6 // also doch ein hawaii-mädchen?

Plötzlich durchbricht Shalik die Stille und damit auch meine Gedanken, indem er fragt:

"Kommst du noch mit zu mir?"

Mein Herz klopft aufgeregt gegen meine Brust und ich bin für einen kurzen Moment nicht in der Lage zu antworten. Meine Gedanken überschlagen sich. Ist es nicht zu früh, zu diesem fremden Typen mit nachhause zu gehen? Will er mich flachlegen? Ist es das, worauf er aus ist? Und was denkt er von mir, wenn ich jetzt einfach mit ihm mitgehe? Denkt er dann, dass ich leicht zu haben bin?

"Tiara?", fragt Shalik irritiert.

"Hm?", antworte ich reflexartig und merke erst jetzt, dass ich ihm noch immer nicht geantwortet habe. "Ehm, ja, gerne. Sorry, ich war gerade in Gedanken", stammele ich peinlich berührt.

Es ist letztendlich mein Bauchgefühl, das entscheidet und vielleicht auch meine Naivität, aber irgendwie halte ich Shalik für einen guten Kerl.

..

Gut zwanzig Minuten später folge ich Shalik durch die weiße Wohnungstür in seine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung.

"Schau dich nicht so genau um, ich habe nicht aufgeräumt", warnt er mich grinsend, als ich mir im Flur die Turnschuhe von den Füßen streife und sie ordentlich neben seine stelle.

Shalik leint Chico ab, der erstmal zu seinem Wassernapf läuft, um einen großen Schluck zu trinken. Dann streift der große, tätowierte Mann seine Sweatshirtjacke von den Schultern und verweist mich mit einladender Geste in sein Wohnzimmer.

An der Wand steht eine große Couch in L-Form aus strukturiertem, schwarz-weißem Stoff, über der ein großes Bild auf Leinwand hängt. Es zeigt eine farblose Fotografie eines prächtigen Löwen.

Vor dem Sofa steht ein einfacher, schwarzer Tisch und an der gegenüberliegenden Wand befindet sich eine schwarze Wohnwand mit einem Flachbildfernseher in der Mitte. Auf dem grauen Laminat liegt ein schwarzer Hochflorteppich und die zwei Fenster sind mit Lamellenrollos behangen.

Die Einrichtung ist schlicht und einfach, aber völlig ausreichend und Shaliks Aussage, dass er nicht aufgeräumt hätte, war ziemlich überflüssig. Man kann vielleicht nicht vom Boden essen, aber die Wohnung ist nicht chaotisch und schon gar nicht dreckig.

"Setz dich doch", fordert Shalik mich auf und deutet auf die Couch. "Willst du was trinken?"

Ich schenke ihm ein dankbares Lächeln. "Gerne."

"Cola? Wasser?", zählt er auf. "Einfach Wasser."

Shalik verschwindet kurz, vermutlich in die Küche und kommt nach einigen Sekunden mit einem Glas Wasser und einem Glas Cola zurück, die er auf den niedrigen Wohnzimmertisch stellt.

Er setzt sich mit wenig Abstand neben mich und schaltet den Fernseher an. "Was hörst du so für Musik?"

"Alles querbeet, aber am liebsten Hip-Hop", antworte ich und trinke einen Schluck Mineralwasser.

"Gut, ich auch", antwortet Shalik und schaltet leise eine seiner Playlists im Hintergrund an, bevor er die Fernbedienung achtlos hinter sich auf die Couch schmeißt und sich wieder mir zuwendet. Chico hat es sich indes in seinem dunkelgrauen Körbchen bequem gemacht und die Augen geschlossen.

"Hast du heute schon was gegessen?", erkundigt Shalik sich fürsorglich und nimmt wieder meine Hand. Sanft verschränkt er seine Finger mit meinen und sieht mich abwartend an. "Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich habe lange geschlafen und dann direkt dieses beschissene Gespräch mit meinen Eltern gehabt. Danach ist mir ehrlich gesagt der Appetit vergangen."

