4 // ich kann das auch blind

Als ich am nächsten Morgen mit dröhnenden Kopfschmerzen die Augen aufschlage, brauche ich einen Moment, um mich zu orientieren.

Ich liege fast nackt im Bett, ohne Unterwäsche, nur mit einem Shirt bekleidet und vor allem nicht allein. Zwei warme Männerarme sind von hinten um meinen Bauch geschlungen.

Im ersten Moment werde ich panisch. Was habe ich wieder angestellt? Wo bin ich und vor allem mit wem?

Das Bett, in dem ich liege, ist definitiv nicht meins. Mit welchem Typen bin ich gestern Abend nachhause gegangen?

Vorsichtig luge ich über meine Schulter. Als ich erkenne, dass hinter mir Amir liegt und noch selig schläft, fällt mir ein Stein vom Herzen und schemenhaft dringen Bruchstücke der letzten Nacht in meinen Kopf.

Kein potenzieller Psychopath, den ich im Vollrausch aufgerissen habe. Nur Amir, zu dem ich nach meinem feuchtfröhlichen Discobesuch noch gefahren bin.

Zaghaft probiere ich, mich aus seinem Griff zu befreien, doch der gutaussehende Iraner mit den markanten Gesichtszügen verstärkt seinen Griff und zieht mich blitzschnell noch enger an sich.

"Wo willst du hin?", raunt er verschlafen in mein Ohr.

"Nachhause", antworte ich leise.

"Bleib mal liegen, ich fahr dich gleich", gibt er zurück und drückt sein Gesicht in meine offenen Haare.

Kraftlos lasse ich mich wieder zurück in die Kissen sinken und schmiege mich ein wenig an ihn.

Amir beginnt meine Wange zu küssen und mit seiner rechten Hand das Shirt hochzuschieben, das an mir eher wie ein Kleid sitzt.

"Was wird das?", frage ich ihn unverblümt, obwohl ich die Antwort bereits kenne.

"Runde zwei", antwortet er wie selbstverständlich.

"Du hast nicht mal die Augen auf", protestiere ich und muss lachen. Auf Amirs Gesicht schleicht sich ein freches Grinsen. "Nicht schlimm, ich kann das auch blind."

...

Am späten Vormittag schmeiße ich die Tür meines Elternhauses krachend ins Schloss. Nach einer verhältnismäßig kurzen Runde Guten-Morgen-Sex bin ich bei Amir duschen gegangen, bevor er mich zu meinem Auto gefahren hat, welches noch bei Helin stand.

Gähnend laufe ich die gerade Treppe nach oben zu meinem Zimmer. Ich muss dringend aus dem engen schwarzen Kleid raus und mir frische Klamotten anziehen.

Heute Mittag bin ich mit Rani verabredet, wir wollten gemeinsam ins Centro, ein nahegelegenes riesiges Einkaufszentrum, fahren, um ihr Geburtstagsgeld auf den Kopf zu hauen. Sie hat sich in ein bestimmtes Paar Nike Airforce verliebt und will sich diesen Herzenswunsch endlich erfüllen.

Die ungeplante Übernachtung bei Amir und unser morgendliches Schäferstündchen hat meinen ursprünglichen Zeitplan allerdings gehörig durcheinandergeworfen.

Ich schmeiße mein Cocktailkleid in den geräumigen Wäschekorb aus Rattan neben meiner Zimmertür, gehe duschen und schlüpfen danach in einen kuscheligen grauen Jogginganzug.

"Rani", rufe ich in mein Handy, als sie meinen Anruf nach dem dritten Klingeln annimmt. Mein Akku war leer, deshalb konnte ich mich noch nicht eher bei meiner besten Freundin melden.

"Alter, ich dachte schon du meldest dich gar nicht mehr", schimpft sie direkt drauf los.

"Sorry, ich bin gerade erst die Tür rein", antworte ich mit schlechtem Gewissen und lasse mich auf mein Bett fallen.

"Hä? Wo warst du denn? Warst du die ganze Zeit noch bei Amir, oder was?"

"Ja, ich habe bei ihm übernachtet", antworte ich.

"Ich verstehe das echt nicht, was da zwischen euch läuft", stichelt meine beste Freundin und ich habe genau vor Augen, wie sie ihre kleine Nase krauszieht.

"Du weißt sehr genau, was da läuft. Wir verstehen uns gut, und wenn wir es brauchen, vögeln wir miteinander. Simple as that", gebe ich leicht angefressen zurück.

Ich habe meinen Freundinnen schon mehrfach erklärt, dass zwischen Amir und mir nicht mehr ist und auch nie sein wird, doch sie werden nicht müde, das immer wieder zu behaupten.

"Also wenn ich einen Typen nur bumse, dann bleibe ich nicht bis zum nächsten Tag um 14 Uhr", entgegnet sie spitz.

