42 // fucking bonnie und clyde

Die "Polizeiinspektion 1 - Mitte" liegt, wie es der Name schon sagt, unweit der Stadtmitte Essens. Es ist ein imposanter beiger Altbau, der sich über vier Etagen erstreckt, mit opulenten, barocken Verzierungen an der Außenfassade. Trotzdem schreit das Gebäude schon von weitem "Deutsche Behörde" und wirkt weder warm noch einladend.

Ich kenne die Polizeiwache, schließlich wohne ich schon mein ganzes Leben lang in Essen, aber betreten habe ich den riesigen Bürokomplex erst einmal und zwar, weil ich als zwölfjährige Modeschmuck bei H&M im Wert von zehn Euro geklaut habe - obwohl ich zwanzig Euro Taschengeld im Portemonnaie hatte. Ich weiß nicht mal, was Rani und mich, die ebenfalls eine Packung Armreifen und ein Paar Ohrringe eingesteckt hat, damals zu dieser dummen Aktion getrieben hat, doch der Schock, erst von einem Ladendetektiv erwischt, dann von der Polizei mit einem Streifenwagen abgeholt und mit zur Wache genommen zu werden, wo unsere Eltern uns dann in Obhut nehmen mussten, hat mich sofort geheilt. Nie wieder in meinem Leben habe ich etwas geklaut, aus Angst, diese Scham erneut durchmachen zu müssen. Es war das erste und einzige Mal, dass ich Hausarrest hatte und einige Wochen lang darüber hinaus meine beste Freundin außer in der Schule privat nicht treffen zu dürfen, war trotz meiner rechtlichen Strafunmündigkeit die schlimmste Strafe für mich.

Ziyad zieht die schwere Eingangstür an dem schmiedeeisernen Griff langsam auf und lässt mir den Vortritt. Ich betrete das Eingangsfoyer und der muffige Duft, der von den alten Mauern ausgeht, hat etwas extrem Beklemmendes an sich.

"Guten Tag", begrüße ich den grauhaarigen Beamten mittleren Alters, der an einer Art Empfangstresen sitzt und unser Erscheinen kritisch beäugt. "Hallo", zieht Ziyad deutlich schnörkelloser nach. Vermutlich hat er noch immer ein schwieriges Verhältnis zu dem staatlichen Gewaltmonpol und seinen Vertretern, Nachwehen seiner Verbrecher-Karriere, auch wenn er mittlerweile vorbildlich und straffrei lebt.

"Tag", erwidert der Polizist in seinem hellblauen Uniformhemd durch seinen dichten Schnäuzer und wirft seinen gelangweilten Blick sofort wieder auf den Monitor vor sich.

"Ich bin auf der Suche nach meinem Freund, Shalik Bouaziz", erkläre ich höflich, während mir mein Herz vor Aufregung und Angst bis zum Hals schlägt.

"Okay und wie kann ich Ihnen da helfen?", fragt er lustlos ohne von dem Bildschirm aufzusehen. "Vermutlich ist er ja volljährig. Geistig und körperlich gesunde Erwachsene ab 18 Jahren können ihren Aufenthaltsort frei bestimmen. Besteht denn eine begründete Gefahr für Leib und Leben?"

"Er wird nicht vermisst", antwortet Ziyad in einem so schneidenden Tonfall, dass sowohl mein als auch der Blick des Beamten überrascht zu ihm schnellen. Stille Wasser sind tief und Ziyad würde man ein solches Verhalten auf den ersten Blick nicht zumuten. Es fehlte nur noch ein "Du Hurensohn" am Ende, doch das hat man gehört, auch wenn Ziyad es nicht ausgesprochen hat. Seine dunklen Augen leuchten bedrohlich auf und er dreht den Zipper seines Reißverschlusses fest durch seine Finger.

"Sondern?", fragt der Mann hinter der Plexiglasscheibe und zieht eine Augenbraue hoch. Scheint, als hätte Ziyad sein Interesse geweckt.

"Er hatte heute Morgen eine Wohnungsdurchsuchung und wurde mitgenommen. Wir wollen wissen, ob er in U-Haft sitzt."

Unser Gegenüber nickt uns verstehend zu und in mir keimt ein Funken Hoffnung auf. Zwei Streifenbeamte in voller Montur kommen durch eine der schweren Brandschutztüren und laufen an uns vorbei aus dem Haupteingang heraus.

"Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen."

Enttäuscht sehe ich erst ihn und dann Ziyad an.

"Und wieso nicht?", hakt dieser nach. Er ist definitiv kein Mann, der sich leicht abspeisen lässt; er diskutiert fast noch lieber als ich.

"Aufgrund von Datenschutzbestimmungen. Ich weiß doch gar nicht wer sie sind, da kann ich Ihnen ja keine Auskunft über solche sensiblen Daten geben, vielleicht will Ihr Freund das ja gar nicht."

"Das hier", beginnt Ziyad und deutet mit einer ausladenden Geste auf mich. "Ist seine Freundin. Die beiden wohnen nachweislich zusammen, sie war bei der Wohnungsdurchsuchung anwesend, das können Sie ja in Ihrem System nachprüfen."

"Guter Mann", antwortet der Beamte und legt seinen Kugelschreiber etwas zu hart auf der grauen Schreibtischplatte ab, während er Ziyad ein süffisantes Grinsen zuwirft. "Das mag ja alles sein. Nichtsdestotrotz darf ich Ihnen keine Auskunft geben, ganz einfach. Sollte Ihr Freund in U-Haft kommen, wird er sich ja früher oder später bei Ihnen melden können oder der Pflichtverteidiger, den er gestellt bekommt, kann das übernehmen und Sie informieren. Aber ich kann Ihnen da leider nicht weiterhelfen."

Ziyad atmet tief durch und presst seine Kiefer wütend aufeinander. Seine dunklen Augen verengen sich zu Schlitzen und er ballt seine Hände zu Fäusten. "Jetzt passen Sie mal auf", erklärt er mit lauter Stimme, die vor Wut einen Deut tiefer wirkt als sonst. "Sie kann doch beweisen, dass Sie seine Freundin ist. Auf ihrem Ausweis steht die selbe Meldeadresse wie auf seinem. Jetzt geben Sie seinen scheiß Namen halt einmal in Ihren Computer ein und-"

"Tiara!", unterbricht eine mir vertraute Stimme Ziyads aufgebrachten Monolog und lässt unsere Köpfe synchron herumschnellen.

Es ist Shalik, der mit schnellen Schritten auf uns zu kommt. Er trägt noch immer denselben, schwarzen Jogginganzug wie heute Morgen und wirkt wahnsinnig erschöpft und fahl im Gesicht.

Ich vergesse die Wut, die ich auf ihn habe, während die Erleichterung, ihn auf freiem Fuß zu sehen, meinen Körper durchströmt. Ohne eine weitere Sekunde zu zögern laufe ich ihm mit wenigen Schritten entgegen.

Liebevoll schlingt er seine Arme um mich und zieht mich an sich. Ich lasse es geschehen, nehme den Geruch von Weichspüler und seinem holzigen Parfum wahr und schmiege mich an ihn. Ich spüre, dass Ziyad und er über meinen Kopf hinweg Blicke austauschen, während sie sich ungewöhnlich nüchtern begrüßen.

"Ich gehe davon aus, dass sich Ihr Anliegen erledigt hat, ja?", meldet sich noch einmal der Schreibtischpolizist mit dem breiten Schnäuzer zu Wort und beäugt uns argwöhnisch.

"Ja, danke für Ihre Hilfe", antwortet Ziyad zynisch und mit spürbarem Hass in der Stimme.

"Komm, lass uns ganz schnell hier abhauen", zischt Shalik uns beiden zu und schiebt mich aus dem stickigen Altbau mit den irrsinnig hohen Decken auf die Straße.

Shalik lässt sich neben seinen besten Freund auf den Beifahrersitz fallen, während ich mich mit verschränkten Armen auf die Rückbank setze.

"Bruuuder, ja", stöhnt er. "Die haben mich gefickt. Die haben mich jetzt locker drei Stunden vernommen wegen der Sache mit den Drogen und Mr. Miyagi, haben immer und immer wieder dieselben Fragen gestellt, mich mit Straffreiheit bestochen, wenn ich denen die Hintermänner liefere, mich versucht zu erpressen mit meiner Bewährung und und und", macht er seinem Ärger und seiner Anspannung Luft.

Es ist also die Wahrheit, dass sie wegen der aktuellen Sache bei uns in die Wohnung marschiert sind. Jetzt habe ich die Gewissheit, doch ich weiß nicht, ob ich das als was Gutes oder was Schlechtes bewerten soll.

