleicht wirklich nur für solche Menschen wie Mika bestimmt.
Im nächsten Moment kommt die große, schillernde Katze auf mich zu. Nicht majestätisch und bedrohlich, sondern eher wie ein Haustier, das sein Herrchen endlich wiedersieht. Wie immer bin ich fasziniert von Mikas Gabe. Der Tiger ist kein richtiger Tiger, sondern eigentlich nur eine Zeichnung. In die Luft gewebt wie ein Traum. Die Linien, aus denen er besteht, schillern bläulich als wäre er aus Nordlichtern entsprungen. Seine Augen sind durchscheinend weiß wie Monde. Es erscheint mir jedes Mal unmöglich und doch kann ich ihn berühren als wäre er real. Völlig verzaubert hocke ich mich hin und lasse mich von dem Ungetüm an knuddeln. „Na, den Charakter hast du ja nicht sehr gut getroffen."
Mika verschränkt die Arme vor der Brust. „Meinetwegen, dann zerfleischt meine nächste Zeichnung dich eben."
Ich flausche dem Tiger noch eine Minute durch das Fell, ehe ich mich erneut aufrichte. „Du weißt, was ich davon halte."
„Du kannst von mir nicht verlangen, dass ich damit aufhöre." Vorwurfsvoll schaut Mika mich an, wobei ihm weiße Haarsträhnen in die Stirn fallen. Der Junge ist eine einzige Anomalie.
„Ich mache mir nur Sorgen um dich." Der Tigerschwanz streicht um meine Beine. Ich versuche, möglichst alarmiert auf die Raubkatze zu deuten. „Wenn das jemand herausfindet."
„Wer sollte das denn rausfinden?" Mika klingt so sorglos, dass es mich beinahe wahnsinnig macht. „Die Clans?"
Er schüttelt den Kopf. „Die dürfen hier doch gar nicht hin." Er zieht seinen Zauberstab hervor und dreht ihn zwischen den Fingern. Nein, es ist kein richtiger Zauberstab, sondern eigentlich nur ein weißer Stift. Das Einzige, das Mika bei sich trug, als ich ihn kennengelernt habe. Provokativ lässt er - denn nur er kann es aus unerfindlichen Gründen - violett schimmernde Schlieren in der Luft erscheinen.
„Von mir aus." Er verschließt seinen Zauberstab in der Faust. „Dann lasse ich ihn eben verschwinden." Empört schlinge ich meine Arme erneut um den Tiger. „Nix da, der bleibt hier."
Mika grinst erneut und hat durch mein Einknicken wieder mal gewonnen. Ich seufze ergeben. „Du kennst die Regel?"
„Nur zuhause zaubern." Er zieht die Augenbrauen hoch und ich nicke.
„Du klingst wie meine Mutter."
„Wer, wenn nicht ich?"
„Musst du nicht auf Arbeit?"
„Nur, wenn er noch da ist, wenn ich zurückkomme." Bockig zeige ich auf meinen neuen Lieblingstiger. Denn natürlich kenne ich unzählig viele Tiger und bin keine Achtzehnjährige, die in einer luxuriösen Mietwohnung lebt, noch dazu mit einem lebensmüden Künstler. Mika zuckt die Schultern. „Bestimmt, er ist ja nicht so groß. Ich schätze so drei bis vier Tage."
Das ist eine der Eigenschaften von Mikas Zeichnungen. Sie lösen sich je nach Größe irgendwann auf und außerdem sind sie leider nicht essbar. Ernsthaft, warum kann ich den Schokoriegel nicht essen, den er mir vor die Nase zaubert? Anfassen ja, aber bei irgendeiner Gewalteinwirkung (beispielsweise ein hungriges Lou) verschwinden sie. Allerdings können seine Zeichnungen sehr wohl Einfluss auf ihre Umwelt haben. Angenommen, ich schmeiße diesem Tiger einen Ball hin, er könnte ihn zerfetzen. Er könnte auch mich zerfetzen, aber so ist er nicht geschaffen. Ich weiß nicht, wie Mika ihnen Persönlichkeit gibt, sofern sie Lebewesen darstellen sollen. Er meint, sie seien an die Emotionen angepasst, die er während des Erschaffens empfindet. Woher er seine Fähigkeit hat, wissen wir auch nicht. Weder er noch ich.

Ich schnappe mir meinen eigenen Zauberstab, der deutlich langweiliger ist, und schaue auf das Display, das augenblicklich darüber erscheint. „Oha, schon so spät."
„Ich sag ja, du musst los."

