5 // so nötig hab ich's nicht

Um 23 Uhr liege ich hellwach im Bett und starre die Decke an. Ich versuche schon seit dem frühen Abend einzuschlafen, habe drei verschiedene Dokumentationen über ungeklärte Flugzeugabstürze gesehen, eine Folge meines liebsten True Crime Podcasts gehört und mich schätzungsweise zweitausend Mal von links nach rechts und zurück gedreht.

Mein Gedankenkarussel lässt mich einfach nicht los. Immer wieder frage ich mich, warum das alles passiert ist und wie es jetzt weiter gehen soll. Ich werde das Gefühl nicht los, dass meine Familie vor einem unüberwindbaren Scherbenhaufen steht.

Ziellos tippe ich auf meinem Smartphone herum, bis ich wie ferngesteuert auf dem WhatsApp Chat mit Shalik lande. Vielleicht hat er noch Lust, ein bisschen mit mir zu schreiben und mich auf andere Gedanken zu bringen.

"Bist du noch wach?", schreibe ich ihm kurz entschlossen und warte unruhig auf seine Antwort.

"Klar 😊 Ich muss jetzt gleich nochmal mit Chico raus. Geht's dir ein wenig besser?", kommt wenige Sekunden später zurück.

"Nicht so richtig", antworte ich ehrlich und richte mich ein wenig in meinem Bett auf.

Ich weiß nicht mal, was mich antreibt, doch plötzlich sind meine Finger schneller als mein Hirn und ich schreibe ihm: "Darf ich mich euch anschließen?"

"Oh man Tiara, was machst du nur?", tadele ich mich selbst leise. Ich habe Angst davor, einen Korb zu bekommen, aber ich habe auch Angst davor, dass er wirklich ja sagen könnte.

Was fällt mir nur ein? Ich bin doch gar nicht der Typ für spontane Verabredungen und ich sehe viel zu mitgenommen aus, als ich es mir für ein erstes Date wünschen würde.

Nervös starre ich auf mein Handy, als könnte ich Shaliks Antwort damit beschleunigen.

Eigentlich habe ich doch eh nichts zu verlieren, versuche ich mir einzureden. Morgen habe ich frei und bevor ich weitere drei Stunden meine Zimmerdecke anstarre und meine Gedanken sich weiterhin im Kreis drehen, kann mich auch einfach mit Shalik treffen - scheiß egal, wie ich aussehe.

"Gerne sogar. Soll ich dich abholen?", blinkt auf meinem Display auf und mir rutscht für einen Moment das Herz in die Hose.

"Nein, ich komme zu dir. Gib mir einfach deine Adresse und ich schreibe dir, wenn ich da bin, dann können wir uns unten treffen", antworte ich, während ich schon wie von der Tarantel gestochen zu meinem Kleiderschrank laufe.

Ich nehme mir hilflos eine schwarze Leggings, ein kurzes weißes Top und einen kuscheligen beigen Cardigan von den Regalbrettern und ziehe mich um. Dazu schlüpfe ich in meine weißen Sneakers, binde meine braunen Haare zu einem Pferdeschwanz und trage ein bisschen Wimperntusche auf. Das muss für heute genügen.

Ich sehe nicht wirklich gut aus, aber besser wird es heute auch nicht mehr.

Armer Shalik. Meinen Fotos nach zu urteilen hat er wahrscheinlich was anderes erwartet.

Keine halbe Stunde nach Shaliks Nachricht fährt mein kleiner dunkelgrauer Mercedes durch die nächtlichen Essener Straßen. Ich schiele gerade auf das Navigationssytem, als mein Handy in meiner Mittelkonsole anfängt lautstark zu vibrieren. Amir ruft an. Ich überlege kurz, drücke ihn dann jedoch instinktiv weg.

Shalik wohnt von meinem Elternhaus in Rüttenscheid nur gute zehn Minuten Fahrt entfernt im Essener Stadtteil Frohnhausen.

"Sie haben das Ziel erreicht", dröhnt aus den Boxen meines Wagens. Suchend sehe ich mich um. Links ist eine Tankstelle, rechts ein kleiner Park und ich gehe stark davon aus, dass keins von beidem Shaliks Wohnung ist.

Ich wähle seine Nummer und presse erwartungsvoll den Hörer gegen mein Ohr.

"Ja?", ertönt eine dunkle, aber sehr warme Stimme und man hört deutlich, dass er beim Sprechen lächelt. Es ist das erste Mal, dass ich seine Stimme höre, und die ist so schön, dass sie mir ein angenehmes Kribbeln in den Bauch zaubert. Würde er Hörbücher sprechen - egal mit welchem Inhalt - ich würde sie mir anhören.

