48 // sabr

Tief brummend vibriert es neben meinem Kopf, wieder und wieder.

Mit geschlossenen Augen taste ich den Nachttisch ab. Es vibriert erneut, mehrmals kurz hintereinander.

Das Geräusch klingt außergewöhnlich laut und dröhnend, was vermutlich maßgeblich an der Flasche Rotwein liegt, die ich gestern Abend alleine geleert habe.

Ich schiele mit einem Auge durch die künstliche Dunkelheit des Raumes, die die zwei grauen Lamellenrollos an den Fenstern erzeugen.

In dem Moment, in dem ich das leuchtende Display entdecke, hört das penetrante Brummen auf und mein Handy symbolisiert einen verpassten Anruf.

Anonyme Nummer.

Shalik.

Ich drehe das Handy um, schalte es lautlos und schließe erschöpft meine Augen um weiterzuschlafen.

...

Als ich das nächste Mal aufwache, spüre ich nichts außer Dunkelheit, Übelkeit und elende Kopfschmerzen. Stöhnend drehe ich mich auf die Seite und nehme mein Handy von der niedrigen Kommode neben dem Bett.

Zwei verpasste Anrufe von einer anonymen Nummer. 12.28 Uhr.

Selbst wenn ich wollte, ich könnte Shalik nicht zurück rufen.

Aber ich will auch gar nicht.

Schnell schüttele ich die Gedanken ab, schiebe die aufkeimende Trauer über die Trennung und das unterschwellige schlechte Gewissen beiseite und versuche mich abzulenken.

Ich mache meine Lieblingsplaylist an, schleppe mich mit dröhnendem Kopf in die Küche und bekämpfe meinen Kater mit einer großen Tasse Kaffee und einer trockenen Scheibe Toastbrot. Als ich gerade Chicos Napf mit einer riesigen Portion des sauteuren Trockenfutters fülle, welches Shalik immer für den gefleckten Staffordshire-Terrier im Tierhandel kauft, klingelt mein Handy erneut.

Ich werfe einen beiläufigen Blick auf das leuchtende LCD-Display, als ich überrascht feststelle, dass es entgegen meiner Erwartung nicht Shalik ist, der es nochmal versucht, sondern seine Tante Roya.

Schnell nehme ich den Anruf an, unwissend, was die junge Frau aus heiterem Himmel von mir wollen könnte. Mein Herz stolpert kurz bei dem Gedanken, dass etwas passiert sein könnte und am anderen Ende der Leitung nun schlechte Nachrichten auf mich warten.

"Ja hallo?", flöte ich freundlich und mit klopfendem Herzen in den Hörer. Chico fängt mit vorwurfsvollem Blick an zu fiepen und stupst ungeduldig gegen seinen silbernen Fressnapf. Ich streichele ihm entschuldigend über den Kopf und platziere sein spätes Frühstück schnell auf der dafür vorgesehenen Silikonmatte.

"Hallo Tiara, ich bin es, Roya. Ich hoffe, ich störe dich nicht", tönt es aus meinem iPhone.

"Nein, Quatsch", erkläre ich hastig und trockne meine Hände an einem Geschirrtuch ab. "Wie geht es euch? Was machen die Mädchen?"

"Danke uns geht es allen gut, wie geht es dir?", steigt sie herzlich und akzentbehaftet auf meinen Smalltalk ein.

Die Fragezeichen in meinem Kopf werden immer größer und ich kann mir noch immer nicht erklären, weshalb sie mich an einem Sonntagvormittag überraschend anruft. Immerhin klingt sie ganz ruhig und positiv und nicht, als ob sie mir gleich verkünden würde, dass Shalik oder einer seiner Familienmitglieder tödlich verunglückt sei.

"Ganz gut soweit", antworte ich vorsichtig und verschweige sowohl meinen schmerzhaften Liebeskummer als auch die Rotwein-Überdosis des gestrigen Abends und die Relikte in Form von Übelkeit, Kopf- und Gliederschmerzen, die mir der Konsum der letzten Nacht gebracht hat.

