53 // klischee adé

Es vergehen noch fünf weitere Tage, bis ich endlich die langersehnte Besuchserlaubnis im Briefkasten habe. Zuletzt hab ich kaum noch daran geglaubt, dass sie kommt, umso größer ist die Erleichterung, als ich den wertvollen Wisch endlich in den Händen halte.

Sofort suche ich mir im Internet die Telefonnummer der Besuchsabteilung des Gefängnisses raus und tippe sie in mein Handy.

"Besuchsabteilung der JVA Essen, guten Tag", erklingt nach wenigen Sekunden am anderen Ende der Leitung.

Nervös reibe ich meine Hände aneinander. Berufsbedingt führe ich viele Telefonate mit fremden Menschen, doch in meinem Leben ist mir wohl keines bisher so schwer gefallen wie dieses hier.

"Ja guten Tag. Seidel mein Name. Ich rufe an weil.. ehm.. also, ich würde gerne einen Besuchstermin vereinbaren", stammele ich vor mich hin.

"Okay, wen wollen sie denn besuchen?", antwortet die freundliche, männliche Stimme.

"Meinen Freund", gebe ich siegessicher zurück.

"Hat ihr Freund auch einen Namen? Sonst wird es schwer, ihn im System zu finden", kommt geduldig zurück und ich bin mir sicher, dass der Beamte am anderen Ende der Leitung sich ein Lachen verkneifen muss.

"Ja, natürlich. Entschuldigen Sie bitte, ich bin ein bisschen aufgeregt. Shalik Bouaziz ist sein Name."

"Geben Sie mir bitte mal die ersten drei Buchstaben des Nachnamens."

"B-O-U, Berta Oskar Ulrich", buchstabiere ich souverän. Immerhin das kann ich.

"Bouaziz, Shalik, richtig?", hakt er nach.

"Genau", antworte ich erleichtert darüber, dass er Shalik offensichtlich in der Datenbank gefunden hat.

"Und Sie sind Frau..?"

"Seidel, Tiara. Wie man es spricht", antworte ich und tippele nervös von einem Bein aufs andere. "Ihr Geburtsdatum?" Auch das nenne ich dem Beamten fehlerfrei, ehe er mir mitteilt: "Herr Bouaziz befindet sich aktuell in U-Haft, das heißt, dass sie eine Besuchserlaubnis vom Gericht brauchen, um ihn besuchen zu können."

"Ich weiß, die habe ich bereits vorliegen."

"Ah, perfekt. Dann können wir gleich einen Termin ausmachen. Wann passt es Ihnen denn, Frau Seidel?"

"Ich nehme den nächsten Termin, den Sie frei haben", verkünde ich aufgeregt. Scheißegal, ob ich arbeiten muss oder Termine habe, ich sage alles ab, hauptsache ich kann Shalik wiedersehen.

"Ich weiß ja nicht, wie spontan sie sind, aber Einzelbesuche sind immer montags und donnerstags und diesen Donnerstag um 16.15 Uhr hätte ich noch was frei."

"Nehme ich", verkünde ich wie aus der Pistole geschossen und mein Herz schlägt aufgeregt gegen meine Brust. Nur noch drei Tage aushalten.

"Prima, dann trage ich Sie ein. Bitte seien Sie eine halbe Stunde vor dem Termin da, also um 15.45 Uhr. Sie müssen sich im Außenbereich über die Gegensprechanlage mit ihrer Besuchsnummer anmelden, das ist die 22 und dann werden Sie irgendwann aufgerufen. Waren Sie schonmal bei uns in der JVA oder ist das Ihr erster Besuch?"

"Nein, das ist mein erster Besuch", antworte ich zähneknirschend. Und hoffentlich auch mein letzter, füge ich in Gedanken hinzu.

"Okay, dann erkläre ich Ihnen kurz den Ablauf, damit Sie am Donnerstag Bescheid wissen und ein bisschen beruhigter an die Sache rangehen können", bietet er zuvorkommend an und ich nehme sein Angebot dankend an.

"Also, Sie warten im Außenbereich und werden dann von einem Kollegen oder einer Kollegin über die Gegensprechanlage reingerufen. Drinnen müssen Sie Ihren Personalausweis und die Besuchserlaubnis bei den Beamten abgeben und einen Besuchsschein ausfüllen. Dann bekommen Sie einen Spindschlüssel und können Ihre persönlichen Gegenstände einschließen, Ihre Handtasche, Ihre Jacke und sowas. Sie dürfen nichts mit reinnehmen für den Besuch, Uhren und Handys müssen auch eingeschlossen werden, Schmuck kann aber angelassen werden. Danach müssen Sie durch eine Schleuse und werden überprüft. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie in einen Warteraum, bis alle Besucher abgefertigt sind und Sie gemeinsam zum Besuch abgeholt werden."