"Das glaube ich dir. Willst du denn was essen? Ich habe dir versprochen, dass ich einen Hund zum Kuscheln habe und uns Pizza bestelle", wiederholt er seine Worte aus der ersten Nachricht, die er mir vor wenigen Tagen bei Tinder geschickt hat. "Das eine Versprechen habe ich gehalten, das andere ist noch offen", erinnert er mich grinsend.

Ich bin ihm dankbar, dass er mich nicht dazu nötigen will, ihm zu offenbaren, was heute bei uns zuhause passiert ist. Stattdessen bemüht er sich, mich abzulenken und zum Lachen zu bringen, wie er es mir angeboten hat und es funktioniert.

"Ich weiß nicht, ich habe irgendwie keinen Hunger", antworte ich ehrlich.

"Vielleicht kommt der Hunger beim Essen?", gibt er zu bedenken und streicht mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Seine Berührungen hinterlassen ein angenehmes Kribbeln auf meiner Haut.

Ich überlege kurz. "Du hast Recht. Ich glaube eine Pizza Hawaii könnte meine Meinung ändern", necke ich ihn frech grinsend.

Angeekelt verzieht er sein markantes Gesicht und bringt mich damit zum Lachen. "Du bist also doch ein Hawaii-Mädchen? Hast du mich nur belogen?", fragt er theatralisch und zieht seine Hand dramatisch zurück.

Ich greife wieder nach ihr und halte sie zwischen meinen beiden Händen fest. "War nur ein Scherz", beruhige ich ihn amüsiert. "Das hoffe ich für dich", erwidert Shalik ernst. "Also, willst du was essen? Ich bestelle uns was. Ich habe auch Hunger", redet er auf mich ein.

"Okay, dann lass uns was bestellen. Ich nehme aber nur eine kleine Pizza und wenn ich nicht mehr mag, musst du die aufessen, ja?"

Shalik zieht sein Smartphone wortlos aus seiner Hosentasche und öffnet Lieferando. Gezielt wählt er ein Restaurant aus und rutscht ein bisschen näher zu mir. "Such dir was aus", fordert er und drückt mir ganz selbstverständlich sein schwarzes iPhone in die Hand.

Einen kurzen Moment lang halte ich verwundert inne. Mikan hätte mir sein Handy niemals in die Hand gegeben. Für ihn war das immer ein riesiges Problem. Er hatte nicht nur sein Display, sondern sogar die einzelnen Apps mit einem Passwort gesperrt. Damals habe ich versucht mir sein Verhalten schön zu reden, doch heute bin ich desillusioniert. Mir ist klar, dass sein Handy nur besser als Fort Knox gesichert war, weil er was zu verheimlichen hatte. Er hatte Angst, dass ich auf seine zahlreichen Sidechicks stoße.

"Was ist los?", fragt Shalik und mustert mich aufmerksam von der Seite.

"Ich habe nur darüber nachgedacht, dass mein Exfreund mich niemals an sein Handy gelassen hätte", antworte ich ehrlich. "Und du drückst mir deins einfach so in Hand."

"Klar, wieso auch nicht?", entgegnet Shalik schulterzuckend.

"Er hat sein Handy von mit ferngehalten, weil er mich am laufenden Band betrogen hat", antworte ich nüchtern und schnaube verbittert auf.

Shalik richtet sich ein wenig auf und schiebt meinen Kopf an meinem Kinn zu sich herum. Er schenkt mir einen tiefen Blick und für den Bruchteil eines Augenblickes verliere ich mich in seinen schönen grünen Augen, die so warm leuchten.

"Fremdgehen ist ein Zeichen von niedrigem Selbstbewusstsein und Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben. Das hat nichts mit dir zu tun, ich hoffe das weißt du, sondern nur mit ihm. Wenn er so dumm ist, eine Frau zu hintergehen die ihn liebt, dann kannst du froh sein, ihn los zu sein."

