55 // falsche schlange
"Ja?", beantworte ich Amirs Anruf nach kurzem Zögern.
Was er wohl von mir will?
"Hi Tiara, alles gut?", tönt seine vertraute Stimme aus dem Hörer.
Ich ziehe die Handbremse an und schalte den Motor aus.
"Ja, soweit so gut und bei dir?"
Ich bin ziemlich durch den Wind, doch Amir ist nicht der Mensch, mit dem ich mein Gefühlschaos jetzt besprechen will.
Wenn er erfährt, dass Shalik wieder im Knast sitzt, wird er seine Freude darüber, Recht gehabt zu haben, wohl kaum unterdrücken können und das kann ich gerade echt nicht gebrauchen.
"Geht so. Ich habe mich gewundert, dass ich nach unserem Treffen gar nichts mehr von dir gehört habe. Ich habe dir am nächsten Tag geschrieben, aber von dir kam nichts zurück. Ich wollte nur mal nachhören, ob bei dir alles okay ist."
"Es geht. Waren turbulente Tage", antworte ich kurz angebunden.
"Hm okay. Was machst du gerade so?"
Ich seufze lautlos und streiche mir eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. "Hör zu, Amir", beginne ich und überlege, wie ich meine folgende Aussage am schonendsten und respektvollsten formuliere, auch wenn jetzt kein netter Move von mir kommt. "Ich habe mich mit Shalik ausgesprochen und wir geben der ganzen Sache noch eine zweite Chance. Es tut mir leid, aber ich habe ihm mit unserem Treffen sehr vor den Kopf gestoßen und deshalb ist es wohl besser, wenn wir den Kontakt zwischen uns wieder auf Eis legen."
Stille.
"Du verarschst mich, oder?", fragt Amir ungläubig.
"Nein", gebe ich bestimmt zurück, räuspere mich kurz und steige aus meinem Wagen, um nach oben in die Wohnung zu gehen.
"Wow, echt. Du bist so eine falsche Schlange, Tiara. Dass du mich damals wegen Shalik hast sitzen lassen tat schon weh, aber dass du das gleiche jetzt nochmal machst, hätte ich nicht von dir erwartet. Ich wollte dir wirklich helfen und für dich da sein, aber anscheinend war ich für dich einfach nur ein Lückenfüller, sonst nichts. Danke dir."
Ich will etwas erwidern, mich rechtfertigen oder zumindest nochmal entschuldigen, aber Amir legt einfach auf.
Ich schließe kurz die Augen, atme tief durch und schließe die Tür auf. Ich beschließe für mich selbst, so zu tun, als wäre das nie passiert und nicht weiter darüber nachzudenken und mich damit zu belasten.
...
Die nächsten Tage vergehen einer wie der andere. Ich gehe arbeiten, einkaufen, verrichte die wenige Hausarbeit, die anfällt und gehe mit Chico joggen. Genau zwei Wochen nach dem ersten Besuchstermin mache ich mir den zweiten und freue mich schon darauf, als ich erneut einen erfreulichen Brief aus dem Briefkasten fische.
Allein der gräuliche Umschlag lässt schon mein Herz höher schlagen, als ich ihn entdecke. Trotzdem reiße ich ihn dieses Mal nicht gleich am Briefkasten auf, sondern hechte schnell die Treppen hoch, schmeiße mich noch mit Schuhen an den Füßen atemlos auf die Couch und ziehe den Brief auf dem Kuvert.
Hallo mein Herz
Ich hoffe es geht dir gut. Ich wollte dir eigentlich gleich am Montag nach dem Besuch einen Brief schreiben, aber ehrlich gesagt hatte ich die Kraft dazu nicht.
Ich wollte dir sagen wie schön du an dem Tag aussahst, wie ein Engel, MEIN Engel. Ich wollte dir so vieles sagen, aber ich habe alles vergessen, weil ich so aufgeregt war. Ich war sogar so aufgeregt, dass ich die Nacht davor kaum geschlafen habe.
Heute habe ich auch endlich deinen Brief bekommen. Ich habe mich so gefreut. Meine ganze Zelle riecht nach deinem Parfum und ich muss ehrlich sein: ich habe geheult wie ein Baby.