Augenblicklich schnappe ich mir meine Tasche vom Sofa und lasse das Display wieder verschwinden. „Okay, Kleiner. Du weißt ja, wie es läuft, während ich weg bin."
„Lou, ich bin dein Mitbewohner und nicht dein Hundewelpe."
„Uh, erschaffst du mir bitte einen Welpen?", frage ich im Gehen, obwohl sich diese Bitte sehr mit meinen eigentlichen Ansichten streitet. Ich habe doch was dagegen, wenn Mika seine Gabe nutzt. Aber... Hundewelpen sind so unfassbar niedlich!
„Und wehe du gehst wieder auf die Bahngleise.", mahne ich, während mein Kopf sich schon damit abgefunden hat, baldig einen kleinen schillernden Dalmatiner auf der Bettdecke zu finden.
„Wenn du mir jetzt noch sagst, dass ich die Sky Area nicht verlassen soll, ziehe ich aus." Mika geht mir nach, die Hände in den Pullovertaschen vergraben. Geschäftig drehe ich mich zu ihm um. „Gut, dass du mich daran erinnerst. Nicht die Sky Area verlassen." Ich lächele. „Hör zu, Mika. Du bist ein leichtsinniges, idiotisches Etwas und dafür liebe ich dich. Aber du bist etwas Besonderes und das würde einigen in dieser Welt nicht gefallen."
„Ich bin ein Typ mit weißen Haaren, der nur Pullover trägt.", stellt er klar und sieht mich verständnislos an. Ich schüttele den Kopf, weil ich manchmal so fasziniert von ihm bin. „Du bist zu gut für diese Welt."
Ich tippe den Code ins Display und augenblicklich öffnet sich unsere Wohnungstür. „Verliebe dich nicht in eine Nixe, in einen Vampir oder eine Fee."
Ich kann förmlich spüren, wie Mika die Augen verdreht. „Die sind alle verrückt, da musst du mich nicht darauf hinweisen, denen nicht zu nahe zu kommen."
Wild gestikulierend drehe ich mich erneut zu meinem Mitbewohner um. „Weißt du was, verliebe dich einfach in gar nichts. Du bist zu jung dafür."
„Ich bin siebzehn."
„ZU JUNG!", entgegne ich albern. „Solange ich keinen Freund habe, kriegst du auch keinen. Oder eine Freundin."
Mika seufzt und gibt sich damit meinen dämlichen Forderungen hin. „Schon klar, Madame."
„Du bist ein Engel." Ich lächele verschmitzt und drücke ihn an mich. „Tschüss Kleiner." Er ist übrigens größer als ich. „Denk an den Hundewelpen; sag dem Kühlschrank, er soll mich an die Milch erinnern und schreib an Mom, dass wir sie besuchen wollen." Ich überprüfe meine Tasche auf fehlenden Inhalt und lasse mich von meinem Adoptivbruder sanft durch die Tür schieben.
„Lou, du musst den Zug schaffen."
Ich ziehe den Focus – wie ein Handy von früher nur anders – aus meiner Hose und lasse mir die Uhrzeit anzeigen. Halb acht, es ist noch machbar. Tatsächlich ist noch ein kurzer Besuch beim Bahnhofsbäcker drin.
„Wenn was ist, rufst du mich an." Streng drehe ich mich ihm zu und er nickt gutmütig. Mir ist bewusst, dass er ein großer Siebzehnjähriger ist, aber er ist auch ein traumatisierter Siebzehnjähriger mit einem Hang zu intensiven Albträumen. Ich habe ihn mit nach NL geschleppt, also kümmere ich mich hier auch um ihn.
Das letzte was ich sehe, ist Mikas schiefes Lächeln, ehe sich die Tür schließt. Hoffentlich machen der Tiger und er keinen Blödsinn.
Unser doch etwas luxuriöser Wohnkomplex ist ein halbrundes Konstrukt, das viel bläulich violettes Glas beinhaltet und meiner Meinung nach einfach nur cool aussieht. Auf drei Stockwerken sind nebeneinander längliche Wohnungen angelegt und alles was hätte eckig sein können ist wunderbar rundgelutscht. So wie eigentlich alles in der Sky Area.
Ich trete aus dem Fahrstuhl – ebenfalls viel Glas – und schlage den Weg über die grauen Steinplatten durch den Park ein. Okay, die sind tatsächlich quadratisch.
Hübsche Zierbäume begleiten meinen Weg, hier und da durchbrochen von goldenen Laternen. Dahinter fließen auf beiden Seiten zwei Bäche mit exotischen Fischen, die schließlich in einen kleinen Teich münden, über dem eine Steinbrücke gespannt ist. Ansonsten ist der Park mit Laubbäumen ausgestattet, in deren Zweigen kleine Lichterketten hängen. Ab und zu trifft man auf eine Lichtung, auf der abstrakte Kunst steht und ein paar Bänke, um die seltsamen Stahlgebilde zu verinnerlichen – oder um sich einfach einen Kuss von dem liebsten Wesen zu stehlen.
Das Ende des Parks ist mit einem fragilen Zaun gekennzeichnet, dessen Tor immer offensteht. Dahinter warten der geschäftige Fußweg und die Straße. Northern Light – kurz NL - ist eine große Stadt, die durch drei Dinge bekannt wurde.
1. Die technologische Forschung, die den Umweltschutz massiv vorantreibt (richtig tolle Sache)
2. Die drei Clans, die großen Einfluss auf die Regierung haben (find ich persönlich jetzt nicht so prickelnd)
3. Neutrales Gebiet zwischen den Ländern Mogaria und Xagim und damit Zufluchtsort für Kriegsgeflohene (find ich persönlich absolut mies – also die Sache mit dem Krieg)

