51 // zu schön um wahr zu sein

Als Shalik gegen 8 Uhr morgens wieder die Wohnung betritt, habe ich keine Ahnung, wo er war.

Er riecht nach Schnaps und seine Fingerknöchel sind aufgerissen, die obere Hautschicht abgeschürft und die Haut blutverschmiert.

Was auch immer er getan hat um sich abzureagieren, ich hoffe sehr, dass er sich selbst damit mehr geschadet hat, als seinem Gegenüber und dass sein Blitzableiter nur ein Baum oder eine Häuserfassade war und kein Mensch.

"Wo warst du?", frage ich ihn sanft und mit tränenerstickter Stimme, als er sich im Flur die weißen, dreckigen Turnschuhe von den Füßen streift.

"Draußen", knurrt er kurz angebunden zurück.

"Shalik, es tut mir leid", erkläre ich leise und gehe einen Schritt auf ihn zu, als er sich wieder aufgerichtet hat.

"Was jetzt? Die Ohrfeige oder dass du mich betrogen hast?", fragt er kalt und sieht mir direkt in die Augen.

"Ich habe dich nicht betrogen", beteuere ich erneut.

Shalik schnauft nur abfällig und schüttelt den Kopf. Seine Wange ist immer noch gerötet.

"Lass uns bitte nochmal reden", bitte ich ihn reumütig. Ich will nicht, dass wir so auseinander gehen und das alles für immer zwischen uns steht.

Shalik zuckt nur unbeteiligt mit den Schultern, lässt sich aber dann doch erweichen und folgt mir ins Wohnzimmer.

"Es tut mir leid, Shalik. Mir sind die Nerven durchgebrannt, ich hätte dich nicht schlagen dürfen."

Er nickt nur. Unter seinen Augen liegen dunkle Schatten und er verkneift sich ein Gähnen.

"Und es tut mir auch leid, dass ich dich durch meine Verabredung mit Amir so verletzt habe. Ich war wütend auf dich und wollte dir weh tun. Ich wusste, dass das dein wunder Punkt ist. Ich wollte einfach nur noch weg von dir, weg von den ganzen Problemen", versuche ich mein Verhalten zu reflektieren.

"Möchtest du das immer noch - weg von mir?", fragt er leise und sieht mich traurig an. Es scheint, als sei seine ganze Wut auf mich verpufft und einer tiefen Traurigkeit gewichen.

"Wir haben keine Chance mehr, das bringt nichts mehr. Wir holen beide nur noch die schlechtesten Seiten aus uns heraus. Du bist doch auch nicht mehr glücklich, Shalik, das ist doch nicht nur bei mir so."

"Ich bin glücklich mit dir. Ich war es die ganze Zeit und ich werde es wieder sein, wenn diese ganze Scheiße vorbei ist. Das ist einfach eine Durststrecke, eine beschissene Zeit, aber wenn wir zusammenhalten und die zusammen durchstehen, wird es auch wieder gut."

Er rauft sich durch seine kurzen schwarzen Haare und greift zaghaft nach meiner Hand. Ich lasse ihn gewähren. Es ist die erste zärtliche Berührung, seit er heute Nacht unangekündigt und völlig überraschend vor der Tür stand. Wir haben uns nicht mal richtig begrüßt.

Seine Nähe hat mir so sehr gefehlt, seine Abwesenheit hat sich angefühlt wie ein schrecklicher Durst, als würde mir sowas Existenzielles wie Trinkwasser fehlen. Der Herzschmerz über die Trennung war groß. So groß, dass mein einziger Weg damit umzugehen, Verdrängung und Ablenkung waren, bis mich die Realität mit Pauken und Trompeten wieder eingeholt hat.

"Bitte gib uns nicht auf, Tia. Ich weiß, dass die letzte Zeit zwischen uns immer nur ein auf und ab war, aber es wird auch wieder besser."