Dein Brief gibt mir so viel Kraft hier einfach nicht aufzugeben in diesem Zombie Zoo. Das ist einfach nicht zu vergleichen mit dem Jugendvollzug.
Ich wollte dir auch nochmal sagen, wie stolz ich auf dich bin, wie du die Zeit alleine meisterst, jeden Tag aufs Neue. Ich könnte das glaube ich nicht.
Ich hätte dich gestern so gerne in den Arm genommen, du sahst so schön aus und ich habe deinen Geruch so vermisst. Heute habe ich den nach fast drei Wochen endlich wieder in der Nase gehabt, das war so schön mein Engel, ich danke dir.
Ich hasse es, dass ich hier nicht jeden Tag was von dir höre. Ich vermisse deine Stimme jetzt schon wieder und die Gespräche mit dir.
Und natürlich denke ich jeden Abend um 21 Uhr ganz fest an dich, wie ich es dir versprochen habe.
Ich liebe dich über alles und ich zähle die Tage, bis wir endlich wieder zusammen sein können.
Unsere Körper mögen getrennt sein,
Aber unsere Herzen sind es nie.
Und jeden Abend sehen wir denselben Himmel, egal wo wir sind, und unsere Herzen sind eins.
Ewig Dein,
Ewig mein,
Ewig uns.
In Liebe,
Shalik.
Hätte ich gewusst, was für ein Poet mein Freund ist, hätte ich mir viel eher Liebesbriefe von ihm schreiben lassen.
Ich lese den Brief gleich ein zweites Mal, denn Shaliks schöne Worte gehen runter wie Öl. Auch wenn ich aktuell das Gefühl habe, mich durch die Distanz und den wenigen Kontakt emotional immer weiter von ihm zu entfernen, merke ich in Momenten wie diesen, dass ich ihn im Grunde meines Herzens sehr liebe.
Ich freue mich immer ihn zu sehen oder von ihm zu hören, doch ich gewöhne mich auch immer mehr an mein ruhiges Leben alleine. Oft gehen mir Gedanken durch den Kopf, wie es werden soll, wenn Shalik wieder draußen ist. Wird dann wirklich alles gut oder geht es so weiter wie vorher? Wird mein Leben, wenn ich es denn mit Shalik verbringe, von Kriminalität, Polizei und Knast geprägt sein oder werden wir ein friedliches Bilderbuchleben führen mit Job, Haus, Hund und Kindern?
Ich habe Shalik versprochen bis zu der Verhandlung zu ihm zu halten und ihm eine faire Chance zu geben, doch was danach passieren wird, kann ich noch nicht sagen. Ich weiß nur, dass es so nicht mehr weiter gehen kann. Die Hölle, durch die ich zuletzt gegangen bin, werde ich kein zweites Mal durchschreiten.
Nichtsdestotrotz halte ich erstmal zu ihm, auch wenn es vielleicht falsche Loyalität ist, aber versprochen ist versprochen.
Als ich gerade gedankenverloren meine Schuhe ausziehen will, klingelt mein Handy und eine mir unbekannte Nummer erscheint auf dem Display.
"Tiara Seidel", gehe ich höflich ans Handy, auch wenn ich meinen Namen eher wie eine Frage formuliere.
"Hallo Tiara, Omar Chahrour hier, ich bin Shaliks Anwalt. Ich habe deine Nummer von Ziyad bekommen. Ich wollte ein paar Sachen mit dir besprechen, hast du kurz Zeit?"
Mein Herz schlägt vor Aufregung schneller und ich setze mich hastig auf den Rand der Couch. "Ja, hallo Omar. Klar, ich habe Zeit", antworte ich mit meiner freundlichsten Telefonstimme.
"Ich habe jetzt den Verhandlungstermin für Shalik vom Gericht bekommen. Die Verhandlung wird schon am kommenden Montag stattfinden."
Am kommenden Montag.
In fünf Tagen.
"Das ist ja mal eine gute Nachricht", freue ich mich. "Und du gehst immer noch davon aus, dass Shalik freigesprochen wird?"