"Und du saßt da drei Stunden und hast geschwiegen?", schlussfolgert Ziyad mit finsterer Miene und sieht Shalik ernst in die Augen, während er den Motor seiner Limousine startet.

"Natürlich", erwidert dieser wie selbstverständlich und zuckt mit den Schultern. Ich fühle mich wie ein Zuschauer im Kino, der sich einen tragischen Actionfilm anschaut, aber nicht, als ob es hier gerade um meinen Freund und unser Leben geht, nicht zuletzt, weil Shalik mich in das Gespräch überhaupt nicht mit einbezieht.

"Ich habe wieder mit dem Wagner gesprochen, erinnerst du dich noch an den? Dieser Hurensohn", flucht Shalik und zieht die Augenbrauen zusammen.

Ziyad nickt nur stumm und lenkt den Wagen auf die Hauptstraße.

"Der hatte mich ja schon immer auf dem Kieker. Der meinte direkt: "Ich verspreche dir, dass ich dich wieder drankriege und dieses Mal verknacken sie dich noch länger." Aber ich habe schon mit Omar gesprochen, der meinte die können mir erstmal gar nix. Der beantragt jetzt sofort Akteneinsicht, aber die haben auf jeden Fall nix beschlagnahmt in der Wohnung, nur ein ganz altes Handy von mir und ein altes Tom Tom, was ich zuletzt in meinem Corsa benutzt habe." Shalik grinst breit.

Die sorglose, fast schon überhebliche Art, die er gerade an den Tag legt, macht mich fassungslos und wütend. Es scheint, als wäre das für ihn alles ein Spiel, während für mich heute mehr als nur einmal die Welt untergegangen ist.

"Hat Omar gesagt, wie die auf dich gekommen sind?", hakt Ziyad nach und mustert meinen Freund kurz.

Omar ist Ziyads Cousin und der Anwalt, der Shalik schon während seiner letzten Verhandlungen und der Knastzeit juristisch vertreten hat, das hat er mir mal erzählt. Er war es auch, der ihn vorzeitig aus der Haft geholt hat.

"Das brauchte Omar mir nicht sagen, der Bulle hat es mir gesagt. Es gibt einen Kronzeugen, der mich verraten hat. Wenn ich rausbekomme, wer das war, erwürge ich den mit meinen bloßen Händen", knurrt Shalik und starrt nachdenklich aus dem Fenster. Dann dreht er sich zu dem jungen Libanesen, der gerade an einer Ampel anhält. "Ich habe Dion schon geschrieben, aber er hat noch nicht geantwortet. Ich muss ihn unbedingt gleich anrufen, vielleicht weiß er, wer der 31er sein kann."

Ziyad wirft Shalik einen ungläubigen Blick zu, als wolle er prüfen, ob der tätowierte Tunesier sich gerade einen schlechten Scherz mit ihm erlaubt. "Digga, merkst du es echt nicht selber? Ruf Dion an, er wird nicht drangehen."

"Was willst du damit sagen?", fragt Shalik mit zusammengezogenen Augenbrauen.

"Genau das, was du denkst!", antwortet Ziyad laut und schüttelt fassungslos den Kopf.

Hinter uns hupt ein Auto, denn obwohl es längst grün ist, macht Ziyad bisher keine Anstalten loszufahren. Er hebt kurz entschuldigend die Hand und drückt überstürzt aufs Gaspedal, sodass sich sein Wagen ruckartig in Bewegung setzt.

"Nein man, was laberst du? Dion war das nicht, ich kenne ihn seit Ewigkeiten. Der würde mich doch nicht verraten man, wir sind beste Freunde."

Ziyad hält seinen Wagen auf dem Parkstreifen an um sich mit den Gedanken voll und ganz Shalik widmen zu können. "Okay, dann ruf ihn an", fordert er ihn auf und zuckt mit den Schultern.

Shalik zieht sein Handy aus der Tasche seiner grauen Jogginghose und wählt Dions Nummer. Mir ist klar, dass er den Anruf nicht annehmen wird. Ziyad hat Recht, das spüre ich. Ich konnte den dunkelblonden Kosovo-Albaner aus diversen Gründen von Anfang an nicht besonders gut leiden und als ich erfahren habe, dass er lustig weiterdealt, obwohl Ziyad und Shalik sozusagen für ihn in den Knast gegangen sind, war er bei mir unten durch.

