57 // keine zukunft

Ziyad stößt nach einigen Minuten besorgt zu mir. "Alles okay, Tiara?", fragt er besorgt. Ich bringe kein Wort raus, kann nur stumm nicken.

"Ich kann mir vorstellen, dass du das alles erstmal verdauen musst. Aber Shalik wurde freigesprochen, er kommt wieder nachhause und jetzt wird alles gut", redet er auf mich ein und nimmt dann neben mir auf der Mauer Platz.

Schweigend warten wir vor dem Gerichtsgebäude auf Shalik, als der schlanke Libanese plötzlich auf sein Handy schaut und mich dann beunruhigt ansieht.

"Scheiße Tiara, mein Parkticket ist seit 'ner halben Stunde abgelaufen. Ich gehe mal lieber zum Wagen und parke den schnell um", informiert er mich und bevor ich richtig antworten kann, eilt er schon davon.

Ungeduldig tippe ich mit meinen Fingern auf die grauen Steine und starre immer wieder auf die schwere Tür des imposanten Gebäudes, hypnotisiere sie fast, bis Shalik endlich rauskommt.

Er hat die Hände in die Hosentaschen geschoben und verabschiedet sich noch kurz von seinem Anwalt, bevor er strahlend auf mich zukommt.

"Baby", begrüßt er mich lachend und schlingt seine tätowierten Arme um mich. "Ich habe doch gesagt, dass alles gut wird."

Ich lasse mich zwar von ihm umarmen, erwidere jedoch weder seine Umarmung noch den Kuss, den er mir auf die Lippen drückt.

Irritiert mustert er mich. Sein Gesicht verdunkelt sich und seine braunen Augen liegen voller Sorge. "Was ist los? Wieso bist du jetzt so komisch? Freust du dich denn gar nicht?"

"Was hast du denn von mir erwartet, Shalik? Hast du erwartet, dass ich jetzt Luftsprünge mache?", erwidere ich zynisch.

Er legt den Kopf schief und sieht mich eindringlich an. "Ja, irgendwie schon", erwidert er. "Es gibt keinen Grund für miese Stimmung. Es ist doch jetzt alles vorbei."

Ich lache auf. "Alles ist vorbei? Gar nichts ist vorbei."

"Spinnst du, Tiara? Die Verhandlung ist vorbei, ich wurde freigesprochen und wir können endlich in Ruhe leben."

"Die Verhandlung ist vorbei, ja, aber wie lange können wir denn in Ruhe leben? Bis zur nächsten Verhandlung? Wir wissen beide, wieso du freigesprochen wurdest. Nämlich nicht, weil du unschuldig bist", zische ich ihm zu.

Shalik schüttelt ungläubig den Kopf und steckt sich eine Zigarette an. "Ich verstehe gerade echt nicht, was falsch mit dir ist. Ich habe dir versprochen, dass sowas nie mehr vorkommt. Ich habe dir tausendmal versprochen, dass ich mich ändere."

"Richtig, du hast es mir tausendmal versprochen, aber es ist nie was passiert, im Gegenteil: es wurde immer schlimmer. Und wenn wir ehrlich sind, wissen wir doch beide, dass sich das nie ändern wird, Shalik, niemals, genauso, wie er der Richter gesagt hat. Das Problem ist durch deinen Freispruch nicht gelöst, das Problem haben wir permanent. Diese ganze Scheiße wird immer wieder von vorne losgehen."

"Das ist unfair, Tiara. Außerdem haben wir dieses Gespräch schon so oft geführt. Musst du jetzt wieder damit anfangen? Genau jetzt? Kannst du dich nicht einfach mit mir freuen?"

"Freuen?", lache ich auf. "Worüber denn freuen? Hast du eigentlich eine Ahnung, wie sehr mich deine ganze Scheiße belastet? Du bringst uns immer in Probleme. Wie soll das weitergehen? Weißt du überhaupt, was du mir seit Monaten abverlangst?"

Shalik zieht aufgebracht an seiner Zigarette und stößt den Rauch schnaubend aus. "Ich weiß, was ich dir angetan habe und es tut mir unendlich leid. Mir ist bewusst, dass ich tief in deiner Schuld stehe, aber es ist jetzt vorbei, Tiara. Ich mache das alles wieder gut und wir machen einen Neuanfang. Keine krummen Dinger mehr, keine Verhandlungen, kein Knast."

"Das sagst du immer, Shalik und ich glaube dir sogar, dass du dich ändern willst, aber langsam weiß ich nicht mehr, ob du dich überhaupt ändern kannst."

"Ich werde es dir zeigen", erklärt er selbstbewusst und schnippst seine abgebrannte Kippe weg. Er positioniert sich vor mir und sieht mir tief in die Augen. "Ich bin gerade echt enttäuscht von dir, Tia. Ich habe mehr von dir erwartet, nach meinem Freispruch."

Ungläubig schüttele ich den Kopf. Versteht er denn mein Problem überhaupt nicht?

"Ja, du wurdest freigesprochen, und vielleicht hast du beim nächsten Mal auch nochmal Glück, aber irgendwann geht das nicht mehr gut und dann sitze ich wieder alleine Zuhause, vielleicht mit einem oder zwei kleinen Kindern, während du im Knast hockst für irgendeine Scheiße, weil du auch beim hundertsten Mal noch dachtest, du bist schlauer als die Bullen und es ist nur eine einmalige Sache." All die Wut, die sich in mir aufgestaut hat, sprudelt aus mir heraus, zischend und dampfend wie bei einem Geysir.

"Lass es doch erstmal auf dich zukommen. Lass die Zukunft auf dich zukommen", bittet Shalik mich verzweifelt.

Ich streiche mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und straffe meine Schultern.

"Ich weiß nicht, ob wir überhaupt eine Zukunft haben."

Ende.

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