45 // ärger im paradies
"Amir", entfährt es mir überrascht. Ich schließe wie ferngesteuert die Tür des Eisschrankes und werfe den bunten Pappbecher mit der Chocolate Chip Cookie Dough Eiscreme in den roten Einkaufskorb, der in meiner Armbeuge hängt.
"Ich war mir gerade kurz nicht sicher, ob du es wirklich bist", gibt er zu, lächelt sein umwerfendes Lächeln und mustert mich kurz. Es ist vermutlich das erste Mal, in all der Zeit, die wir uns kennen, dass er mich in einem solchen Aufzug sieht.
"Ich bin es", antworte ich schulterzuckend und sehe ihm unsicher in die Augen. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für ein zufälliges Zusammentreffen mit meinem ehemaligen Liebhaber, mit dem es relativ unschön auseinandergegangen ist. Ich habe heute keine Kraft dafür, mal ganz davon abgesehen, dass ich ihm nach seinen letzten Worten lieber aufgestylt und vor Glück strahlend begegnen würde. Die Genugtuung, dass er mir jetzt ansehen kann, wie schlecht es mir geht, gönne ich ihm nicht.
"Ich habe gehofft, dich irgendwo mal zu sehen, doch das war jetzt tatsächlich ziemlich random", gibt er zu und grinst mich an. "Ich wollte mich immer noch dafür entschuldigen, wie ich mich verhalten habe. Es war nicht besonders nett, was ich über dich gesagt habe. Zu meiner Meinung über Shalik stehe ich, aber ansonsten hat wohl eher mein gekränkter Stolz aus mir gesprochen. Tut mir wirklich leid, Tiara."
Amir wirkt aufrichtig und in seinen dunklen Augen liegt tiefe Reue, doch im Grunde ist es mir fast schon egal. Er spielt in meinem Leben schlichtweg keine Rolle mehr. Ich bin gerade nicht in der Verfassung, ihm Paroli zu bieten und mich neben dem ganzen anderen Scheiß auch noch mit Amirs respektlosem Verhalten zu befassen, welches Monate zurückliegt. Soll er doch sein schlechtes Gewissen auf meine Kosten erleichtern, who cares.
"Schon okay, ich habe dir längst verziehen", antworte ich milde.
"Freut mich", entgegnet der durchtrainierte Iraner, der mit einer dunklen Jeans, einem weißen Shirt und einer schwarzen Retro-Trainingsjacke von Adidas mit breiten Streifen bekleidet ist. Im Gegensatz zu mir sieht Amir leider hervorragend aus. Seine schwarzen Haare sind wie immer makellos frisiert, selbst sein Bart liegt besser als meine Frisur.
"Und sonst? Wie geht es dir?", erkundigt er sich interessiert und kommt einen Schritt näher auf mich zu. Ich habe das Gefühl, dass sein Interesse aufrichtig ist. Ich habe nicht den Eindruck, als wolle er sich nur sensationslustig an meinem Leid ergötzen. Der Duft seines schweren Parfums steigt in meine Nase und weckt Bilder von seinem nackten, muskulösen Körper und wilden Nächten in seinem Bett, in denen wir kaum geschlafen haben.
"Geht, ne", antworte ich vage und wende meinen Blick von ihm ab. Ich habe zu viel Angst, dass er in meinen Augen sehen kann, wie gebrochen ich bin. Stattdessen studiere ich intensiv den Inhalt seines Einkaufswagens: fünf Becher Magerquark, ein Kasten Cola, drei Pakete Reis und vier Kilogramm Hähnchenbrustfilet von der Frischetheke.
"Und dir? Bist du wieder im Trainingsmodus?", schlussfolgere ich aus seinen Einkäufen.
"Ja", antwortet er fast verlegen und grinst schief. "Und du?", hakt er nach und starrt ebenfalls in meinen Einkaufskorb. "Eiscreme, Schokoriegel, Rotwein - sieht fast nach Liebeskummer aus."
"Ne, ich bin auch im Trainingsmodus", entgegne ich sarkastisch.