"Ich denke nicht, dass wir eine Zukunft haben, Shalik, egal wie sehr uns lieben, denn glaub mir, das tue ich: ich liebe dich wahnsinnig. Du bist meine erste große Liebe und ich war mir sicher, dass wir irgendwann heiraten und Kinder kriegen, aber das sehe ich nicht mehr."

Nun sitzen wir beide nebeneinander, meine Hand in Shaliks und weinen. Wir weinen um unsere Liebe, um unsere Fehler und unsere verlorenen Chancen.

Ich weine auch, weil ich einfach nicht weiß, was ich machen soll. Soll ich die Trennung durchziehen oder soll ich Shalik noch eine Chance geben?

Ich würde ihm so gerne glauben, dass alles besser wird und dass wir wieder so glücklich miteinander werden, wie wir es anfangs waren, doch mein Verstand sagt etwas anderes.

"Als wir uns kennengelernt haben, haben sich gerade deine Eltern getrennt. Ich war für dich da, ich habe dir zugehört und dich aufgefangen, obwohl wir uns gar nicht kannten. Bitte lass mich jetzt nicht fallen, wenn ich dich brauche", schluchzt er und sieht mich aus seinen großen braunen Augen schmerzerfüllt an.

Ich beuge mich zu ihm herüber und schlinge meine Arme um ihn. Sanft ziehe ich ihn an mich heran, spüre seine tränennassen Wangen an meiner Schulter und weine meinerseits in sein Shirt.

"Ich kann das alles nicht mehr", wispere ich leise. "Ich will einfach nur meinen Frieden, Shalik."

"Ich auch, Tiara, das kannst du mir glauben. Ich werde dir beweisen, dass sich das alles ändert. Gib mir einfach nur Zeit, bis das Verfahren vorbei ist. Ich flehe dich an. Ich kann nicht ohne dich."

Zaghaft schiebt er sich ein Stück weit von mir weg und sieht mir tief in die Augen. Ich zögere, hadere mit mir selbst.

Herz gegen Kopf.

Ehe ich etwas sagen kann, legt Shalik seine Hand an meine Wange und küsst mich.

Es scheint, als würde er all seine Gefühle in diesen einen Kuss legen. Eine seiner Tränen tropft auf meine Wange, während seine Lippen sehnsüchtig auf meine gepresst sind.

Der Kuss ist so intensiv, dass mir fast schwindelig wird und Shalik zaubert mir nach all der Zeit immer noch Herzklopfen wie am ersten Tag.

Mit ihm ist es wie Achterbahn fahren, ein ständiges Hoch und runter voller Adrenalin, aber die Loopings sind so schön und machen süchtig und die gibt es nunmal nicht ohne freien Fall.

Shalik legt seine Hand in meinen Nacken und dirigiert mich näher an sich, sodass ich schon halb auf seinem Schoß sitze.

Seine Hand streicht über mein Dekolleté und hinterlässt ein Prickeln auf meiner Haut. Ich fahre unter sein Shirt, streiche über seinen Bauch und lasse meinen Finger in den Bund seiner Jogginghose fahren.

Shalik nimmt seine Lippen nur für Millisekunden von meinen, immer dann, wenn sich einer von uns eines weiteren Kleidungsstückes entledigt. Ansonsten küsst er mich ununterbrochen, auch dann noch, als wir längst miteinander verschmolzen sind und unsere beiden nackten Körper zu einem Knäuel der Leidenschaft geworden sind.

Shalik liebt mich lang und ausdauernd, voller Hingabe kostet er jede Sekunde aus und widmet sich jedem Millimeter meines Körpers.

Nachdem meine gesamte Lust sich in einem zitternden Orgasmus entladen hat, kommen mir wieder die Tränen.

"Wein nicht, Baby. Wir kriegen das alles hin. Versprochen", beteuert Shalik und hält mich fest in seinen Armen, meinen nackten Körper schützend an den seinen gepresst.