"Auf jeden Fall", erwidert Omar siegessicher. "Außer der Aussage von Dion gibt es nichts, was Shalik belastet."
"Es war also wirklich Dion, der ihn verpfiffen hat?", frage ich ungläubig.
"Ja leider. Diese Ratte. Den werde ich mir im Zeugenstand richtig vorknöpfen", knurrt Ziyads Cousin verärgert.
"Ich habe auch schon mit dem Opfer gesprochen. Du kannst dir sicher sein, dass alles geklärt ist", schiebt er bedeutungsschwanger hinterher.
Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen und eine bleierne Übelkeit steigt in mir hoch. Will der junge Anwalt mir damit etwa sagen, dass er das Opfer bestochen oder gar bedroht hat, damit dieser kurzerhand vergisst, dass auch Shalik an dem Betrug gegen ihn beteiligt war?
Fassungslos schüttele ich den Kopf. Wird Shalik denn nie lernen?
Die ganze Nummer widerspricht meinem Gerechtigkeitssinn zu einhundert Prozent. So sehr ich mir wünsche, dass Shalik nicht im Gefängnis bleiben muss, so sehr war ich bisher eigentlich vom Prinzip des Rechtsstaates überzeugt. Durch lügen und betrügen davon zu kommen, gönne ich niemandem.
Auch ein Shalik muss wie jeder andere die Konsequenzen seines Handelns tragen, wie unangenehm diese auch sein mögen.
"Bist du noch da?", holt Omars warme Stimme mich aus meinen Gedanken zurück. "Ja klar", antworte ich schnell. "Das klingt ja alles recht vielversprechend", lüge ich.
"Sage ich ja", grinst er hörbar. "Wir treffen uns um 8.30 Uhr am Gericht, die Verhandlung beginnt um 9 Uhr. Du willst ja wahrscheinlich dabei sein, nicht wahr?", überrumpelt er mich. "Klar", antworte ich leichthin, doch ob ich wirklich dabei sein will, weiß ich nicht.
Ich kann mir schöneres vorzustellen, als mich in ein Gerichtsverfahren zu setzen in dem Wissen, dass Shalik alles getan hat, was ihm vorgeworfen wird, und noch mehr und dass er zur Krönung noch das Opfer bestochen hat, um seinen Arsch zu retten.
Wie Omar mir versichert, wird Shalik Dion natürlich auch dieses Mal nicht verraten, auch wenn dieser ihn ans Messer geliefert hat, doch seine Ehre reicht nicht so weit, als dass er ein faires Verfahren mit Größe nehmen würde und sich dem Urteil stellen würde.
Ein Tornado von Gedanken stürmt auf mich ein und ich weiß nicht mehr wo oben und unten ist. Meine Ohren rauschen, meine Augen brennen und meine Kehle wird trocken.
Mir ist alles zu viel.
Ich kann das alles nicht mehr.
"Alles klar, Tiara, dann bis Montag", verabschiedet Omar sich fröhlich.
"Bis Montag", krächze ich mit belegter Stimme, lege auf und fange hemmungslos an zu weinen.
Ich drücke mir ein Sofakissen vor den Mund und schreie mir die Seele aus dem Leib. Ich schreie und heule und tobe, bis ich irgendwann kraftlos auf die Couch sinke und minutenlang regungslos an die Decke starre.
Ich hatte noch nie einen Nervenzusammenbruch, aber das hier hat sich gerade verdammt stark wie einer angefühlt.
Ich liebe Shalik und er hat mir nie was schlechtes getan, aber was, wenn er trotzdem einfach schlecht für mich ist?
Wenn das Liebe ist, wie weh muss Hass tun?
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Meine Lieben,
Was sagt ihr zu diesem Kapitel?
Könnt ihr Tiaras Einstellung nachvollziehen oder seid ihr wie Shalik der Meinung, dass man schauen muss, so unbeschadet wie möglich aus der Nummer rauszukommen, koste es was es wolle?
Und wird Tiara wohl zu der Verhandlung gehen?
A.
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