Mika und ich sind aus der umliegenden Gegend, wo unsere Eltern in einer niedlichen Villa leben, einzig und allein wegen Punkt Nummer eins hierhergezogen. Das Forschungsinstitut, das der Stadt ihren Namen gegeben hat – Northern Light. Ich hatte mich dort mit wenig Hoffnung beworben und die Stelle auf magische Weise bekommen. Und da Mika und ich zusammenkleben wie Karamellbonbons habe ich ihn mitgebracht, auch wenn wir beide nicht so die Großstadtmenschen sind. Inzwischen haben wir uns allerdings gut eingelebt und haben es natürlich im Gegensatz zu anderen in unserem Alter ausgesprochen gut, weil man als Forschungsassistentin eben doch nicht wenig verdient und im Übrigen reiche Eltern hat. Ja, das klingt jetzt bestimmt richtig arrogant, aber ich versuche, mich von meinem Geld zu distanzieren. Mika und ich ernähren uns wie andere Jugendliche auch täglich von Fünf-Minuten-Terrinen und beanspruchen die Waschmaschine im Waschkeller – vor allem, weil wir zu faul sind, uns eine eigene zuzulegen.

Zu meinem Glück ist das Bahngebäude gleich in der Nähe, weshalb sich ein Auto für mich nicht lohnen würde. Im Allgemeinen werden hier die Züge bevorzugt, weil sie einzig und allein auf Northern Light Technologie basieren. Deswegen sehen sie auch aus wie aus einer anderen Welt mit ihrem silbrig schimmernden Äußeren und den surrealen Schienen, die in der Luft hängen wie wirkliche Nordlichter. Was auch faszinierend ist, ist, dass sie völlig lautlos sind und wie stumme Sternschnuppen durch den Himmel fahren.
Und wie schon gesagt: Zugfahren macht mir einfach Spaß.

Leider habe ich heute eine Nachtschicht erwischt. Am ehesten funktioniert die Entwicklung der Technologie bei Nacht so wie man echte Nordlichter auch nachts am besten sieht. Northern Light steckt quasi noch in den Kinderschuhen, aber ich bin mir sicher, wenn damit so gut wie jedes technische Gerät läuft, wird sich die ganze Stadt auf ein Nachtleben einstellen.
Das Bahngebäude ist groß und gläsern – so wie man die Sky Area eigentlich am besten beschreiben kann. Eigentlich liegt die Station über drei Stockwerken Einkaufshalle und einem Zahnarzt, der sich die Etage mit einer Physiotherapeutin teilt. Logisch, die Züge fahren im Himmel, da muss die Station auch etwas höher liegen.
Ich kaufe mir noch schnell beim Bäcker ein Croissant und einen Cappuccino, ehe ich in einen der fünf Fahrstühle steige und mich hinauf transportieren lasse. Erst dort fällt mir auf, dass ich mir zur Abendbrotzeit ein Frühstück gekauft habe. Egal, schmeckt trotzdem.