Es dauert keine drei Sekunden, dann geht Dions Mailbox dran. Shalik versucht es nochmal, doch wieder antwortet sofort die automatische Bandansage. Entweder Dion hat sein Handy ausgeschaltet oder er hat Shaliks Nummer schlichtweg blockiert.

"Shalik, Bruder, ich habe dir gesagt, mach das nicht. Du warst loyal und bist für ihn reingegangen, aber er würde niemals dasselbe für dich tun. Er würde dich immer verkaufen für seinen Arsch, für seine Kohle, für seine Freiheit. Der ist schon lange nicht mehr der Freund, für den du ihn hältst", redet Ziyad nun deutlich einfühlsamer auf ihn ein.

"Nein man, das stimmt nicht. Es gibt ganz bestimmt irgendeinen plausiblen Grund dafür, dass sein Handy aus ist. Bestimmt waren die Bullen auch bei ihm oder so." Shaliks Stimme ist aufgewühlt und ich kann nicht einschätzen, ob er Ziyad oder eher sich selbst versucht mit seinen Worten zu überzeugen.

"Wie auch immer", beschließt Ziyad und rauft sich durch seinen Undercut. "Was willst du jetzt machen?" Er setzt seinen Mercedes wieder in Bewegung und fährt die Hauptstraße zu unserer Wohnung entlang.

"Ich muss hier weg", antwortet Shalik.

Meine Ohren beginnen zu rauschen und ich kann nicht glauben, was ich da gerade gehört habe. Das kann er doch wohl unmöglich ernst meinen.

"Ich gehe auf die Flucht bis die Sache geklärt ist. Ich geh nicht mehr rein, das geht nicht, wallah. Ich haue zu meinem Onkel nach Hamburg ab und warte ab, was sich bei den Ermittlungen ergibt. Ich habe zu viel Schiss, dass die mir sonst einen U-Haftbefehl schicken oder so."

Hamburg.

Tränen steigen in meine Augen.

Ich sehe, dass Ziyad mir einen kurzen, besorgten Blick durch den Rückspiegel zuwirft. Im Gegensatz zu Shalik scheint er zu begreifen, was das auch für Konsequenzen für mich und unsere Beziehung mit sich zieht.

Shalik hingegen ist in seinem eigenen Film. Er spinnt schon weiter Gedankenkonstrukte darüber, wie er jetzt am besten und schnellsten nach Hamburg kommt, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

Er ist so tief drin in seinem scheiß Gangsterfilm, dass er nicht mal bemerkt, wie es mir dabei geht, nach all den Strapazen und Turbulenzen des heutigen Tages.

Er merkt nicht, was er mir gerade antut, was er mir schon seit Wochen antut, seit er für sich selbst beschlossen hat, diesen scheiß Drogendeal durchzuziehen und mich vor die Wahl gestellt hat, das zu akzeptieren oder mich zu trennen.

Wir sind nicht fucking Bonnie und Clyde, die zusammen losziehen und eine Bank überfallen. Ich wollte so ein Leben nie führen und das wusste Shalik seit Tag 1. Genau wie er habe auch ich von Anfang an mit offenen Karten gespielt und ihm gesagt, dass ich das nicht kann.

Ich habe ihm geglaubt, dass er zukünftig ein straffreies Leben führen will, ich habe ihm vertraut, doch gerade frage ich mich zum ersten Mal, ob das ein ganz großer Fehler war.

"Tiara?", dringt Shaliks Stimme durch mein Gedankenkarussell in mein Bewusstsein.

Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht bemerkt habe, dass Ziyad bereits vor dem Mehrfamilienhaus, in dem wir wohnen, angehalten hat.

Ich sehe auf und merke erst jetzt, dass ich Tränen in den Augen habe.

"Lass uns reingehen."

_____________________________

Meine Lieben,

ich weiß langsam nicht mehr, was ich sagen soll. Irgendwie wird das alles gerade immer schlimmer mit den beiden.

Fangen wir mit was Positivem an: Was sagt ihr denn zu Ziyad in diesem und dem letzten Kapitel?

Und wie schätzt ihr Shaliks ganzes Verhalten ein?

Wird er jetzt wirklich auf die Flucht gehen?

A.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top