Amir verdreht schmunzelnd die Augen, doch wird dann ernst. "Sag ehrlich, was ist los? Ärger im Paradies? Ich habe letztens erst gehört, dass ihr euch verlobt habt. Solltest du da nicht vor Glück platzen?"
Auffällig scannt er meine Hände ab und als er den schönen Goldring mit den drei Steinen sieht, den Shalik mir geschenkt hat, blitzt ein Hauch von Enttäuschung in seinen Augen auf.
"Ich bin nicht verlobt", stelle ich klar. Die Worte verlassen schneller meinen Mund, als ich nachdenken kann, schließlich sendet meine Aussage ganz klar ein falsches Signal.
Was zur Hölle geht es Amir denn an, wie es um Shalik und meine Beziehung steht? Soll er doch denken, dass wir verlobt sind, vielleicht lässt er mich ja dann in Ruhe meine Einkäufe fortsetzen, damit ich schnellstmöglich zurück in mein Bett krabbeln und heulen kann.
Aber nein, Tiara muss das Gespräch ja mit weiteren Themen füttern und brav am Laufen halten.
Instinktiv schiebe ich meine schwarze Yankees-Cap etwas tiefer in mein Gesicht. "Wir sind aber immer noch zusammen", setze ich nach, weil ich irgendwie das Gefühl habe, ich müsste das anstandshalber klarstellen.
Amir richtet sich auf, drückt die Schultern durch und seine Brust raus. Man kann viel über ihn sagen, aber er ist unumstritten ein schöner Mann und mit seiner großen, kräftigen Statur macht er Eindruck.
"Ich kann echt verstehen, wenn du nicht mit mir über deine Probleme reden willst, musst du auch gar nicht, aber du siehst wirklich scheiße aus. Ich kenne dich jetzt knapp zwei Jahre und so fertig und niedergeschlagen habe ich dich noch nie gesehen."
Seine direkte Konfrontation überrascht mich dann doch, sodass ich ihm wieder ins Gesicht sehe. "Ich", beginne ich, doch meine Stimme versagt und Tränen sammeln sich in meinen traurigen blauen Augen. "Es ist alles okay", wispere ich und halte mir den harten Plastikkorb schützend vor den Bauch.
Amir schenkt mir ein schiefes Lächeln. "Klar", antwortet er und nickt mir kurz zu. "Wenn du doch reden willst, oder wenn du Ablenkung brauchst.." Er hält kurz inne und merkt selbst, wie eindeutig zweideutig das klang. Er grinst und selbst auf meine Lippen schleicht sich ein kleines, verhaltenes Lächeln, dass die Tränen wieder vertreibt.
"Du bist unverbesserlich", erwidere ich und schüttele den Kopf.
"Wallah, so habe ich das nicht gemeint", protestiert er sofort und hebt unschuldig beide Hände. "Ich meinte eher, dass wir mal was essen gehen können, ins Kino oder so, falls du auf andere Gedanken kommen willst. Wie auch immer. Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst. Pass auf dich auf." Er zwinkert mir zu und wendet sich zum Gehen.
Ich zögere kurz. "Amir", rufe ich ihm dann leise nach. Der breite Mann in der dunklen Trainingsjacke fährt überrascht zu mir herum. "Danke", sage ich ehrlich und schenke ihm einen tiefen Blick gepaart mit dem halbherzigen Versuch eines Lächelns. Auch wenn ich nicht naiv genug bin zu glauben, dass sein Angebot vollkommen selbstlos ist, weiß ich es zu schätzen. Ich habe ihm damals unumstritten vor den Kopf gestoßen, als ich auf sein Liebesgeständnis geantwortet habe, dass ich jemand anderen kennengelernt habe. Dass er sich trotzdem um mich sorgt und mir seine Hilfe anbietet, ist ein feiner Zug und zeigt mir wieder, was ich zuletzt vermisst habe: seine guten Seiten, die ich immer an ihm geschätzt habe.
"Gerne", antwortet er und lächelt mir noch ein letztes Mal zu. "Mach es gut, Tiara."
...