"Hey Shalik, ich bins, Tiara", begrüße ich ihn aufgeregt und würde mir am liebsten im selben Moment mit der flachen Hand vor den Kopf schlagen.

Das sieht er doch selbst, dass ich es bin.

"Ja, hi", antwortet er sanft.

"Ich bin zu der Adresse gefahren, die du mir gegeben hast, aber ich stehe jetzt an einer Tankstelle", berichte ich hilflos.

"Ja, das ist richtig. Du musst die Straße noch ein Stück weiter runter fahren", erklärt er geduldig.

"Und in welche Richtung?", hake ich nach und sehe mich orientierungslos um. Auch wenn ich selbst in Essen geboren und aufgewachsen bin, ist Frohnhausen eine Ecke, in der ich mich sonst nie aufhalte und dementsprechend auch nicht auskenne.

"Ach weißt du was? Park einfach dort. Ich ziehe mir schnell Schuhe an und komme runter."

"Okay, dann bis gleich", antworte ich und spüre die Nervosität in mir noch weiter aufsteigen. Jetzt wird es also ernst. Ich werde Shalik gleich zum ersten Mal sehen.

Ich lerne nicht oft Typen kennen und das letzte richtige Date ist bestimmt schon anderthalb Jahre her.

Ich parke meine kleine A-Klasse auf dem Seitenstreifen, ziehe die Handbremse an und schnalle mich ab. Schnell werfe ich einen prüfenden Blick in den Rückspiegel und zupfe meinen Pferdeschwanz ein wenig zurecht.

Angespannt beobachte ich die Straße, bis in wenigen hundert Metern Entfernung eine Haustür aufgeht und ein junger Mann mit einem bulligen, mittelgroßen Hund an der Leine auf die Straße tritt und zielstrebig in meine Richtung läuft.

Vielleicht hätte ich Shalik allein in der Dunkelheit auf diese Entfernung noch gar nicht erkannt, doch den tapsigen Welpen mit dem braun-weißen Fell erkenne ich sofort. Aufgeregt und mit feuchten Händen öffne ich die Autotür und überquere die leere Fahrbahn.

Shalik ist jetzt nur noch wenige Meter von mir entfernt und kommt immer näher. Er trägt eine schwarze Jogginghose mit passender Sweatshirtjacke über einem hellgrauen T-Shirt. Die Ärmel der Jacke hat er leicht hochgeschoben. Seine Arme und seine Brust sind tätowiert, selbst die Hände sind mit kleinen Bildern und verschnörkelter Schrift verziert.

Sein Hals ist noch frei von dunkler Farbe, wobei die Betonung vermutlich auf noch liegt, und sein Bart ist akkurat gekürzt. Auf seinem dichten, dunklen Haar sitzt eine schwarze Snapback und seine nagelneuen Sneakers stapfen über den grauen Asphalt.

Er wirft mir ein herzliches Lächeln zu und auch Chico hat mich mittlerweile entdeckt. Aufgeregt beginnt er mit dem Schwanz zu wedeln und beschleunigt seinen Gang. Hechelnd zieht er an der Leine, sodass Shalik ihn mit einem scharfen "Chico!" ermahnen muss. Dann lässt er den Rüden Sitz machen und schenkt mir seine volle Aufmerksamkeit.

Unsicher bleibe ich vor dem großen, breit gebauten Mann stehen und schenke ihm ein Lächeln. Shalik ergreift die Initiative und zieht mich an sich. Sein Körper ist warm, die Brust muskulös und er riecht anziehend nach einer süßlichen Mischung aus Cashmeran und Leder.

Er ist keineswegs aufdringlich, sondern übernimmt auf eine angenehme Art die Führung. Dabei ist er so sympathisch, dass er mich mit seiner charismatischen Ausstrahlung direkt in den Bann zieht. Die düstere Aura, die er auf den ersten Blick ausstrahlen mag, macht er mit seinem sanften Lächeln und den warmen grünen Augen schnell wieder wett.

"Schön, dass du gekommen bist", begrüßt er mich und drückt mir einen leichten Kuss auf die rechte Wange. Mein Herz schlägt so aufgeregt gegen meine Brust, dass ich der festen Überzeugung bin, er müsste es hören können.