"Ich war halt auch erst um 5 Uhr bei ihm, ne. Dann haben wir gevögelt, lange gepennt und heute Morgen nochmal eine zweite Runde nachgelegt, wenn du es so genau wissen willst", erkläre ich grinsend.

"Danke Tiara, jetzt kann ich endlich wieder beruhigt schlafen", antwortet sie lachend.

"Sehr gut. Dann können wir kurz über heute reden, ja? Ich würde vorschlagen, dass wir.." Mitten im Satz werde ich von einem lauten Klopfen an meiner Tür unterbrochen.

"Warte kurz", sage ich zu Rani. "Ja?", rufe ich dann etwas lauter. Die Tür geht auf und meine Mutter steht im Türrahmen. Sie sieht blass aus und unter ihren blauen Augen liegen tiefe Schatten.

"Tiara, wir müssen mal mit euch reden. Kannst du bitte ins Wohnzimmer kommen?"

Mein Magen zieht sich zusammen. Das klingt nicht gut. "Ist was passiert?", frage ich alarmiert.

"Komm einfach runter, okay?", bittet sie mich und schiebt sich eine ihrer braunen Haarsträhnen hinters Ohr.

"Rani, ich melde mich gleich nochmal", verabschiede ich mich kurz und knapp von meiner Freundin.

Ich will gerade mein Handy in die Hosentasche stecken, als eine ungelesene Nachricht auf meinem Display aufploppt. "Du hast dich gar nicht mehr bei mir gemeldet, ob du gut nachhause gekommen bist. Ist alles okay?", hat Shalik mir bereits um 11 Uhr geschrieben.

"Sorry, ich habe lange geschlafen", antworte ich. Es ist zwar nur die halbe Wahrheit, aber immerhin keine Lüge. "Ja, ich bin gut nachhause gekommen und du? Warst du noch lange weg?", tippe ich schnell in mein Handy und stecke es dann weg.

Im Wohnzimmer sitzen meine Eltern und auch mein Bruder Lias bereits verteilt auf der grauen Couchgarnitur.

Ich werfe Lias einen fragenden Blick zu, doch der zuckt nur unwissend mit den Schultern.

Angespannt lasse ich mich auf den farblich passenden Sessel aus Leder fallen und frage: "Was ist los? Ist jemand gestorben?"

Meine Mutter sieht meinen Vater auffordernd an. Er räuspert sich kurz und sucht dann beschämt meinen Blick.

"Tiara, Lias, ich muss euch was sagen", beginnt er kleinlaut. Mein Vater ist ein großer kräftiger Mann mit einem glatt rasierten Gesicht und blauen Augen. Er ist stets selbstsicher und auch ziemlich autoritär, was vermutlich auch seiner Stelle als Geschäftstellenleiter einer renommierten Versicherung geschuldet ist. Ihn jetzt zu sehen, wie er da sitzt mit hängenden Schultern und nach Worten ringt, verunsichert mich noch mehr.

"Mama und ich trennen uns."

Ich starre ihn ungläubig an und fange leise an zu lachen. Das muss ein schlechter Scherz sein.

"Nein, Karsten, du trennst dich von mir", stellt meine Mutter bissig klar.

Mein Vater wirft ihr einen undefinierbaren Blick zu.

"Wieso?", frage ich fassungslos.

"Ja, wieso, Karsten?", stichelt meine Mutter weiter. Irgendwas ist hier im Busch, das ist nicht zu übersehen, aber ich bin überzeugt davon, dass Lias und ich ein Recht darauf haben, die ganze Wahrheit zu erfahren.

"Manchmal ist das eben so, dass sich die Wünsche und Ziele auseinanderentwickeln, wenn man schon so lange zusammen ist wie wir beide, und dann passt das alles irgendwie nicht mehr", druckst mein Vater herum, doch es wirkt, als würde er nur um den heißen Brei herumreden.

"Euer Vater hat eine Neue", lässt meine Mutter die Bombe platzen.

Ich kann kaum glauben, was sie da gerade gesagt hat. Auch Lias, der ein stiller Vertreter ist und dem so ziemlich alles egal ist, wirkt schockiert.

"Stimmt das, Papa?", frage ich mit brüchiger Stimme und starre ihn aus großen Augen an.

Er reibt sich nervös mit den Händen über die Jeans. "Ja, Tiara", gibt er zu und weicht meinem Blick aus.

Mein Hals schnürt sich zu und Tränen steigen mir in die Augen. "Wieso?", frage ich lautstark. Es ist nur ein einziges Wort, doch in diesem Moment impliziert es so viel mehr.

Wieso hast du das getan?

Wieso hast du das Mama angetan?

Wieso hast du das Lias und mir angetan?

Wieso hast du unsere Familie kaputt gemacht?