"Das hast du schon so oft gesagt und nicht gehalten. Das ist jetzt wirklich deine letzte Chance Shalik, die allerletzte."

Die Entscheidung ihm zu verzeihen rührt auch daher, dass ich ein furchtbar schlechtes Gewissen Shalik gegenüber habe, weil ich ihn wegen meines überstürzten Treffens mit Amir so verletzt habe.

Doch meine Liebe zu ihm ist so tief, dass ich ihm glaube. Der kleine Funken Hoffnung auf eine unbeschwerte Zukunft reicht nochmal aus.

...

Doch egal wie groß die Hoffnung ist, egal wie stark die Liebe, egal wie fest der Glauben, das Leben schreibt seine eigenen Geschichten.

Fünf Tage lang leben Shalik und ich wie vor dem verhängnisvollen Tag, an dem unsere Wohnung von schwer bewaffneten Polizisten gestürmt und auf den Kopf gestellt wurde. Wir rücken wieder näher zusammen, unternehmen viel miteinander und sind einfach glücklich.

Wir gehen essen, wir gehen ins Kino und ins Schwimmbad. Die allabendliche Runde mit Chico wird zu unserem gemeinsamen Ritual und wir kochen sogar zusammen.

Wir knutschen wie Teenager, albern herum und lachen und immer wieder haben wir leidenschaftlichen, versauten Sex.

Es ist zu schön um wahr zu sein.

Und leider ist es das auch.

Zu schön um wahr zu sein.

Dass die letzten Tage nichts als eine traumhaft schöne Illusion waren, wird mir in dem Moment klar, als es an der Wohnungstür klopft. Arglos und mit einem Lachen im Gesicht wegen eines dummen Spruches, den Shalik gerade gerissen hat, öffne ich die Tür.

Das Lachen erstirbt, als ich in drei bierernste Gesichter schaue, die zwischen dunkelblauen Polizeiuniformen und den dazugehörigen Schirmmützen hervorschauen.

"Frau Seidel?", spricht mich ein junger Beamter direkt an, während mein Herz beginnt zu rasen.

In dem Moment höre ich Schritte hinter mir auf dem Laminat und auch die Polizisten merken, dass Shalik sich im Flur bewegt.

"Auf den Boden!", ruft einer der Beamten ihm energisch zu. "Versuchen Sie nicht zu flüchten, leisten Sie keinen Widerstand."

Vor Schreck zucke ich zusammen, mein Herz verkrampft sich und ich ziehe scharf die Luft ein.

Als die Beamten hektisch an mir vorbei in die Wohnung stürmen, weiche ich instinktiv zurück ins Innere der Wohnung.

Wie ferngesteuert legt sich Shalik bäuchlings auf den Boden und hebt die Hände an den Kopf. Er ist viel zu überrumpelt, als dass er sich wehren könnte.

Schnell und mit geübten Handgriffen legt ein blonder, kräftiger Beamter ihm Handschellen an und ich könnte schwören, dass er einmal tief durchatmet, als er ihn fixiert hat.

Ein anderer junger Mann kommt auf mich zu und schiebt mich ruhig ein wenig zur Seite. "Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten, Frau Seidel. Eigentlich sind wir her gekommen, um Sie wegen des Aufenthaltsortes ihres flüchtigen Freundes zu befragen, da gegen ihn ein Haftbefehl vorliegt, doch offensichtlich konnten wir das Problem alleine lösen", informiert er mich souverän, obwohl mir klar wird, dass dieser Einsatz so nicht geplant war.

"Freut mich für Sie", antworte ich zynisch und schrecke auf, als Chico plötzlich lautstark aus dem Schlafzimmer bellt. Shalik hatte ihn dort eingesperrt, damit wir in Ruhe essen können. Seit er weg war, hängt der junge Rüde ihm dermaßen am Rockzipfel, dass er keinen Schritt mehr alleine machen kann.