Gerührt drücke ich seine Hand. "Danke, das ist wirklich lieb von dir, Shalik."

Shalik hat mit seinen Worten meinen wunden Punkt getroffen und ohne es zu wissen, hat er mir zugleich Antworten auf einige unausgesprochene Fragen geliefert, die mich wegen meines Vaters seit Stunden quälen.

"Ich würde sowas nie machen, das kannst du mir glauben, ich habe nichts zu verheimlichen. Du hast mein Handy in der Hand, schau nach. Lies dir die Verläufe durch, guck dir meine Kontakte an."

"Quatsch, ich will das doch gar nicht", revidiere ich sofort und sehe ihn aus großen Augen an. Wir treffen uns zum ersten Mal, er ist mir rein gar nichts schuldig. Trotzdem beeindruckt mich seine Offenheit.

"Und falls du es doch mal willst, kannst du es tun", erklärt er mit Nachdruck. Langsam hebt er seine Hand und streicht mir wie in Zeitlupe eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hat. Ich halte die Luft an und sehe Shalik aus großen Augen an. Seine Fingerspitzen streifen meine Wange und hinterlassen ein leichtes Brennen auf meiner Haut.

Mein Herz klopft wie verrückt, meine Finger werden feucht und die Luft zwischen uns ist zum Zerreißen gespannt. Shaliks Blick ist so intensiv, dass es sich fast anfühlt, als würde er direkt in meine Seele blicken. Wäre das Leben eine kitschige RomCom, hätte jetzt mit Sicherheit unser erster Kuss gefolgt, doch zu meiner Enttäuschung löst Shalik sich von mir und sagt lächelnd: "Jetzt such dir was zu essen aus."

Ich konzentriere mich wieder auf sein Handy und klicke mich durch die Speisekarte der Pizzeria. "Was nimmst du denn?", frage ich beiläufig. "Thunfischpizza", antwortet Shalik wie aus der Pistole geschossen. "Und du?"

Ich füge meine Auswahl zum Warenkorb hinzu und reiche ihm sein Handy zurück. "Ich nehme eine mit Spinat." Auch Shalik sucht seine Pizza raus und schickt die Bestellung ab.

Wir unterhalten uns ein wenig über unsere Schulzeit, die Arbeit und unsere Hobbies, während wir auf das Essen warten. Shalik geht ins Fitnessstudio, manchmal zum Boxen und ich erzähle ihm, dass ich schon seit meiner frühen Jugend Kunstturnen mache. Wir gehen beide gerne feiern und auch sonst sind wir auf einer Wellenlänge.

Mit Shalik ist alles so einfach und das Gespräch fließt völlig von alleine. Keine unangenehme Stille, keine langen Pausen. Uns gehen die Gesprächsthemen nicht aus und ich muss nie darüber nachdenken, was ich wie sage. Shalik spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist aber genauso wie er austeilen kann, kann er auch einstecken.

"Es gibt Essen", verkündet Shalik, als er eine gute halbe Stunde später mit den zwei Pizzakartons ins Wohnzimmer kommt. "Das riecht richtig gut", lobe ich. "Was bekommst du von mir?"

Shalik winkt ab. "Ich habe dich eingeladen", erwidert er streng. "Du brauchst gar nichts zu bezahlen."

Ich bedanke mich und wir verspeisen die köstliche Pizza. Shalik schafft mühelos seine gesamte Pizza, während ich immerhin die Hälfte der meinen esse.

"Möchtest du nicht mehr?", fragt er fürsorglich und lehnt sich zurück gegen die Sofalehne. Ich schüttele den Kopf. "Normalerweise bin ich ein guter Esser. Du brauchst dir keine Sorgen machen, dass wir zu MC Donalds gehen und ich nur einen Gartensalat mit Balsamico-Dressing bestelle, ich habe einfach nur keinen Hunger heute", versichere ich grinsend.