"Bestimmt wunderst du dich, weshalb ich dich plötzlich anrufe. Eya und Nuri vermissen Shalik total, deshalb habe ich ihnen vorgeschlagen, dass wir stattdessen dir und Chico mal einen Besuch abstatten können, wenn es dir passt?"

Ich schlucke schwer.

Eigentlich hatte ich vor, meinen Sonntag ganz entspannt anzugehen, mich maximal vom Bett zur Toilette oder zum Kühlschrank zu bewegen und ungeduscht in meiner himmlisch weichen Daunendecke vor mich hin zu vegetieren, doch bei dem Gedanken an zwei kugelrunde, braune Augenpaare, die mich traurig ansehen, erweicht mein Herz.

"Klar, ihr könnt immer gerne vorbei kommen", antworte ich lächelnd. Es ist schließlich Shaliks Wohnung, in der ich sitze, und Shaliks Hund, den die drei besuchen wollen, also wer bin ich, ihnen das vorzuenthalten?

Außerdem weiß ich, wie viel gerade sein Onkel Najim und die beiden Mädchen  Shalik bedeuten. Darüberhinaus waren er und seine bildschöne Frau Roya von Tag eins an immer nett zu mir und haben mich mit offenen Armen in ihrer Familie empfangen, da kann ich Shaliks und meine Diskrepanzen nicht auf sie übertragen.

"Oh schön, das freut mich. Wäre 14 Uhr okay für dich?", antwortet Roya mit ihrer warmen Stimme.

Ich blicke auf die Wanduhr an der dunkelroten Küchenwand. Zwei Stunden noch, das sollte ich hinbekommen. Wir verabreden uns für die vorgeschlagene Zeit und beenden den Anruf, bevor ich ausgiebig duschen gehe und den Suff der letzten Nacht abwasche. Ich creme mich ein, föhne meine Haare und putze meine Zähne, bevor ich mich ein wenig schminke und mir einen gemütlichen Zweiteiler aus beigem Rippstrick anziehe.

Als es am frühen Mittag an der Tür klingelt und nach dem Getrappel von zwei großen und vier kleinen Füßen im Hausflur vier aufgeregte, runde, braune Augen mich anfunkeln, gefolgt von der Mutter der adrett gekleideten und frisierten Mädchen, die eine große Pappschachtel in der einen und einen Strauß frischer Blumen in der anderen Hand hält, bin ich froh, dass ich zugesagt habe und trotz tiefer Traurigkeit, Müdigkeit und dickem Kater schleicht sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen.

"Hallo ihr beiden Mäuse", begrüße ich Eya und Nuri fröhlich, gehe in die Knie und schließe die beiden Lockenköpfe herzlich in meine Arme.

"Hallo Tiaja", kichert Eya verlegen und streicht sich mit ihren kleinen Händen eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht.

Schwerfällig drücke ich mich vom Boden wieder hoch und umarme Roya, die im Gegenteil zu mir wie aus dem Ei gepellt aussieht. Ihre schwarzen Haare fallen glatt und seidig über ihre Schultern, ihr schlanker Körper steckt in einer cremefarbenen Stoffhose und einer altrosanen Seidenbluse.

Strahlend überreicht sie mir die Blumen und deutet dann auf die Pappschachteln. "Ich habe Gebäck mitgebracht."

Ich mache mich mit dem bunten Strauß aus Rosen, Nelken und Dahlien und der Box auf den Weg in die Küche, stelle die Blumen lächelnd in eine Vase und packe das libanesische Gebäck, das Roya vermutlich auf dem Hinweg in einer der zahlreichen Arabischen Bäckereien in Altendorf gekauft hat, auf eine gläserne Kuchenplatte.

Während ich Teller und Gabeln zusammensuche und Roya und mir einen Kaffee koche, höre ich die kleinen Mädchen im Wohnzimmer laut jauchzend mit Chico Ball spielen.

"Chico freut sich auch, dass ihr hier seid", erkläre ich den Mädchen grinsend und stelle die Glasplatte mit diversen Baklava, Mamoul und Halawat auf den Wohnzimmertisch.