"Danke dir für das Angebot. Ich konnte nicht schlafen und lag die ganze Zeit wach. Eigentlich bin ich nicht so der Typ für spontane Verabredungen, erst recht nicht, wenn ich so mitgenommen aussehe wie heute, aber ich musste einfach raus, sonst wäre mir noch die Decke auf den Kopf gefallen", plappere ich vor mich hin. Es ist nicht meine Art so offen über meine Gefühle zu reden, schon gar nicht mit jemandem, den ich kaum kenne, aber bei Shalik ist das irgendwie anders. Er gibt mir von der ersten Sekunde an ein gutes Gefühl, sodass ich nicht einen Moment zweifle. Die Worte strömen einfach so aus mir heraus.

Shalik gibt mich wieder frei und mustert mich kurz. "Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich finde, dass du ziemlich gut aussiehst. Du brauchst wenigstens keine 5kg Schminke und keinen Instagram-Filter, du bist auch so schön. Ich mag eh lieber natürliche Frauen als solche Möchtegern Kylie-Jenner-Doubles."

Zugegeben: seine Worte gehen runter wie Öl. Welche Frau bekommt nicht gerne Komplimente? Vor allem, wenn man - wie ich bei Shalik - das Gefühl hat, dass sie ernst gemeint sind. Er wirkt nicht wie ein Schleimer oder ein Mann leerer Worte, sondern viel mehr wie jemand, der sehr direkt und freischnauze seine Gedanken artikuliert.

Ich mache einen Schritt zur Seite und gehe vor Chico in die Knie, der schon die ganze Zeit angespannt gefiepst hat. Offensichtlich hat dem jungen Staffordshire Terrier unsere Begrüßung deutlich zu lange gedauert.

Ohne einen Gedanken an sein Herrchen zu verschwenden, springt der Vierbeiner auf und stürmt auf mich zu, so aufgeregt, dass er mich fast umschmeißt. Lachend vergrabe ich meine schmalen Finger in seinem kurzen Fell, kraule ihn ausgiebig hinter den Ohren und lasse mir seine feuchte, kalte Nase gegen den Hals drücken.

Chico hechelt und leckt meine Hände ab, während ich ausgiebig seine Flanken tätschle. "Eigentlich mag er keine fremden Menschen", bemerkt Shalik irritiert. Ich hebe meinen Blick von dem schönen Hund und schaue geradewegs in die hellgrünen Augen über mir. "Eigentlich", wiederhole ich lächelnd und drücke mich vom Boden hoch.

"Wirklich. Aber du hast es ihm irgendwie angetan." "Er hat's mir auch angetan", gebe ich zurück und werfe einen liebevollen Blick auf die Fellnase, die sich jetzt Nähe suchend wie ein Kätzchen gegen meine Schienbeine drückt.

"Sollen wir ein Stück laufen?", fordere ich Shalik auf. Er nickt mir zu und setzt sich in Bewegung. Wir laufen gemeinsam über die Straße und spazieren ein wenig auswärts der kleinen Innenstadt bis hin zu einem verlassenen, schwach beleuchteten Weg, auf dessen linker Seite weite Felder, und auf dessen rechter Seite ein dicht bewachsenes Waldstück liegt.

"Muss ich mir jetzt Gedanken machen?", scherze ich mit Blick auf die nicht besonders vertrauenserweckende Kulisse vor uns, die gut und gerne am Beginn einer Horrorstory stehen könnte. Shalik fängt an zu lachen. "Keine Sorge, so nötig hab ich's nicht."

Er zieht aus der tiefen Tasche seiner Jogginghose einen matschgrauen Tennisball und lässt ihn einige Male auf den Boden titschen. Chico springt aufgeregt hoch und runter wie ein Flummi und dreht sich mehrmals hechelnd um die eigene Achse. Shalik lässt ihn wieder Sitz machen und leint ihn ab, bevor er ausholt und den Ball weit auf das kahle Feld hinauswirft.

"Erzähl mal, du machst deine Ausbildung bei Lueg?", erkundigt er sich dann und dreht sich wieder mir zu. Seine schönen grünen Augen funkeln in dem schwachen Schein der vereinzelten Straßenlaternen und es fällt mir schwer, ab und zu meinen Blick von ihm zu lösen, um ihn nicht zu penetrant anzustarren. Doch auch Shalik schenkt mir immer wieder tiefe Blicke, lächelt mich an oder sucht ganz bewusst meine Nähe. Mal streift seine Hand die meine beim Reden, mal berühren sich unsere Schultern beim Laufen.

"Genau. Ich bin jetzt im zweiten Lehrjahr und gehe bald in die Abschlussprüfung. Ich habe Abi gemacht und kann die Ausbildung deshalb auf zwei Jahre verkürzen", erzähle ich ihm. "Und wie ist es bei dir? Hast du auch etwas in die Richtung gelernt, wenn du jetzt bei deinem Onkel im Autohandel arbeitest?"