"Okay, alles klar", antworte ich leicht überfordert von dem Schwall an neuen Informationen.

Ich habe zwar nicht alles verstanden, bin aber guter Dinge, dass das schon klappen wird und mir im Zweifelsfall die Beamten vor Ort auch weiterhelfen. Dankbar verabschiede ich mich von dem hilfsbereiten Beamten, bevor ich das Telefonat beende.

...

Die nächsten drei Tage warte ich ungeduldig auf den langersehnten Termin am Donnerstag und meine Gedanken kreisen dauerhaft um nichts anderes.

Ein wenig Ablenkung finde ich lediglich in der Suche nach dem geeigneten Outfit. Ich zerbreche mir immer wieder den Kopf darüber, was ich am besten zu diesem Anlass anziehen kann, schlimmer, als vor unserem ersten Date.

Ich will schön aussehen und Shalik gefallen, weiß jedoch auch, dass es ihm nicht gefallen würde, wenn ich zu aufreizend vor einer Horde Mitinsassen und Wärter auflaufe.

Immer wieder lege ich mir Klamotten zurecht, probiere verschiedene Kombinationen an und verwerfe sie dann doch wieder, weil mich irgendwas daran stört.

Mittwochabend bin ich schon fast verzweifelt, weil ich noch immer nicht weiß, was ich anziehen soll, doch letztendlich regelt es die sprichwörtliche Nacht darüber schlafen. Donnerstagmorgen habe ich dann nämlich eine spontane Eingebung, die mir zusagt und bei der ich bis zum Nachmittag auch bleibe.

Aufgeregt mache ich mich schon viel zu früh fertig. Ich locke meine Haare, schminke mich und ziehe mir eine Skinnyjeans, ein weißes Babydoll-Top und darüber einen bunt gemusterten Kimono aus leichtem Chiffon an.

Die JVA Essen liegt gleich hinter dem Gerichtsgebäude des Amts- und Landesgerichts in einer Seitenstraße. Auch wenn die Parkplatzsuche sich hier schwierig gestaltet und ich wohlwissend genügend Zeit eingeplant habe, ist das Glück auf meiner Seite und ich finde beim ersten Anlauf eine freie Parklücke vor der Tür.

Der imposante Gefängnis-Komplex erstreckt sich an der Straße entlang über mehrere hundert Meter. Die ursprünglich cremefarbene Fassade ist in die Jahre gekommen und wurde kläglich versucht, durch hellblaue Elemente aufzufrischen. Alle Fenster sind vergittert, was mir beim bloßen Anblick direkt ein beklemmendes Gefühl gibt.

Rechts von dem Gebäude ist der außenliegende Wartebereich, der auf den ersten Blick an eine Bushaltestelle erinnert. Es ist gerade mal 15.30 Uhr und ich bin weit und breit der einzige Mensch auf der Straße.

Die Nervosität steckt mir tief in den Knochen, als ich auf die Klingel drücke. Es ertönt ein Tuten, bis irgendwann eine Stimme durch den Lautsprecher der Gegensprechanlage dringt: "Ja hallo?"

"Guten Tag, mein Name ist Tiara Seidel und ich habe um 16.15 Uhr einen Besuchstermin."

"Haben sie die Besuchsnummer für mich?", hakt die männliche Stimme auf der anderen Seite nach.

"22", antworte ich knapp und schaue mich schnell um, ob mich jemand beobachtet, doch die Straße ist nach wie vor leer.

"Alles klar, habe ich gefunden. Warten Sie bitte noch, wir rufen Sie gleich auf."

"Danke", antworte ich noch, dann knackt es in der Leitung.

Ich nehme auf einem der blauen Metallsitze ganz am Rand Platz und fühle mich so scheußlich, dass mir plötzlich ganz übel wird. Ich fühle mich wie auf dem Präsentierteller, genau an der Straße sitzend, sodass jeder Vorbeifahrende gleich weiß, mit welcher Intention ich hier sitze.

Was, wenn mich jemand erkennt?