Shalik streckt seine Hand nach mir aus und als ich sie nehme, zieht er mich behutsam an sich. Ich lehne meinen Kopf gegen seine Brust und inhaliere seinen süßlichen Duft. Er legt seinen Arm schützend um meine Schultern und vergräbt seine Nase in meinen Haaren.

"Tut mir leid, dass dein Tag so mies gelaufen ist", sagt er leise und streichelt leicht über meinen Oberarm. Ich schließe die Augen und genieße seine Nähe und die Zärtlichkeit.

"Du hast den Tag ein bisschen besser gemacht", gebe ich zu. "Danke."

"Freut mich, wenn ich dir helfen konnte. Wollen wir noch einen Film schauen oder so?", bietet er an.

Ich stimme zu und suche mit Shalik gemeinsam eine amerikanische Komödie aus. Ich kuschle mich noch enger an ihn und lasse ihn meinen Arm streicheln oder meinen Kopf kraulen, während meine Augen immer schwerer werden. Ich versuche mich noch dagegen zu wehren, doch sinke schon bald ungewollt in einen leichten Schlaf.

...

"Tiara", ertönt eine sanfte Stimme. Schwerfällig schlage ich die Augen auf und sehe geradewegs in Shaliks schönes Gesicht. "Komm, ich bringe dich rüber ins Schlafzimmer. Du kannst nicht auf der Couch schlafen, das ist viel zu unbequem."

Erschrocken weiten sich meine Augen. "Bin ich eingeschlafen?", frage ich panisch.

Shalik nickt lächelnd. "Oh Gott, das tut mir so leid. Ich hatte letzte Nacht viel zu wenig Schlaf", rechtfertige ich mich beschämt.

"Ist doch alles okay. Komm mit rüber. Ich überlasse dir mein Bett und schlafe auf der Couch", bietet er an.

Mir wird warm ums Herz bei so viel Selbstlosigkeit und Fürsorge. Langsam richte ich mich auf, reibe mir vorsichtig über die Augen, um mein Make Up nicht zu verschmieren, und strecke mich einmal. "Das ist wirklich süß von dir, aber ich werde langsam abhauen."

"Du bist total übermüdet, so solltest du nicht mit dem Auto fahren", gibt er zu bedenken.

Ein schiefes Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. "Suchst du etwa einen Grund, um mich hier zu halten?", frage ich mit hochgezogener Augenbraue. Shalik lacht. "Dann hätte ich dich einfach schlafen lassen. Ich meine es nur gut mit dir", betont er. "Und das weiß ich wirklich zu schätzen, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bin schon groß und schaffe das."

Ich erhebe mich von der Couch und ziehe damit Chicos Aufmerksamkeit auf mich, der mindestens genauso verschlafen wie ich seinen breiten Kopf vom Rand des Körbchens hebt.

Shalik folgt mir in den Flur und reicht mir meine Jacke, nachdem ich in meine Sneakers geschlüpft bin. "Danke für den schönen Abend, Shalik", sage ich ehrlich und lege meinen Kopf ein wenig schief. Der große, muskulöse Mann zieht mich erneut in seine Arme. "Ich danke dir", antwortet er.

Dann hebt er meinen Kopf leicht an und sieht mir tief in die Augen. Er überbrückt die letzte Distanz zwischen uns und drückt seine weichen Lippen gefühlvoll auf meine Stirn. "Fahr vorsichtig und schreib mir, wenn du zuhause bist, okay?"

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Meine Lieben,

Was sagt ihr zu dem weiteren Verlauf? Sind die beiden nicht süß miteinander?

Wärt ihr an Tiaras Stelle bei Shalik geblieben oder auch lieber nachhause gefahren?

Und was sagt ihr dazu, dass (noch) kein Kuss gefallen ist?

A.

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