"Ich liebe Halawat", erkläre ich begeistert und reiche Shaliks Tante eine der großen, dampfend heißen Kaffeetassen. Die traditionelle Süßspeise aus Mozzarella, Gries, Sahne, Pistazien und Rosenwasser ist auch etwas, was Shalik schwach macht, obwohl er sonst keine Naschkatze ist. Ich schüttele den Gedanken an ihn ab und lasse mich auf das weiche Sofa fallen.

"Danke Roya, das sieht alles sehr lecker aus." "Gerne Liebes", antwortet sie herzlich wie immer. "Aber jetzt erzähl erstmal: wie geht es dir?" Besorgt lässt sie ihren Blick über mich schweifen. "Du siehst blass aus."

Ich verkneife mir den Kommentar, dass es sowohl an der Flasche Wein und dem fehlenden Makeup liegt und nicke stattdessen sanft. "Die ganze Situation ist sehr belastend für mich." Eya sieht mich aus großen Augen mitleidig an, da kommt mir ein Geistesblitz.

"Komm mal mit, Maus", fordere ich sie auf und greife nach ihrer kleinen Patschehand. Sie folgt mir ins Schlafzimmer, wo ich aus dem obersten Fach des Kleiderschranks einen graue Aufbewahrungskiste aus Stoff ziehe. Wir gehen wieder zurück ins Wohnzimmer und ich stelle die Box vor sie auf den Hochfloorteppich.

Mit Spannung betrachten die kleinen Mädchen, wie ich den Deckel hebe und kriegen freudig glitzernde Augen, als der Inhalt zum Vorschein kommt: unzählige Barbiepuppen, blonde, brünette, rot- und schwarzhaarige und eine riesige Sammlung von Kleidungsstücken und Accessoires, die jede Frau vor Neid erblassen lässt. Meine Mama hat mein Lieblingsspielzeug meiner Kindheit für mich im Keller aufbewahrt und mir die kleinen Puppen irgendwann mitgegeben, als sie aus unserem ehemaligen Wohnhaus ausgezogen ist.

"Damit ihr was zum Spielen habt, während ich mit Mama quatsche", erkläre ich zufrieden. Das lassen die beiden Zuckermäuse sich nicht zweimal sagen und beginnen aufgeregt und mit glitzernden Augen, den Inhalt der Kiste auf dem Teppich auszubreiten.

"Ich vermisse ihn und gleichzeitig macht es mich unfassbar wütend, wie er mit der ganzen Situation umgeht. Ich habe nichts falsch gemacht, Roya. Shalik allein hat uns in diese beschissene Lage gebracht und zu sehen, wie ich daran kaputt gehe, während er feiern geht und shoppen und sich 'ne schöne Zeit macht, ist einfach das Letzte."

Verstehend nickt sie mir zu, trinkt einen Schluck Kaffee und rutscht zu mir auf. "Shalik war schon immer so, Tiara. Er kann nicht besonders gut über Gefühle reden. Er lenkt sich lieber ab und verdrängt alles. Außerdem.."

Sie hält kurz inne und scheint mit sich zu hadern. "Was soll's, ich sage es dir jetzt einfach", erklärt sie schulterzuckend und nimmt sich ein Gebäckstück von der Glasplatte. "Shalik hat Jimmy angerufen, weißt du. Er liebt dich wirklich Tiara, er ist verrückt nach dir. Und er hat Jimmy gesagt, wie sehr er sich dafür schämt, dass du wegen ihm so leidest. Er will dir nicht zeigen, dass es ihm genauso schlecht geht wie dir und dass er Angst hat, damit du dir nicht noch mehr Sorgen machst. Er versucht stark zu scheinen und dir Halt zu geben und merkt nicht, dass er damit das Gegenteil bewirkt."

Ich schüttele den Kopf. "Wir sind doch nicht erst seit gestern zusammen, er müsste mich wirklich besser kennen. Mit mir kann man über alles reden. Ich muss nicht geschützt werden, ich will nur die Wahrheit - immer."