Außerdem kann ich nicht einschätzen, wie Shalik gleich auf mich reagiert. Wird er sich uneingeschränkt freuen, mich zu sehen? Oder wird seine Stimmung schlecht sein, weil er sich in der Zelle tagelang die wildesten Sachen eingeredet hat und ihn die Angst, von mir verlassen zu werden, beinahe in den Wahnsinn treibt?

Ich versuche, mich mit meinem Handy abzulenken, swipe durch Instagram Stories und Beiträge, doch mein Kopf ist randvoll mit anderen Dingen, sodass nichts des Contents bei mir hängen bleibt.

Nach einiger Zeit kommt eine weitere, ältere Frau dazu und noch etwas später ein junger Mann. Die beiden wirken deutlich souveräner und ruhiger als ich, weshalb ich davon ausgehe, dass sie schon das ein oder andere Mal hier waren.

Es überrascht mich doch ein wenig, dass die beiden ganz normal aussehen. Anständige Leute aus der Mittelschicht, vernünftig gekleidet und höflich grüßend. Ich kann selbst nicht genau sagen, was ich erwartet habe, das jedoch nicht. Klischee adé.

Als dann plötzlich die fremde Stimme erneut durch die Gegensprechanlage und auffordert: "Dann darf die Besuchsnummer 22 zuerst reinkommen", erschrecke ich kurz und springe dann sofort auf.

Mit weichen Knien laufe ich ein Stück am Gebäude entlang, bis ich erst an zwei verspiegelten Fenstern vorbeilaufe und dann an eine hellblaue, schwere Stahltür gelange, bei der gleich ein Türöffner summt, als ich sie erreiche.

Ich ziehe die schwere Tür auf und blicke in die freundlichen Gesichter von zwei Justizvollzugsbeamten in ihren dunkelblauen Uniformen. Ein junger Mann und eine hübsche, blonde Frau stehen wir ein Empfangskommittee bereit, rechts hinter einer Art Rezeption sitzen zwei weitere Beamte hinter ihren Rechnern.

"Guten Tag, ich bin hier um meinen Freund Shalik Bouaziz zu besuchen", teile ich unsicher mit.

"Okay, dann legen sie bitte Ihren Ausweis und die Besuchserlaubnis hier rein", teilt mir die junge Beamtin mit und zeigt auf eine Art Durchreiche. Ich tue wie mir befohlen und bekomme dann einen Kugelschreiber und ein Formular gereicht, in welches ich sowohl Shaliks als auch meinen Namen und den Anlass meines Aufenthaltes in der JVA, also den Besuch eintrage.

Fragend sehe ich die junge Frau an. "Tut mir leid, ich bin das erste Mal hier. Was muss ich jetzt machen?", entschuldige ich mich kleinlaut.

"Alles gut. Den Zettel halten Sie fest und geben ihn gleich dem Beamten, der Sie zum Besuch abholt. Hier haben Sie einen Schlüssel zum Spind Nummer 10, wo Sie ihre persönlichen Gegenstände einschließen können. Handy und Uhr müssen eingeschlossen werden und die Hosentaschen komplett geleert. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie wieder hier vorne zu uns und dann machen wir alles weitere."

Hastig packe ich meine Handtasche und mein Handy in den mir zugeteilten Spind auf der linken Seite und verschließe die Tür mit dem Schlüssel.

"Jetzt legen Sie den Schlüssel einmal hier ab und gehen durch den Metalldetektor", weist sie mich an. Zu meiner Erleichterung piept es nicht und der silberne Bogen leuchtet grün auf.

"Nun bitte umdrehen, mit dem Rücken zu mir, ich muss Sie abtasten."

Ich verharre in der Bewegung und halte kurz inne. Ungläubig sehe ich der hübschen, uniformierten Beamten in die blauen Augen. Sie muss mich abtasten? Verarscht Sie mich?

Mit einer nickenden Kopfbewegung weist sie mich an ihrer Anweisung Folge zu leisten.

Ich löse mich aus meiner Schockstarre und drehe ihr den Rücken zu. "Arme zu den Seiten ausstrecken", erklärt sie bestimmt.

Sie fährt mit ihren Händen, die in dünnen, hellblauen Einweg-Handschuhen stecken, über meine Arme, innen und außen, unter den Achseln entlang über meine Flanken. Sie streicht über meine Hosentaschen und fährt dann auf beiden Seiten zeitgleich meine Beine entlang.

Es ist mir ziemlich unangenehm, hier wie eine Schmugglerin untersucht zu werden. Ich dachte, der Metalldetektor wäre die einzige Art, auf die ich gefilzt werden würde. Dass ich mich tatsächlich einer Leibesvisitation unterziehen muss, ist mir mehr als unangenehm.