"Ist der bissig?", fragt der mir gegenüberstehende  Beamte alarmiert und blickt auf die geschlossene Zimmertür.

"Nein, der ist lieb", entgegnet Shalik vom Boden sofort. "Er ist doch sowieso gerade weggesperrt und meine Freundin kann ihn notfalls auch an die Leine nehmen und ihm einen Maulkorb aufsetzen", bietet er an. Mir ist klar, woher seine plötzliche Kooperationsbereitschaft rührt: der American Staffordshire Terrier ist sein wunder Punkt und er hat Angst, dass einer der jungen Beamten in Anbetracht des bulligen Listenhundes überreagiert und ihn aus Eigenschutz erschießt.

"Passt schon so", erklärt der Beamte ruhig und zieht einen Zettel aus seiner Jackentasche. "Herr Bouaziz, gegen Sie liegt ein Haftbefehl vor. Der Ermittlungsrichter in dem Fall gegen Sie wegen Betrugs und gewerbsmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln hat Untersuchungshaft angeordnet aufgrund ihrer Flucht. Sie sind vorläufig festgenommen und bleiben bis zum Abschluss des Verfahrens inhaftiert."

Ich bin so sprachlos, dass ich nicht mal weinen kann.

"Kann ich mich bitte noch von meiner Freundin verabschieden?", fragt Shalik leise. So handzahm hätten ihn sich die letzten Beamten vermutlich nicht Mal zu wünschen gewagt.

"Kein Problem", antwortet der blonde Beamte an seiner Seite verständnisvoll. "Wir helfen Ihnen auf die Beine und dann geben wir Ihnen zwei Minuten."

Gesagt, getan.

Als Shalik vor mir steht, hat er Tränen in den Augen und ringt um Fassung.

"Es tut mir leid, Tiara. Bitte denk an das, was wir in den letzten Tagen besprochen haben. Im Verfahren wird sich alles klären und ich werde schnell wieder entlassen. Die haben nichts gegen mich in der Hand."

Wortlos nicke ich.

Wir er vor mir steht, die Hände auf dem Rücken in Handschellen gelegt und links und rechts von uns Polizeibeamte, die alarmbereit jeden unserer Schritte beobachten, ist ein absurdes Bild, das sich für immer in meiner Erinnerungen brennen wird.

"Bitte mach keine Scheiße, Tia. Bitte halte zu mir. Sobald ich wieder draußen bin, beweise ich dir, dass ich mich geändert habe und dass ich alles tue, damit du glücklich bist. Hab nur noch ein wenig Geduld." Dem großgewachsenen, furchteinflößenden Mann steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Trotz allem was war und allem Kummer, den er mir bereitet hat, tut er mir leid.

"Mach dir keine Sorgen, ich halte mein Wort. Ich werde dir nicht in den Rücken fallen, wenn du dich nicht wehren kannst", verspreche ich und meine es auch so. Ich habe ihm eine letzte Chance zugesichert, obwohl ich geahnt habe, was erstmal noch auf uns zukommt, also bleibe ich dabei.

Auch wenn ich niemals gedacht hätte, dass es nun so schnell so ernst wird..

Ich gehe auf ihn zu und küsse ihn schweren Herzens so lange, bis einer der Beamten sich räuspert und ich respektvoll zurück weiche. Man muss die Geduld der entgegenkommenden Männer auch nicht überstrapazieren.

"Bleib stark und kümmere dich bitte gut um Chico. Mein Anwalt wird dich kontaktieren und mit dir alles weitere besprechen. Ich liebe dich", sind seine letzten Worte, bevor er eskortiert von Polizeibeamten die Wohnung verlässt.

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Meine Lieben,

Es hat sich ja ehrlicherweise schon ein paar Kapitel lang angebahnt, doch nun ist es endgültig Zeit: Shalik muss wieder in den Knast. Ihr habt es alle kommen sehen, nicht wahr?

Wie wird Tiara wohl mit der Situation umgehen?

A.

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