Der Bahnsteig ist grau und weiß gehalten. Entgegen dem Klischee sieht er aus wie aus der Autowaschanlage, so frisch glänzen die Scheiben miteinander um die Wette. Der Zug wartet bereits und der Anblick überwältigt mich immer noch ein wenig. Er sieht aus, als wäre er aus Eis gemacht in das pastellfarbene Schlieren gemeißelt wurden, die sich wie ein Organismus zu bewegen scheinen. Einfach atemberaubend, was die Northern Light-Technologie hervorbringt. Ich fühle mich, wie in einem Science-Fiction Film.

Im Zug ist alles recht dunkel gehalten. Dunkelblaue Sitze, dunkelblaue Vorhänge und schwarzer Boden. Ich lasse mich mit meinem Spätstück auf einen Platz fallen und freue mich auf zehn Minuten Aus-dem-Fenster gucken. In Ruhe und Frieden, ehe der Trubel im Institut losgeht. Tatsächlich habe ich nicht mal große Lust, eine fremde Person in ein Gespräch zu verwickeln. Meine Mentalität ist heute einfach nicht darauf abgestimmt, vor allem, weil ich heute Mittag spontan eine nette Unterhaltung mit unserer Nachbarin hatte. Das reicht.

Der Zug fährt gerade los, als plötzlich jemand auf den Sitz neben mir rauscht. So schnell, dass ich den Vorgang erstmal gar nicht so wirklich begreife. Im Grunde habe ich nichts dagegen, aber die Person hätte ruhig fragen oder mich wenigstens nicht so erschrecken können.
Ich schiele ein bisschen zur Seite, um einschätzen zu können, wie ruhig die Zugfahrt verlaufen wird. Schwarze Jeans, durchaus männliche Beine und ein dunkelgrüner Pullover, dessen Kapuze der Junge tief ins Gesicht gezogen hat. Wirkt auf mich nicht sehr sympathisch. Obwohl mein Gehirn mir einzureden versucht, ich würde den Pullover kennen. Genauso wie das Parfüm, das den Typ umgibt. Ganz suspekte Sache. Aber wenigstens sieht er nicht so aus, als wolle er ein amüsantes Gespräch mit mir führen und das ist mir nur recht. Beruhigt wandert mein Blick wieder aus dem Fenster, wo die Glaswände der Sky Area an mir vorüberziehen.