"Okay", sagt sie nur knapp, als sie endlich fertig ist. "Bitte nehmen Sie den Zettel und den Spindschlüssel mit und warten Sie dort im Aufenthaltsraum." Die junge Frau zeigt auf einen Glaskasten mit einigen Tischen und Stühlen, der abermals hinter einer schweren Metalltür liegt. Auch diese kann nur durch einen Beamten geöffnet werden, sodass der Türöffner schon laut brummt, als ich an den Türknauf fasse.

Ganz alleine nehme ich auf einem der Stühle Platz und lasse meinen Blick schweifen. Der Raum hat etwa zehn Quadratmeter mit beigefarbenen Wänden, die einige selbstgemalte Bilder auf Leinwänden schmücken, welche vermutlich von Insassen gemalt wurden. In einer Ecke steht ein Wickeltisch und der Gedanke, dass es überhaupt Bedarf dafür gibt, lässt die Übelkeit in mir aufsteigen. Kein Baby geschweigedenn Kleinkind sollte seinen Papa im Knast besuchen müssen.

Ich schaue auf die Wanduhr in der Hoffnung, dass ich nicht mehr allzu lange warten muss, doch bemerke, dass sie steht. Leise seufze ich auf. Keine Armbanduhr, kein Handy. Die Zeit hier alleine in diesem Raum scheint still zu stehen und ich habe nicht mal die Möglichkeit, mich irgendwie zu beschäftigen.

Nach ungefähr fünf Minuten stößt die ältere Frau zu mir in den Warteraum. Ihr blondes Haar zieren bereits einige feine, graue Strähnen und die blauen Augen sind von deinen Lachfalten gerahmt. Ich schenke ihr kurz ein Lächeln und trommele dann wieder unruhig mit meinen Fingern auf meiner Jeanshose herum.

Wen sie hier wohl besucht? Ihren Sohn? Ihren Ehemann?

"Das ist Ihr erster Besuch, nicht wahr?", spricht Sie mich vorsichtig und mit sanfter Stimme an. Ich hebe den Kopf und nicke entschuldigend. "Was hat mich verraten? Die Unwissenheit oder die Nervosität?", scherze ich.

"Beides. Es wird von Mal zu Mal besser, glauben Sie mir. Man gewöhnt sich an alles."

Ich nicke zustimmend, auch wenn ich hoffe, dass ich mich an diese Besuche nicht gewöhnen muss. Ich hoffe einfach, dass Shalik bald wieder draußen ist und es bis an den Rest seines Lebens auch bleibt.

Nachdem auch der dritte Besucher irgendwann endlich den Warteraum betritt, dauert es noch weitere, quälend lange Minuten, bis endlich die zweite Metalltür des Raumes von außen geöffnet wird und ein kräftiger Beamter mittleren Alters zum Vorschein kommt. "Dann dürfen die Besucher einmal mitkommen", ruft er freundlich in den Raum.

Generell sind alle Justizvollzugsbeamten hier, die mir bisher sowohl telefonisch als auch heute in persona begegnet sind, sehr nett. Nach den negativen Begegnungen, die ich zuletzt mit Polizeibeamten gemacht habe, hätte ich das ehrlicherweise nicht erwartet und eher damit gerechnet, als Freundin eines "Verbrechers" wieder von oben herab behandelt zu werden.

Ich lasse den anderen beiden, offensichtlich erfahreneren Besuchern den Vortritt, gebe dem Beamten meinen Besuchsschein und folge dem jungen Mann in beiger Stoffhose und weißem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln erst eine, und dann eine weitere halb gewendelte Treppe mit Zwischenpodest hinauf.

Das letzte Treppenstück ist kurz und steil. Auf der linken Seite ist eine Art Aufsichtsraum, der durch große Glasscheiben einen guten Blick auf den gesamten Besuchsraum bietet. Hinter der offenen Tür sitzen zwei diensthabende Beamte und grüßen fröhlich.

Mein Herz klopft immer schneller. Nur noch wenige Sekunden. Der Mann vor mir verdeckt mir die Sicht in den Raum und erst, als er endlich zur Seite tritt und auf einen der Tische zugeht, sehe ich ihn endlich.

Shalik.

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Meine Lieben,

Da kann man wirklich nachvollziehen, dass Tiara das alles sehr unangenehm ist, nicht wahr?

Wer von euch war schonmal in einer JVA zum Besuch?

Und wie wird Shalik auf Tiara reagieren?

A.

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