Wieder bildet sich ein dicker Kloß in meinem Hals, wie viel zu oft in den letzten Stunden und Tagen.

"Ich weiß das und Shalik weiß das auch. Ich will ihn nicht in Schutz nehmen, bitte verstehe das nicht falsch, aber er hat immer sein Ding durchgezogen, ohne Rücksicht auf Verluste. Es war ihm egal, ob die Polizei ihn erwischt hat, es war ihm ja sogar egal, als er in den Knast musste. Es gab schließlich nichts, was ihn hier draußen gehalten hätte. Die Hälfte seiner Kollegen hat er eh im Jugendvollzug wiedergesehen. Aber jetzt ist es anders. Er hat sich wirklich angestrengt, den geraden Weg zu gehen und er hat wirklich Angst, dass sie ihn zurück ins Gefängnis stecken - wegen dir. Er hat Angst, dass du die Trennung durchziehst, erstrecht, wenn er wieder rein muss. Er ist ja nicht blöd. Er weiß wie schön und klug du bist und dass du viel zu jung bist, als jahrelang auf ihn zu warten. Du bist ihm nichts schuldig. Er wird in seinen zwölf Quadratmetern sitzen, rauchend auf die eine Freistunde am Tag warten, während du einen neuen Mann kennenlernst, mit dem du diese Kopfschmerzen nicht hast, und heiratest und Kinder kriegst und all das, was er sich so sehr für euch gewünscht hat."

Tränen schießen mir in die Augen. Roya schildert das alles so bildhaft, dass ich die Situation direkt vor mir sehe. Aber vor allem sehe ich, dass ich das nicht will. Dass Shalik wieder in Gefängnis muss, wäre für mich der Untergang. So loyal ich bin, kann ich trotzdem gerade nicht mit Garantie sagen, dass ich es durchstehen würde, jahrelang auf ihn zu warten und mich nur mit Briefen, Telefonaten und Besuchen im Zwei-Wochen-Takt über Wasser zu halten.

Roya hat genau ins Schwarze getroffen: ich will heiraten, ich will Kinder bekommen und eigentlich will ich all das auch mit Shalik.

Eigentlich.

Denn langsam weiß ich selbst nicht mehr, was ich will.

Mein Herz will ihn, nur ihn, bis ans Ende meines Lebens.

Mein Verstand hingegen weiß ganz genau, dass ich nicht mit einem oder zwei kleinen Kindern am Besuchtstag in die JVA fahren will, um eine stabile Vater-Kind-Bindung zu ermöglichen.

Ich will gemeinsam beim Frühstück sitzen, zu viert, zwei kleine Süßkekse mit Kakaomündern und glitzernden Augen zwischen aus. Nachmittags auf den Spielplatz, Fahrrad-Touren, Schwimmbadbesuche mit fettiger Pommes zu zweit als Eltern genießen. Alles teilen: die schönen Momente und die Sorgen, die Freude und allen Ärger.

Ich seufze leise.

"Ich weiß selbst nicht mehr, was ich will und was ich machen soll", wispere ich leise.

Roya zieht mich in ihre Arme und streichelt mütterlich über meinen Kopf.

"Sabr", flüstert sie leise. "Hab noch ein wenig Geduld. Alles wird kommen, wie es soll. Shaliks Anwalt hat gesagt, dass seine Chancen sehr gut stehen. Wenn du ihn liebst, warte wenigstens die Verhandlung ab. Ich bin mir sicher, dass Shalik danach wieder auf freiem Fuß sein wird und dass ihm das alles eine riesige Lehre war, sich von allem Ärger zukünftig fernzuhalten."

"Hoffentlich", antworte ich verbittert.

"Inschallah."

_______________________________

Meine Lieben,

Was sagt ihr zu der Zwickmühle, in der Tiara sich befindet?

Wie würdet ihr euch an der Stelle entscheiden? Der großen Liebe noch eine Chance geben oder die Vernunft siegen lassen und die Trennung durchziehen?

A.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top