Bis mir im Augenwinkel etwas auffällt. Seine Hand. Schwebend über meinem Oberschenkel.
„Rühr mich ja nicht an, du Perverser!", schreie ich schon wutentbrannt und springe auf. Einige – oder besser gesagt alle – Fahrgäste schauen mich an. Ein paar davon sogar so, als würden sie das Opfer meines Zorns jeden Moment bereitwillig zerfleischen.
„Lou!", zischt angeblich bekannter Kapuzenpullover. „Ich bins."
Und dann offenbaren sich dunkelgrüne Augen im Schatten der Kapuze. Dunkelgrün wie nasses Frühlingslaub. Augen, in die ich nie wieder blicken wollte.
Drei Emotionen überkommen mich urplötzlich. Scham, weil ich dem Wagon jetzt signalisieren muss, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Immer noch Wut, weil er aufgetaucht ist. Und Freude, weil er aufgetaucht ist. Letzteres verdränge ich aber augenblicklich.
„Phoenix." Langsam lasse ich mich wieder auf den dunkelblauen Stoff sinken und schaue ihn dabei ganz misstrauisch an. Seine Miene ist wie immer undurchdringlich, hat aber ein bisschen Ähnlichkeit mit einer versteckten Bitte. Seine Augen verraten meistens, was er eigentlich fühlt und davon bin ich gerade nicht begeistert.
„Ernsthaft? Du lauerst mir auf dem Weg zur Arbeit auf?"
„Was soll ich denn machen, du reagierst weder auf Anrufe, noch auf Nachrichten!"
„Die meisten verstehen das als eindeutiges Zeichen, nicht mehr gesehen werden zu wollen.", kläre ich ihn augenverdrehend auf. Jetzt fällt mir auch wieder ein, woher ich den Pullover kenne. Ich hatte ihn an, während ich in Phoenix Bett lag. Zumindest bis er mich geküsst, sanft auf die Matratze gedrückt und-
Böses Lou! Erinnere dich, wir haben mit ihm Schluss gemacht!
„Super, jetzt entwickle ich wegen dir eine gespaltene Persönlichkeit. Schönen Dank auch", murre ich und werde daraufhin verständnislos von Phoenix angeschaut. Ich erwidere seinen Blick so gut es geht mit dem „Hau ab"- Ausdruck. Obwohl ich glaube, dass ich eher gekränkt aussehe, weil ich ihn sehr ungern verlassen habe. Aber bisher habe ich das wunderbar verdrängt und dachte, ich komme total damit klar. Was kommt er auch auf die Idee, hier einfach aufzutauchen.
„Clanmitglieder dürfen nicht in die Sky Area.", erinnere ich ihn lahm, obwohl ich weiß, dass ihn das null interessiert. Auch irgendwie süß, dass er das für mich riskiert.
Nein, ich bleibe stark. Schließlich bin ich kein Klischee und habe Mika erst vor einer halben Stunde gepredigt, dass wir keine Beziehungen eingehen – schon gar nicht mit Vampiren, Nixen oder Feen. Schlimm genug, dass ich ihn seit Monaten anlüge.
„Niemand weiß, dass ich hier bin.", sagt er mit dieser weichen Stimme, die mich durchaus mal verlegen gemacht hat und es jetzt auch könnte, wenn ich mich nicht wie verrückt dagegen wehren würde.
Phoenix hebt die Hand, als wolle er mir durchs Haar streichen.
„Rühr mich an und ich schrei gleich nochmal rum", knurre ich, um ihm endlich klar zu machen, dass er mich mal kreuzweise kann.
Enttäuscht macht er einen Rückzug und weicht meinem Blick aus. Unglücklich sitzen wir einige Sekunden nebeneinander und bedauern wahrscheinlich, wie alles gelaufen ist.
„Ich habe dir gesagt, warum es nicht funktionieren kann", murmle ich. „Ich will keine Beziehung führen, in der mein Partner und ich in Lebensgefahr schweben."
„Lou, du stellst das zu düster..."
„Nein Phoenix. Die Vamps sind dafür bekannt, Mörder zu sein. Allen voran dein Vater."
„Aber ich bin nicht so." Er beißt sich auf die Unterlippe, wobei seine markanten Eckzähne zum Vorschein kommen. Das Erkennungsmerkmals eines jeden Vamps, was sie zum grausamsten Clan von allen macht. Mit vier Jahren werden ihnen ihre richtigen Zähne entfernt, um sie durch stählerne Fänge zu ersetzen. Es folgen monatelang Schmerz und Eingewöhnung. Laut Phoenix überleben manche den Eingriff aufgrund von Entzündungen und mangelnder Möglichkeit für Behandlung sogar nicht.
Ich schüttle traurig den Kopf. „Ich weiß... Aber ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn er eine Gefahr für dich ist."
Phoenix starrt schweigend ins Leere.

„Du hast Recht." Er seufzt und jetzt bin ich diejenige, die die Hand hebt. Er schreit glücklicherweise nicht rum, sondern lässt es zu. Zumindest bis meine Finger an seiner Wange sind, dann zuckt er zurück.

Na wunderbar.

„Phoenix." Ich klinge wie eine Mutter, die ihr Kind tadelt. Und er konzentriert seinen Blick auf den Sitz vor uns wie ein Kind, das nicht zugeben will, dass es etwas angestellt hat.
Als ich die Kapuze von seinem Kopf schiebe, wehrt er sich nicht. Wäre ja auch affig, schließlich habe ich ihn schon oft mit Schrammen und blauen Flecken gesehen. Viel zu oft.
„Was war es diesmal?", seufze ich, obwohl ich ganz genau weiß, dass sein Vater keinen Grund braucht, um auf seine Söhne loszugehen. Kranker Psycho. Phoenix streicht sich durch das pechschwarze Haar und schaut an mir vorbei aus dem Fenster. „Nicht Dad – zumindest nicht direkt. Er hat eine arme Familie aus der Blood Area getrieben, nachdem er den Vater ermordet hat. Dessen Söhne wollten Rache und sind zufällig mir über den Weg gelaufen." Sein Fokus wandert wieder zu mir und er grinst schief. „Du solltest die mal sehen." Argwöhnisch neige ich den Kopf und signalisiere ihm ganz deutlich, wie wenig ich von seiner Erzählung halte. „Leben sie noch?"
Jetzt schleicht sich etwas Raubtierhaftes in seine Miene. Das Grün seiner Augen wird förmlich dunkler, weil er von meiner Frage zutiefst gekränkt ist. „Ja", knurrt er. „Du weißt genau, dass-"
„Ich weiß, wie du bei Schlägereien drauf bist!", fahre ich ihn an. In ganz seltenen Momenten frage ich mich wirklich, ob in diesem Jungen ein Killer steckt. Als Vampir gehört Mord und Blutgeld zur Routine. Darauf baut schließlich das Imperium seines eigenen Vaters, der Phoenix und seinem Bruder selbst schon so einiges Leid beigebracht hat.
Unzufrieden verdreht er die Augen und hebt beschwichtigend die Hände. „Sie sind beide am Leben. Ich habe ihnen nicht mal etwas gebrochen."
„Na, da bin ich aber stolz", erwidere ich spitz und spüre, wie der Zug langsam zum Stehen kommt. „Ich muss hier raus. Zieh dir die Kapuze über." Ohne das weiter auszuführen stehe ich auf, greife nach Phoenix Arm und ziehe ihn hinter mir her. Ziemlich schlecht gelaunt schleife ich ihn in eine der öffentlichen (und ebenfalls makellosen) Toiletten, wo ich ein Taschentuch mit Desinfektionsmittel einsprühe. Beides steht auf dem Waschbecken zur Verfügung.
„Schlag doch einfach mal zurück. Am besten mit einer Bratpfanne, die sollen praktisch sein, habe ich gehört."