"Tiara, Schatz", stammelt er und ruft sich durch sein aschbraunes Haar, welches schon von einigen hellgrauen Haaren durchzogen wird. "Ich kann es dir nicht sagen, es hat sich einfach so ergeben. Zwischen eurer Mutter und mir lief es schon länger nicht mehr so gut und-,"

"Also ich war im Glauben, zwischen uns sei alles in bester Ordnung", fällt meine Mutter ihm patzig ins Wort. Sie wirkt aggressiv, doch in ihren glänzenden Augen spiegelt sich pure Enttäuschung. Erst jetzt fällt mir auch auf, wie fertig sie aussieht. Ihre blauen Augen sind vom Weinen gerötet, ihr brünettes Haar hat sie mit einer Spange unordentlich zusammengesteckt. Ihr schlanker Körper ist in eine viel zu große graue Strickjacke gehüllt, die sie nun enger um ihren Körper schlingt.

"Hast du Mama betrogen? War das nur eine einmalige Sache oder.. Bist du jetzt ernsthaft mit einer anderen Frau zusammen?", stottere ich fassungslos vor mich hin.

Es fühlt sich an, als läge meine ganze Welt in Scherben. Mein friedliches Zuhause, meine heile Familie, mein sicherer Hafen ist gerade in tausend Einzelteile zersprungen.

Ich sollte wütend sein auf meinen Vater, aber ich bin viel eher traurig und vor allem bin ich maßlos enttäuscht.

"Tiara, beruhig dich doch erstmal", schlägt mein Vater vor, doch Tiara will sich nicht beruhigen.

Abrupt stehe ich von dem Sessel auf und werfe ihm einen giftigen Blick zu. "Lass mich einfach in Ruhe", keife ich und stürme die Treppen hoch.

Ich schmeiße die weiße Zimmertür hinter mir ins Schloss und lasse mich aufgebracht auf den Boden gleiten. Einige vereinzelte Tränen laufen über meine Wangen.

Es dauert einige Minuten, bis ich mich einigermaßen beruhigt habe. "Sorry Rani, aber das mit heute wird nix. Meine Eltern haben uns gerade verkündet, dass sie sich trennen. Mein Vater hat eine Andere", tippe ich in mein Handy und glaube die Worte selbst noch nicht so ganz.

"Geht, so bis vier Uhr. Was machst du heute noch? Weiter ausnüchtern? 😛", hat Shalik mir vorhin geantwortet.

Ich schiebe mir eine Haarsträhne hinters Ohr und ziehe meine Knie an die Brust.

Ich weiß nicht, was mich dazu antreibt, doch ohne darüber nachzudenken antworte ich ihm: "Ganz ehrlich? Meine Welt ist gerade zusammengebrochen. Es ist etwas Schlimmes in meiner Familie passiert und ich bin am Boden zerstört. Eigentlich war ich mit meiner Freundin zum Shoppen verabredet, aber ich werde vermutlich nur noch im Bett liegen und heulen."

In dem Moment, in dem ich die Nachricht abschicke, bereue ich sie auch schon wieder. Wieso zur Hölle schreibe ich einem wildfremden Typen so eine Nachricht? Ich glaube ich hätte kaum etwas schreiben können was ihn mehr abgeturnt hätte als dieser Seelenstriptease.

Aber ich habe keine Lust auf Schauspielerei und wieso soll ich mich für irgendeinen daher gelaufenen Typen von Tinder verstellen? Klar, Shalik ist heiß und er scheint auch ganz nett zu sein, aber wie groß ist schon die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet er mein Mann fürs Leben ist?

Als wenig später mein Handy vibriert, will ich die Antwort im ersten Moment gar nicht lesen. Vermutlich hält er mich jetzt eh für vollkommen bescheuert.

Doch Shalik überrascht mich.

"Das tut mir wirklich leid für dich. Ich bin vermutlich nicht der Mensch, mit dem du jetzt über deine Probleme reden willst, schließlich kennen wir uns noch gar nicht, aber falls du ein bisschen Ablenkung brauchst, sag Bescheid. Du kannst vorbeikommen oder wir gehen spazieren und ich versuche, dich ein bisschen aufzumuntern."

Gerührt lese ich seine Nachricht wieder und wieder. Ich habe mit vielem gerechnet - aber nicht mit so lieben Worten. Ich habe sogar Exfreunde, die es deutlich weniger gejuckt hat, wenn es mir schlecht ging, als diesem faktisch fremden Mann.

"Danke Shalik, ich weiß das wirklich zu schätzen", antworte ich ehrlich, doch ohne einen ernsthaften Gedanken daran sein Angebot anzunehmen.

Ich bin verheult, durcheinander und noch immer verkatert. Und so wie eine Disco der falsche Ort für ein erstes Date war, so ist das einfach der falsche Zeitpunkt.

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Meine Lieben,

Könnt ihr verstehen, dass Rani daran zweifelt, dass nicht mehr zwischen Amir und Tiara ist, oder seid ihr da Tiaras Meinung?

Was sagt ihr zu Tiaras Vater und der gesamten Trennung ihrer Eltern?

Und vor allem: Was sagt ihr zu Shaliks Antwort? Besser kann man doch gar nicht reagieren, oder? 😪

A.

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