Ich verbringe den ganzen Tag damit eine neue Serie auf Netflix von meinem kuscheligen Bett aus durchzusuchten. Mein bequemes Lager verlasse ich maximal, um mir aus der Küche etwas zu essen zu holen oder um auf die Toilette zu gehen. Shalik hat sich auch heute den ganzen Tag nicht bei mir gemeldet, doch um 22 Uhr klingelt dann wider Erwarten mein Handy. Eingehender Anruf von einer unbekannten Nummer.
Sofort geht mein Puls hoch und mein Herz beginnt ein bisschen höher zu schlagen. Aufgeregt nehme ich den Anruf an.
"Hey Babe", dröhnt Shaliks tiefe Stimme aus dem Hörer. In meinem Bauch breitet sich ein angenehmes Kribbeln aus, genau wie damals, als er mich zum ersten Mal angerufen hat. Ich weiß noch genau, wie gut mir seine Stimme gefallen hat.
"Hey", antworte ich leise. Ich bin so aufgeregt, dass meine Stimme fast versagt. Es ist das erste Mal, dass ich etwas von ihm höre, seit er Essen überstürzt verlassen hat. Schnell räuspere ich mich. "Wie geht es dir? Bist du gut angekommen?"
"Ja, ich bin gut durchgekommen. Die Autobahn war zum Glück frei, weil es schon so spät war. Und bei dir? Was hast du heute gemacht, ist alles okay?"
Ich schlucke. Kurz wäge ich ab, ob ich von meinem Aufeinandertreffen mit Amir im Supermarkt erzählen soll, entscheide mich jedoch dagegen. Es ist ja nichts passiert, nur ein kurzes, unverfängliches Gespräch in der Öffentlichkeit, das es nicht wert ist, jetzt für unnötige Aufregung zu sorgen.
"Nicht besonders viel, ich war nur kurz einkaufen und ansonsten zuhause, mir geht's nicht so gut", gebe ich schweren Herzens zu.
"Oh, wieso das? Wirst du etwas krank?"
Fassungslos starre ich auf die graue Bettdecke. Dass mir nicht die Kinnlade runterklappt ist alles. "Ich werde nicht krank", stelle ich klar. "Mir geht es scheiße wegen dieser beschissenen Situation." Dass ich ihm das überhaupt erklären muss, kann ich kaum glauben. Geht es ihm etwa nicht schlecht, weil er 300km von mir weg ist, ohne Chico, er vermutlich von seinem besten Freund verraten wurde, deshalb unsere Wohnung durchsucht wurde und er im schlimmsten Fall zurück in den Knast muss und das alles mit aktuell unabsehbaren Konsequenzen für unsere Zukunft?
Ich hoffe doch sehr, dass er wie so oft nur versucht vor mir den Harten zu markieren, um mich nicht zusätzlich zu beunruhigen.
"Ach Baby, nimm es nicht so schwer. Ich bin bald wieder da und gehe dir wieder auf die Nerven, keine Sorge", lacht er leichtfertig in den Hörer.
"Hoffentlich", wispere ich zurück und sinke etwas tiefer in die weiche Federkernmatratze.
"Wie rufst du mich denn jetzt an? Von deinem Handy aus ja nicht, das ist ja die ganze Zeit aus", probiere ich mich an einem halbwegs normalen Gespräch.
"Von meinem Onkel aus", antwortet er knapp.
"Okay und was machst du da die ganze Zeit?" Ich drehe mich auf die Seite und lasse meinen Blick ziellos durch den Raum schweifen.
"Heute war ich mit meinem Cousin Issam ein bisschen hier in der Stadt. Er hat mich rumgeführt, wir waren essen und ich habe mir ein paar neue Sneakers gekauft. Neonorangene Nike Air Max, so eine Special Edition. Die sind richtig geil", plaudert er frei von der Leber hinweg. Er klingt so munter und vergnügt, als würde er in Hamburg aktuell einen Kurzurlaub machen.
Erneut fühle ich mich, als wäre ich im falschen Film. Lebt Shalik in irgendeinem Paralleluniversum, von dessen Existenz ich bisher nichts wusste?