Shalik schmeißt den Tennisball erneut aufs Feld und sieht kurz seinem Hund hinterher, wie er dem kleinen Ball nachjagt. "Nein, ich habe keine Ausbildung gemacht. Ich habe einen Realschulabschluss und danach immer in verschiedenen Jobs gearbeitet", gibt er zu.

"Okay. Wolltest du keine machen?", erkundige ich mich irritiert. In meinem Elternhaus war immer klar, dass ich nach dem Schulabschluss nahtlos in eine Ausbildung oder ein Studium übergehe und auch in meinem Umfeld ist dies der gängige, vorgegebene Weg, dem alle folgen.

"Doch, wollte ich. Ich hatte auch zwei Mal eine Zusage und einen Ausbildungsvertrag, aber ich durfte die nicht annehmen, weil ich keine Arbeitserlaubnis hatte", erzählt er nüchtern.

Nun bin ich vollends irritiert. "Wieso hast du keine Arbeitserlaubnis? Du bist doch hier geboren oder nicht?"

"Nein, ich bin nicht hier geboren. Meine Familie kommt aus Tunesien, ich bin in Monastir geboren."

"Und wie lange bist du schon in Deutschland?"

"Seit knapp 10 Jahren. Meine Eltern sind mit mir und meiner älteren Schwester Noura nach Deutschland gekommen. Mein Bruder Riad ist dann hier geboren."

Ungläubig schüttele ich den Kopf. "Das hätte ich niemals gedacht. Du sprichst so gut Deutsch. Ich habe nicht mal darüber nachgedacht, dass du nicht von hier bist", gebe ich zu. Shalik lacht leise auf. "Das nehme ich mal als Kompliment. Danke dir."

"Und wieso darfst du dann nicht arbeiten, wenn du schon seit 10 Jahren hier bist?"

"Das ist ein bisschen kompliziert, Tiara. Das erkläre ich dir wann anders, okay?", blockt er ab.

Schweigend nicke ich. Ob ich mit meiner Neugier eine Grenze überschritten habe? Ich wollte ihm auf keinen Fall zu nahetreten.

"Sorry, dass ich so dumm frage, aber ich kenne mich überhaupt nicht mit der Thematik aus. Ich wollte dich nicht bedrängen, ich will das nur verstehen", erkläre ich entschuldigend.

Shalik greift nach meiner Hand und umschließt meine Finger sanft mit seinen. Die Wärme, die von ihm ausgeht, scheint geradewegs in meinen Körper zu strömen. "Alles gut", versichert er lächelnd. "Ich weiß nur, dass du heute eh schon einen doofen Tag hattest und ich will dich jetzt nicht auch noch damit belasten. Ich erkläre dir das beim nächsten Mal, versprochen."

Zaghaft nicke ich. Es gefällt mir, dass Shalik so empathisch und rücksichtsvoll ist. Es gefällt mir auch, dass er ganz selbstverständlich von einem "nächsten Mal" spricht. Und es gefällt mir ganz besonders, dass Shalik keine Anstalten macht, meine Hand wieder loszulassen.

Mit der anderen Hand pfeift er nun Chico heran, um ihn wieder anzuleinen und den voll gesabberten Tennisball in seiner Hosentasche verschwinden zu lassen.

"Es ist wirklich stockduster hier. Lass uns mal langsam zurücklaufen", schlägt er vor und ich stimme ihm zu.

Es ist nämlich nicht nur dunkel, sondern mittlerweile auch ziemlich frisch geworden, weshalb ich meinen Cardigan etwas enger um meinen Körper wickele. Trotzdem bin ich traurig, dass wir uns jetzt schon wieder voneinander verabschieden müssen, wo wir uns doch gerade nähergekommen sind.

Ich will nicht wieder nachhause fahren und mit meinen Gedanken allein sein.

Ich will noch ein bisschen mit Shalik in diesem rosaroten Paralleluniversum bleiben, mit ihm reden und lachen und meine Sorgen wenigstens für eine kurze Zeit vergessen.

Plötzlich durchbricht Shalik die Stille und damit auch meine Gedanken, indem er fragt:

"Kommst du noch mit zu mir?"

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Meine Lieben,

Was sagt ihr zu diesem ersten Date von Tiara und Shalik?

Wie findet ihr Shalik bisher?

Ratet mal wild drauf los: Was denkt ihr, steckt hinter Shaliks Geschichte?

Und wird Tiara noch mit zu ihm gehen?

A.

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