Phoenix erwidert darauf nichts.

„Züge gibt es hier wie Sand am Meer", sage ich unvermittelt, während er sich ziemlich lässig an das Becken lehnt und die Arme kreuzt. „Es fährt bestimmt bald einer an die äußere Grenze der Sky Area. Du musst nur auf ihn warten."
„Was?", protestiert Phoenix. „Lou, ich bin wegen dir hier."
„Wirklich?" Perplex starre ich ihn an. „Ich dachte, du bist hier wegen der Pizza, die es auf der Siebenundneunzigsten gibt. Du musst zugeben, die ist echt gut." Ungerührt und so gut wie möglich seine Nähe ignorieren, tupfe ich die zerschrammte Wange ab.
„Wenn jemand meldet, dass du hier bist, bringt er dich um."
„Von mir aus."
„Sei nicht dumm." Ich verdrehe die Augen. „Ich habe mich nicht in dich verliebt, weil du dich wie ein idiotischer Schuljunge benimmst, der zum ersten Mal ein Mädchen sieht."
Phoenix grinst und schielt mich verschmitzt an. „Du gibst also zu, dass du dich in mich verliebt hast?"
„Nein, ich habe mit dir geschlafen, weil ich ehrenamtliche Prostituierte bin – natürlich habe ich mich in dich verliebt!" Ich seufze und gebe vor, ein Pflaster in meiner Tasche zu suchen. Ich weiß, dass keins drin ist. „So wie all die anderen Mädchen."
„Du bist das einzige Mädchen", erwidert Phoenix und umfasst meinen Arm. Ich halte stur meinen Blick auf den Inhalt meiner Tasche gerichtet. „Warte, das muss ich mir für meinen nächsten Groschenroman aufschreiben."
„Immer, wenn du nervös bist, schickst du deinen grottigen Humor vor." Phoenix zieht mich zu sich und schaut mich aus diesen verdammten, grünen Augen an.

Küss ihn, Lou!

Nein, Lou!

„Mein Humor ist einsame Spitze", protestiere ich, kaum zehn Zentimeter von seinen Lippen entfernt. Phoenix verringert den Abstand auf fünf Zentimeter. Mein verräterischer Körper wehrt sich keinen Stück. Ich will ihn küssen, in sein Haar fassen, all meine Vorsätze vergessen und hoffen, dass nicht ausgerechnet in den nächsten fünfzehn Minuten jemand in dieses Bad muss.

Ihr habt richtig gehört, fünfzehn Minuten.

Krass oder?

Aber Moment, ich hab keine Kondome dabei... und außerdem:
„Kennst du Romeo und Julia?", hauche ich, weil jede andere Lautstärke Phoenix voll zugedröhnt hätte. Er grinst siegessicher, weil er denkt, er hat mich gleich.
Ich lächle. „Ich hab keinen Bock, zu sterben."
Phoenix ist so perplex, dass er erstmal nur dasteht, während ich meine Tasche greife, mein blutendes Herz ignoriere und im Begriff bin, den Raum zu verlassen.
„Lou, lass uns doch-"
„Fahr nach Hause, Phoenix."

Es tut weh.

Es tut so verdammt weh.

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