Das Letzte, auf das ich jetzt Bock hätte, wäre shoppen zu gehen und entspannt durch die Stadt zu bummeln, dabei sind das strenggenommen nicht mal meine Probleme, die sich gerade zu einem unbezwingbaren Berg wie der Mount Everest vor mir auftürmen. Wenn ich ehrlich bin, könnte ich einfach gehen. Ich könnte mich trennen, mir in der Zeit, in der Shalik bei seinem Onkel in Hamburg ist, entspannt eine neue Wohnung suchen und das alles hier hinter mir lassen.
Aber ich kann nicht.
Mein Blick schweift zu dem gerahmten Foto von uns, das an der Schlafzimmerwand unter dem Flachbildfernseher hängt. Shalik und ich an der Nordsee, in Scharendijke, bei unserem Wochenendtrip. Das Bild ist an dem Abend entstanden, an dem wir schick essen gegangen sind, kurz bevor Shalik den Anruf von seinem Onkel Najim bekommen hat. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, was dieser Abend für einen Wendepunkt in meinem Leben darstellen sollte. Verliebt lächelt der tätowierte Tunesier mich an, hält mich eng an sich gepresst in den Armen und drückt sein Gesicht an das meine. Auch ich strahle bis über beide Ohren und schmiege mich selig an meinen Freund.
Wir waren so glücklich an dem Abend, so verliebt.
Ich hätte niemals gedacht, dass sich das innerhalb weniger Wochen so extrem ändern sollte. Ich war mir sicher, dass Shalik der Mann ist, den ich mir immer gewünscht habe, der Eine, der, mit dem ich eine Familie gründen und die Zukunft bestreiten will.
Es war, als würde man ein Formel 1-Rennen fahren, der eigene Ferrari fährt mit weitem Abstand zum Hintermann auf der Pole Position. Man riecht den Siegerpokal und die Champagnerdusche im Ziel schon förmlich. Alles, was man noch tun muss, ist den Wagen sicher nachhause fahren. Doch dann, die Ziellinie in Sichtweite, passiert etwas Unerwartetes. Ein kleiner Vogel flattert auf die Fahrbahn und löst eine riesige Katastrophe aus. Man erschreckt sich, reißt das Lenkrad rum, geht voll in die Eisen und der Wagen schlittert mit quietschenden Reifen und 240 km/h in die Leitplanke. In dem Moment, in dem man den hektischen Flügelschlag vor der Windschutzscheibe sieht, spürt man das drohende Unheil schon und kann nur noch hoffen, dass man mit ein paar Kratzern und blauen Flecken aus dem Wagen kommt. Vorbei der Traum vom sicheren Sieg, von einer auf die andere Sekunde.
Doch was macht man dann? Hängt man die Karriere an den Nagel, lässt den Helm im Schrank verstauben und betritt nie wieder eine Rennstrecke wegen eines Unglücks, wegen eines verschenkten Sieges? Nein. Man leckt seine Wunden, richtet sich auf und versucht es erneut. Man gibt nicht auf wegen eines Rückschlags.
Fall down seven times, stand up eight.
Versuch es zumindest.
"Babe, bist du noch da?", reißt mich Shaliks warme Stimme von der imaginären Rennstrecke.
"Ja", antworte ich knapp.
"Okay, ich muss langsam auflegen. Ruh dich weiter aus. Ich melde mich so schnell es geht wieder. Ich liebe dich", verabschiedet er sich.
1:37 Minuten Anrufzeit signalisiert mein Display.
"Ich liebe dich auch, wirklich", antworte ich mit Tränen in den Augen.
Leider, setze ich stumm dahinter, als die Leitung knackt und der Anruf endet.
Es wäre leichter, wenn nicht.
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Meine Lieben,
ich weiß, Amir sorgt bei euch eher nicht für Begeisterungsstürme, aber fandet ihr ihn in diesem Kapitel auch so schlimm? Oder hat vielleicht sogar jemand seine Meinung über ihn ein wenig geändert?
Und ist euch eine Situation wie die von Tiara beschriebene mit dem Formel 1-Rennen auch schon mal passiert?
A.
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